Diese Arbeit beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung und Manifestierung des literarischen Kanons in der Literaturwissenschaft und der aktuell öffentlich geführten Feuilletondebatte, ob ein wissenschaftlicher literarischer Kanon sinnvoll ist oder nicht.
Zunehmend wird in der Gesellschaft des sogenannten Landes der Dichter und Denker darüber diskutiert, welche Werke und Autoren gelesen werden müssen, um am literarischen gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Abhilfe bei der Beantwortung dieser Grundsatzfrage solle der Kanon der Literatur leisten.
Mittlerweile ist es ob der vielen verschiedenen Kanones einzelner gesellschaftlicher Kollektive nicht mehr rechtmäßig, von ihm im Singular zu sprechen. Es kann nicht von einem literarischen Kanon gesprochen werden, da jede Gruppierung ihren eigenen unterhält.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Literarische Kanones
2.1. Begriffsbestimmung
2.2. Prozess der Kanonisierung
2.3. Funktionen literarischer Kanones
3. Historische Entwicklung deutschsprachiger Kanones
4. Aktuelle Kanondebatte in Deutschland
4.1. Pro
4.2. Contra
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Zunehmend wird in der Gesellschaft des sogenannten Landes der Dichter und Denker darüber diskutiert, welche Werke und Autoren gelesen werden müssten, damit über „symbolisches und kulturelles Kapital“ (Pierre Bourdieu) verfügt werden könne, um am literarischen gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Abhilfe bei der Beantwortung dieser Grundsatzfrage solle der Kanon der Literatur leisten. Einer der bedeutenden literarischen Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, bezeichnete einst den Kanon als „eine Liste empfehlenswerter, wichtiger [und] exemplarischer […] Werke“ und es sei ihm unverständlich auf einen solchen zu verzichten, da dies einen „Rückfall in die Barbarei“ ohne jegliche Bestimmungen bedeute.1 Mittlerweile ist es, ob der vielen verschiedenen Kanones einzelner gesellschaftlicher Kollektive, nicht mehr rechtmäßig von ihm im Singular zu sprechen. Es kann nicht von einem literarischen Kanon gesprochen werden, da jede Gruppierung ihren eigenen unterhält. Unter den Fragestellungen, wie erstens sich literarische Kanones historisch entwickelt und in der Literaturwissenschaft manifestiert haben und zweitens, welche aktuellen Problematiken literarisch wissenschaftliche Kanonbildung unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Feuilletondebatte birgt, werde ich mich im Zuge dieser Arbeit sowohl mit der theoretischen Aufarbeitung der Begrifflichkeit, dem Prozess der Kanonisierung und dessen Funktionen, sowie der historischen Entwicklung, als auch mit der aktuell öffentlich geführten Feuilletondebatte, ob ein wissenschaftlicher literarischer Kanon sinnvoll sei, beschäftigen. Am Ende soll dann auf Basis der nachgezeichneten Debatte ein rationales Fazit gezogen werden. Literaturdidaktisch gesehen weist die anhaltende Kontroverse, aufgrund des hohen kultur- und bildungspolitischen Stellenwertes, gerade innerhalb einer durch ethnische Pluralität geprägten Gesellschaft, und der damit verbundenen selektiven Textauswahl für den Deutschunterricht, eine hohe Relevanz auf.
