Was treibt junge Menschen in die Arme des Rechtsextremismus? „Geil auf Gewalt“ wagt eine psychoanalytische Tiefenbohrung in die seelischen Abgründe von Adoleszenz und rechtsextremer Gesinnung. Annette Streeck-Fischer dekonstruiert gängige Erklärungsmodelle und enthüllt die komplexen Wechselwirkungen zwischen familiären Traumata, Identitätsfindung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Jenseits oberflächlicher Schuldzuweisungen beleuchtet dieses Buch die unbewussten Motive, die junge Menschen dazu verleiten, in der Gewaltbereitschaft rechtsextremer Gruppen eine vermeintliche Lösung für ihre inneren Konflikte zu suchen. Die Autorin zeigt auf, wie ein erschüttertes Selbstwertgefühl, Versagensängste und der Verlust familiärer Geborgenheit die Anfälligkeit für Herrschaftsideologien verstärken. Dabei wird die rechtsextreme Gruppe zum Ersatz für fehlende Eltern, wo Gewalt nicht nur reproduziert, sondern auf marginalisierte Gruppen projiziert wird. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Rolle der Peergroup, die im Übergang von der Familie zur Gesellschaft entweder entwicklungsfördernd oder -hemmend wirken kann. Streeck-Fischer analysiert, wie rechtsextreme Symbole und Rituale als Übergangsobjekte dienen, um die fragile Identität zu stabilisieren und tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Die Studie deckt auf, wie unbewusste homoerotische Beziehungen innerhalb der Gruppen gesucht, aber gleichzeitig massiv abgewehrt werden, und wie die Projektion eigener, als böse empfundener Anteile auf Fremde und Andersartige zur Entstehung eines gefährlichen Freund-Feind-Denkens beiträgt. Abschließend plädiert die Autorin für eine differenziertere Auseinandersetzung mit den unbewussten Ursachen von Rechtsextremismus, um wirksame Präventionsstrategien zu entwickeln, die nicht nur auf Repression, sondern auch auf ein tiefes Verständnis der individuellen und gesellschaftlichen Dynamiken setzen. Ein wichtiges Buch für alle, die sich mit den Ursachen und Auswirkungen von Jugendgewalt, Rechtsextremismus, Adoleszenz, Psychoanalyse, Identitätsfindung, Gruppendynamik, Ausgrenzung und Traumatisierung auseinandersetzen möchten. Es bietet wertvolle Einblicke für Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und alle, die an einer gerechteren und friedlicheren Gesellschaft interessiert sind. Die Analyse der Mechanismen von Projektion, Idealisierung und Abwertung ermöglicht ein tieferes Verständnis der Anziehungskraft extremistischer Ideologien auf junge Menschen und eröffnet neue Wege für die Prävention und Intervention in diesem Bereich. Dieses Buch ist somit ein unverzichtbarer Beitrag zur aktuellen Debatte über Rechtsextremismus und seine Ursachen in der modernen Gesellschaft.
Annette Streeck-Fischer: „Geil auf Gewalt“. Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus
-rechtsextreme Jugendliche entstammen häufig familiären und sozialen Umfeldern, die von anhaltender Traumatisierung geprägt sind
-rechtsextreme Gruppe dient als Elternersatz, wo die häusliche Gewalt übernommen wird und auf Minoritäten übertragen wird
-rechtsextreme Jugendliche repräsentieren abgespaltene oder verleugnete Anteile von Individuen sowie der ganzen Gesellschaft
-bisheriger psychoanalytischer Erklärungsversuch des Rechtsextremismus bei Jugendlichen über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus bis in die dritte und vierte Generation reicht nicht mehr aus
-rechtsextreme Jugendliche projizieren ihre inneren Konflikte auf die Umwelt Was bestimmt den Verlauf von Adoleszenz?
-zentrale Kindheitskonflikte beeinflussen als Wiederholung alle Lebensphasen (z. B. frühe Erfahrungen, von der Mutter allein und fallengelassen worden zu sein)
-infantile Konflikte bestimmen die Weltanschauung des Heranwachsenden
-je weniger diese infantilen Konflikte gelöst wurden, desto eher neigt er zur Wiederholung. Oder aber er bewältigt sie, indem er eine soziale Rolle annimmt und anderen sozial Fallengelassenen hilft
-Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den idealen Elternbildern ist wichtig, um die Fähigkeit zur Ablösung zu entwickeln
-Schule prägt den Jugendlichen auf seinem gesamten Lebensweg im Hinblick auf Integration oder Ausgrenzung
-Peergroup hat Brückenfunktion für den Übergang zwischen Familie und Gesellschaft Dies kann entwicklungsfördernde oder entwicklungshemmende Wirkungen zeitigen
Adoleszenz und Rechtsextremismus
-Ungleichheit des Menschen und Gewaltbereitschaft als Hauptideologien von rechtsextremistischen Einstellungen
-erschüttertes Selbstgefühl ist anfällig für Herrschaftsideologien
-labiles und unfertiges Ich ist mit der Intensität seines ödipalen Hasses überfordert.