2. Literarische Kanones
2.1. Begriffsbestimmung
Für den folgenden Verlauf der Hausarbeit ist es zu Beginn erforderlich den zentralen Begriff des Kanons und den Prozess der Kanonisierung zu erläutern. Etymologisch betrachtet leitet sich der deutsche Begriff Kanon in seiner heutigen geläufigen Bedeutung als Sammlung literarisch überlieferungswürdiger Werke von dem griechischen Wort kanon, welches als „maßgebende Richtschnur oder eine verbindliche Regel“2 übersetzt werden kann, ab. Der Definition der Göttinger Professorin Simone Winko zu Folge bezeichne ein literarischer Kanon im Allgemeinen einen „Korpus von Texten […], an dessen Überlieferung eine Gesellschaft oder Kultur interessiert“3 sei. In dieser Begriffsbestimmung werden mehrere Eigenschaften eines literarischen Kanons impliziert. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die zentrale Notwendigkeit „jeglicher Kanonbildung literarisches Wissen als Teil des kulturellen Wissens einer Gesellschaft“4 ist. Ohne diverse Kenntnisse über Literatur auf inhaltlicher, struktureller oder interpretativen Ebene, kann demnach keine Auswahl literarisch wertvoller Texte zur Tradierung stattfinden. Weiterhin ist der Kanon etwas von Menschenhand Geschaffenes, das heißt, die Bildung beruht immer auf einer subjektiv-normativen Selektion einer bestimmten ethnischen, ideologisierten Gruppierung und ist somit das Produkt der herrschenden Zeit. Damit fungiert der Kanon auch immer als ein „Instrument der Zensur.“5 Werke und Autoren, die nicht den subjektiven Anforderungen eben jener Gesellschaft genügen, werden nicht kanonisiert, weshalb es dazu kommen kann, dass gesellschaftliche Minderheiten dahingehend diskriminiert werden beziehungsweise sie sich dazu entschließen einen eigenständigen, ihren Bedürfnissen gerecht werdenden Kanon zu entwickeln. Bei den in den Kanones repräsentierten Werken handelt es sich zusammenfassend um jene Texte, die dem subjektiv-normativen Empfinden einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe nach „als besonders wertvoll, wichtig oder einflussreich gelten und an deren Tradierung […] gelegen ist.“6 Ein literarischer Kanon ist zudem das „Resultat von Deutungs- und Selektionsprozessen […], in denen literaturinterne und soziale Komponenten auf komplexe Weise zusammenspielen.“7 Selektiv werden anschließend jene Werke und Autoren kanonisiert, die den ausgewählten Funktionen (s.u.) entsprechen. Zu differenzieren gilt es hierbei zwischen sogenannten offenen und geschlossenen Kanones. Per definitionem gilt jener Textkorpus als geschlossen, sollte dieser aus einer vorher definierten Anzahl von Texten bestehen, wobei weder zusätzliche Schriften ergänzt noch reduziert werden dürfen. Offen ist er, wenn sowohl neue Werke hinzukommen können, als auch die getroffene Auswahl in sich revidierbar ist.8 Insgesamt hängt die Entwicklung literarischer Textkorpusse von mehreren unterschiedlichen inner- und außerliterarischer Faktoren ab, die sich auf komplexe Art und Weise gegenseitig bedingen. Verantwortlich für die Gründung neuer und Erhaltung bestehender Kanones sind sogenannte Kanoninstanzen, also jene „Institution[en], die am Prozess der Auswahl und Tradierung kanonischer Gegenstände beteiligt […] [sind] und […] auf literarische Kanonbildung Einfluss […] [nehmen]“9, wie beispielsweise Lehrinstitutionen und Medien.
2.2. Prozess der Kanonisierung
Die Bildung eines Kanons ist immer ein „gesellschaftlich-kultureller Prozess, in dessen Verlauf ein Kollektiv […] ein Textkorpus als hochbedeutenden, wertvollen Traditionsbestand auswählt und kulturelle Praktiken herausbildet, um die Überlieferung für nachkommende Generationen zu sichern.“10 Es geht bei der Entwicklung demnach primär um die Überlieferung der kulturellen Vergangenheit einer Gesellschaft, die neben den historisch-geschichtlichen Aspekten auch zeitgenössische Werte und Normen inkludiert. Dies geschieht unter den Bedingungen der herrschenden Zeit anhand der Textauswahl der Gesellschaft. Jene Erforschung gilt als Prämisse zum besseren verstehen der aktuellen Zeit, die lediglich das Produkt der Vergangenheit ist.
Im Folgenden soll der Frage, welche Faktoren bei der Kanonbildung evident sind, nachgegangen werden. Für die Erläuterung der Entwicklung eines literarischen Kanons ist das von Simone Winko begründete Phänomen der invisible hand (dt. unsichtbare Hand), wie es erstmalig vom Ökonomen Adam Smith im Zuge des Preisfindungsprozesses auf dem freien Markt verwendet wurde, verantwortlich. Jenes beruht auf der Grundthese, niemand habe einen Literaturkanon „absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ›intentional‹ an ihm mitgewirkt.“11 Demnach gebe es in der prozessartigen Entstehung keinen alleinigen verantwortlichen Begründer eines Kanons, sondern viele Menschen und Institutionen seien an der Bildung eines solchen Konstrukts beteiligt. Zu differenzieren gelte es hierbei zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen, der einerseits die „zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene)“ und den Prozess der Entstehung als Resultat jener Aktionen (Makroebene).12 Auf ersterer gehe es dabei um wertende, kanonrelevante Handlungen, also „Akte der Wahl oder des Urteilens“13, ohne dabei ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Aufgrund normativer Gründe würden subjektive Entscheidungen getroffen, die eine Wertung beinhalten. Ein Subjekt ordne einem Objekt also die Eigenschaft zu, „in Bezug auf einen Wertmaßstab positiv oder negativ zu sein“14, sodass ein Umgang mit der Literatur beeinflusst werde. Auf der Makroebene gehe es nun um die Rolle, die die Handelnden im literarischen Kontext einnehmen. Ob sie beispielsweise Redakteure, Buchhändler, Lehrer, Dozenten oder Studenten seien. Dementsprechend würden keine rein privaten Taten vollzogen, sondern nur jene, die „über bestimmte Kanäle an das System rückgebunden“15 seien, wie zum Beispiel über den finanziellen Kanal oder die öffentliche Kommunikation. Wichtig dabei sei die Tatsache, dass jegliches Handeln der betreffenden Personen von ihrer eingenommenen Position mitbestimmt werde und danach spezielle Ziele verfolgt und literarische Kriterien gestellt würden.16 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei den Faktoren im Prozess der Kanonbildung, die darüber entscheiden, welche Texte und Autoren in einem literarischen Kanon vertreten sind, besonders normative, kanonrelevante Handlungen von Individuen, auch wenn sie nicht bewusst darauf abzielen einen Kanon zu entwickeln oder zu erhalten, und deren eingenommene Rolle entscheidend seien. Hinzu kommen die beiden Prämissen, für die Kanonbildung sei es erstens notwendig aus einer „unüberschaubaren Menge von Texten auszuwählen und zweitens diese „Auswahl begründet vorzunehmen“17, sodass letzten Endes das Zusammenwirken der Mikro- und Makroebene in Kombination mit den beiden Prämissen zu einer „unvermeidbaren Reduktion der faktischen Textmenge [und] zur Konzentration auf wenige Autoren oder Texte“18 führe. Insgesamt kommen in dieser Darstellung innerliterarische Qualitäten, wie der Ästhetik oder Semantik, bei der Hierarchisierung von Literatur nur eine untergeordnete Funktion zu. Wichtiger sind gesellschaftlichen Eigenschaften, wie das Handeln bestimmter Personen, sowie weiterhin folgende drei Aspekte im Verlauf der Kanonbildung nach Aussage des Siegener Professors für Literaturdidaktik, Hermann Korte. Erstens verfügten Kanoninstanzen über viel „Macht und Herrschaft“19 im Zuge ihrer Funktion zur Sicherung gesellschaftlich verbindlicher Weltbilder. Zweitens gehe es bei der Tradierung literarischer Werke nicht um diese selbst oder deren inhaltliche Ästhetik, sondern um die Weitergabe einer Lehrdoktrin, die „Weltbilder, Lebens- und Herrschaftsformen“20 miteinschließe. Schließlich seien drittens sowohl die Sicherung des Kanons, als auch die damit einhergehende Macht aufgrund von historisch manifestierten gesellschaftlichen Konventionen und aufgebauten Gewohnheiten an „Formen des symbolischen Handelns geknüpft.“21 Abschließend müsse zudem festgehalten werden, dass die Entwicklung verschiedener Kanones als Repräsentanten verschiedener Gesellschaften und als Produkt des herrschenden Zeitgeistes zu keinem Moment abgeschlossen sein könne. Schließlich handele es sich bei der Kanonbildung um keinen abschließbaren Vorgang, da es immer einer ständigen symbolischen Vergegenwärtigung der vorhandenen Literatur bedürfe.22
2.3. Funktionen literarischer Kanones
Die zentralen Funktionen literarischer Kanones lassen sich nach Simone Winko im Wesentlichen auf drei Pfeiler reduzieren. Erstens trägt ein Literaturkanon zur „Selbstdarstellung und Identitätsstiftung einer Gruppe oder Gesellschaft bei.“23 Die Mitglieder einer bestimmten sozialen oder ethnischen Vereinigung, die sich mit den ausgewählten Texten identifizieren, haben durch die Konstitution der Lektüresammlung, in der jene speziellen Werte vertreten werden, die die Anhänger repräsentieren, ein verbindendes Element und ihre Gemeinschaft wird gestärkt. Zusätzlich dazu ist der Kanon „Bestandteil der erinnerten Kultur einer Gesellschaft.“24 Dahingehend fungieren die erworbenen Kenntnisse über eben jene kanonisierten Werke und Autoren einerseits als eine Art „kulturellen Kapitals als Eintrittskarte zu literarischer Kommunikation.“25 An dieser Argumentation ist anderseits zu kritisieren, dass aus soziologischer Sichtweise angenommen wird, die einzige Möglichkeit zur Beteiligung am literarischen Diskurs gelinge über den Erwerb von Kenntnissen des literarischen Kanons. Formen der Teilnahme zum Beispiel aufgrund des Rezipierens nicht kanonisierter Literatur werden außeracht gelassen. Zweitens besitzen Kanones eine Legitimationsfunktion, die dazu dient sowohl die vertretenden Normen und Werte zu rechtfertigen, als auch sich gegenüber anderen Gruppierungen abzugrenzen. Drittens schließlich wird aus psychologischer Sicht eine Art Handlungsorientierung geliefert. Das heißt, dass eben jene Texte kanonisiert werden, die „prägnante Formen von Wissen, ästhetische Normen, Moralvorstellungen und Verhaltensregeln kodieren, nach denen sich [die] Mitglieder […] richten können.“26 Die Handlungen des jeweiligen Gesellschaftsmitglieds werden durch die im Kanon vertretenden Normen, Vorstellungen und Regeln vordeterminiert und damit zum geltenden Handlungscode. Jegliche Funktionen der Kanones sind die Resultate der jeweiligen Deutungskanones, welche auf einer kognitiven Ebene Formen der Interpretationen und Bedeutungskontexte der Werke beinhaltet, die jedoch häufig nicht auf einer „differenzierten Interpretationskultur, sondern [auf] Festschreibung[en] populärer […] Rezeptionsweisen“27 beruhen, da die „Kenntnis kanonischer Werke […] nur dann als symbolisches Kapital fungieren [kann], wenn diesen interpretativ ein bestimmter ästhetischer Wert unterstellt wird.“28 Demzufolge besitzt ein literarisches Werk, solange es nicht subjektiv und bestimmt durch Zeit und Sozialisation des Interpreten gedeutet wird, keinen „ästhetischen Wert.“ Zudem bedeutet dies, dass eben nicht die reine Inhaltswiedergabe entscheidend für die Gewinnung sozialer Anerkennung ist, sondern insbesondere die interpretativen Fähigkeiten der Rezipienten. Aus dem interpretierten Gehalt der Lektüre ergeben sich ebenso deren Funktionen. Weist ein Text beispielsweise die Funktion einer moralischen Instanz auf, so ist diese lediglich das Produkt verschiedener, häufiger genannten Interpretationen.29 Abschließend kann zusammengefasst werden, ein literarischer Kanon trägt dazu bei, das historische Wissen der eigenen kulturellen Geschichte und damit auch das Verständnis der heutigen Zeit, die lediglich das Resultat jener Historie ist, zu verbessern. Nur aufgrund des Erforschens der Gegenwart, kann diese nicht ausreichend verstanden werden. Die historische Kanonbildung hat daher auch die Funktion die Gegenwart als Produkt der Vergangenheit zu erforschen.
3. Historische Entwicklung deutschsprachiger Kanones
Die Entstehung erster deutschsprachiger Kanones beginnt um etwa 1800 unter den Bedingungen zunehmender Säkularisierung und der Aufklärung, welche die Hinterfragung der theologischen Weltbilder beinhaltet, sowie der nationalen Identifikation durch die Literatur und der damit verbundenen Entstehung einer Nationalkultur. Kanonliteratur galt in diesem Zusammenhang als Ausdrucksform der Nationalkultur.30 Mit der Etablierung eines Literatursystems zu eben jener Zeit wurden verstärkt fiktive literarische Werke aus unterschiedlichen Gattungen kanonisiert. Vorher war dies ein Privileg religiöser Texte, die zudem „als verbindlicher Maßstab für die Auslegung der Welt und Sinngebung der Existenz“31 galten. Die Kirche diktierte die kanonisierten Werke. Noch im Verlauf des 19. Jahrhunderts, vor dem geschichtlichen Hintergrund einer aufkommenden Leserevolution, Alphabetisierung durch die Entwicklung eines rudimentären Schulsystems und während der Hochphase jeglicher Kanonbildung, entstand ein erster nationaler Klassikerkanon, mit dem gleichzeitig ein „ausdifferenziertes System von Kanonisierungsstilen verbunden war.“32 Inhaltlich gehörten diesem bereits Werke von Goethe und Schiller an. Durch eine zunehmende Offenheit für jegliche Texte und Autoren entstanden viele verschiedene Kanones, die parallel existierten und Ausdrucksformen der einzelnen Gruppierungen war. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der nationale Kanon, der gleichzeitig als Repräsentant der Nation fungierte und als Funktion vor allem die Identitätsstiftung verfolgte, „pluralisiert und sozial-hierarchisch differenziert.“33 Das heißt es fand eine Einordnung und damit eine Bewertung der Literatur zur Erstellung einer Rangliste statt, welche die Interessen der herrschenden Mächte zu Zeiten der sogenannten deutschen Revolution vertraten. Das vor allem in Deutschland entworfene „Konzept der Weltliteratur“34, welches von Goethe geprägt darauf abzielte, ein transnationales Literaturgebilde zu entwerfen, um die weltbesten Lektüren und Autoren zu bündeln, wurde von der „verspäteten Nation“35 Deutschland dazu genutzt, ausländische bedeutende Werke inklusive ihrer vermittelten Werte und Normen übersetzt zu übernehmen und sie in diesem Rahmen auf die eigenen nationalen Interessen zu zuschneiden. Grade zu Zeiten der Moderne, fand anschließend, unter anderem wegen der Entwicklung neuer Stilrichtungen, eine kontinuierliche Vermehrung literarischer Kanones statt. Der Einfluss moderner Wissenschaften und berühmter Theoretiker, wie Sigmund Freud oder Albert Einstein, spiegelte sich im literarischen Geschehen wieder und verursachte eine erneuerte Weltansicht und somit eine Beeinflussung der Autoren, welche sich in den Handlungen widerspiegelte. Ab den 1960er Jahren entstand dann wegen des zunehmenden Bedürfnisses nach Individualität und Abgrenzung vor allem gegenüber der faschistischen Vergangenheit ein „neuer Kanonbedarf zur Identitätssicherung von bisher nicht […] inkludierten Gruppen“36 Dadurch bedingt entwickelte sich aus dem hierarchisierten Verhältnis unter den unterschiedlichen Kanones erneut vermehrt die Debatte danach, welcher die größte Allgemeingültigkeit und Wichtigkeit besitze. In dem Kontext ist es weiterhin wichtig zu erwähnen, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts hin, aufgrund des technologischen Fortschritts, neue nichtliterarische Formen und Medien von Kanones entstanden, wie zum Beispiel der Verfilmung literarischen Materials, die zur Negierung der eigentlichen Lektüre beitrugen.37 Insgesamt kann gesagt werden, dass in der jüngsten Vergangenheit bedingt durch den herrschenden Zeitgeist, der Werte wie Individualität, Freiheiten, globales Denken und Emanzipation beinhaltet, sowohl die Qualität, als auch die Verbindlichkeit an literarische Kanones gesunken sind. Sie sind lediglich zu Lektüreempfehlungen geworden, die keinen indoktrinativen verbindlichen Maßstab mehr besitzen.
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1 Hage, Volker: „Literatur muss Spaß machen“: Interview mit Marcel Reich-Ranicki. In: Spiegel 25 (2001).
2 Diers, Michael: Wie Antike sehen oder Kanon und Kritik. Perspektiven der Kunst und Kunstgeschichte. In: Jens, Walter/Seidensticker, Bernd (Hrsg.): Ferne und Nähe der Antike. Berlin/New York 2003, S. 226.
3 Winko, Simone: Literatur-Kanon als invisible hand -Phänomen. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband 2002, S. 9.
4 Schönert, Jörg: Einführung. In: von Heydebrand, Renate (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 315.
5 Buß, Angelika: Kanonprobleme. In: Kämper van den Boogaart, Michael (Hrsg.): Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen 2003, S. 142.
6 Winko, Simone: Literatur-Kanon als invisible hand -Phänomen. S. 19.
7 Winko, Simone: Literarische Wertung und Kanonbildung. In: Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: DTV 2001, S. 596.
8 Vgl. Auerochs, Bernd: Die Unsterblichkeit der Dichtung. Ein Problem der heiligen Poesie des 18. Jahrhunderts. In: Kaiser, Gerhard/Matuschek, Stefan (Hrsg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Heidelberg: Winter 2001, S. 72.
9 Korte, Hermann: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband 2002, S. 31.
10 Ebd. S. 28.
11 Winko, Simone: Literatur-Kanon als invisible hand -Phänomen. S. 11.
12 Vgl. ebd.
13 Ebd. S. 13.
14 Ebd.
15 Ebd. S. 15.
16 Vgl. ebd. S. 15f.
17 Ebd. S. 19.
18 Ebd.
19 Korte, Hermann: Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl. In: Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann: Grundzüge der Literaturdidaktik. München: DTV, S. 62.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Korte, Hermann: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern S. 29.
23 Winko, Simone: Literarische Wertung und Kanonbildung. S. 597.
24 Buß, Angelika: Kanonprobleme. S. 143.
25 Ebd. nach Bourdieu, Paul: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
26 Winko, Simone: Literarische Wertung und Kanonbildung. S. 597.
27 Korte, Hermann: K wie Kanon und Kultur. S. 26.
28 Buß, Angelika: Kanonprobleme. S. 144.
29 Vgl. ebd.
30 Vgl. Korte, Hermann: Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl. S. 63.
31 Ebd. S. 62.
32 Ebd. S. 63.
33 Von Heydebrandt, Renate: Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung. In: Dies. (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 623.
34 Beil, Ulrich: Die ›verspätete Nation‹ und ihre ›Weltliteratur‹: Deutsche Kanonbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: von Heydebrand, Renate (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998. S. 323ff.
35 Ebd.
36 Ebd.
37 Vgl. ebd.