-durch Entmutigung (Versagen in Schule, Familie und Beruf) und adoleszenzbedingte Verletzlichkeit stabilisieren sich die Jugendlichen mittels eines primitiven Größenselbsts, neigen zu Feindprojektionen und schließen sich Skinheads an
-Projektion von Konflikten mit Erziehungsautoritäten auf Gesellschaft und Politik.
-es entsteht der Wunsch nach Rache und Gewalttätigkeit, da so scheinbar das traumatisierte Selbstgefühl am ehesten repariert werden kann
-das Fehlen von familiärer Geborgenheit zieht oft Versagen in der Schule (Hyperaktivität, schlechte Noten, Ausgrenzung durch Mitschüler) nach sich
-oftmals anzutreffende Scheinanpassung als Strategie zur Vermeidung von erneuter Traumatisierung
-frühzeitiger Abbruch des Dialogs mit Mutter kann zu einer verfrühten Anpassung an eine mißverstandene Realität führen
-späterer Dialog mit Vater fällt oft unzureichend aus oder weg, es kann zu einem Abbruch familiärer Beziehungen kommen und die Fähigkeit zur Identifikation mit gesellschaftlichen Vorbildern und Strukturen wird gemindert
-Peergroup übernimmt im Fall des Abbruchs familiärer Beziehungen Elternersatzfunktion und Orientierung
-Gewaltkultur der Skinheadszene hilft, eigene Ohnmacht nach außen zu projizieren
-Schuldzuweisung von eigener Minderwertigkeit auf eine scheinbar homogene Gruppe (Ausländer, Behinderte, usw)
-rechtsextreme Accessoires (Springerstiefel, Bomberjacken, Glatzen etc.) dienen als Übergangsobjekte, die den Trennungsprozeß von infantilen elterlichen Objekten unterstützen (Bindeglieder auf dem Weg von kindlicher zu erwachsener Identität / Fetische, die den bedrohten Phallus sichern sollen)
-betonte Männlichkeit und Brutalität sollen labile männliche Identität stärken und vor tiefsitzenden Minderwertigkeitsängsten schützen
-in rechtsextremen Jugendgruppen werden unbewußt homoerotische Beziehungen gesucht bei gleichzeitiger massiver Abwehr sexueller Triebregungen (Angst vor Homosexualität)
-Projektion als böse empfundener Selbstobjektanteile auf Fremde, Andersartige und Frauen
-niedrige Bildungsabschlüsse und zunehmende Stärkung der Position der Frau lassen rechtsextreme Jugendliche in ihrer Zukunftsperspektive und materiellen Existenz von kompetenten Ausländern und starken Frauen bedroht sehen
-in Kindern begegnen uns eigene unbewußte und abgewehrte Persönlichkeitsanteile, in ihnen erkennen wir bittere Wahrheiten, die wir abgespalten oder verleugnet haben bzw. bekämpfen (familiäre und gesellschaftliche Spiegelfunktion) „Ihr könnt uns nicht vernichten, denn wir sind ein Teil von Euch“ (Skinheadspruch)
-Ungleichheitsideologien (Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnisse in vielen Familien) und unbewußt affirmatives Verhältnis zur Gewalt spielen in der Gesellschaft eine bisher unterschätzte Rolle
-Jugendliche erfahren sich nicht durch Selbstreflexion, sondern durch externalisierte Konflikte mit ihrer Umwelt
-Zugehörigkeit zur gewalttätigen Skinheadszene läßt auf Suche nach verloren gegangenen Kindheitsobjekten schließen
-fehlende oder mangelhaft präsente Vaterfigur läßt Wunsch nach scheinbar mächtigerem väterlichen Objekt reifen (z.B. in der Gestalt Hitlers)
-adoleszente Rettungs- und Omnipotenzphantasien (Ausgleich für real erlebte Unzulänglichkeit und das Selbstsystem stabilisierend) entwicklungsfördernd, wenn Abstand zwischen Real- und Idealselbst nicht zu groß
-bei Skinheads: keine entwicklungsfördernde Wirkung dieser Phantasien, da Grandiositätsvorstellungen bis hin zum Realitätsverlust die Oberhand gewinnen
-Gewalttätigkeit als Maßnahme gegen innere Notstände (Angstbewältigung, narzißtische Reparation)
-Gegnersymbiose (Notwendigkeit eines äußeren Feindes bei realer oder vermeintlicher Bedrohung des Gruppenzusammenhalts) zur Projektion negativer Selbstanteile auf andere (Feindgruppe: Personen mit geringen Unterschieden zu einem selbst => Nähe zum Feind:
jugendliche Ausländer haben ähnlich geringen gesellschaftlichen Status wie jugendliche Skins)
-Fremdheiten und Andersartigkeiten müssen zum Selbstschutz überzeichnet werden
-Freund-Feind-Denken wird durch primitive Weltbilder und paranoide Verkennungen („jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“) begünstigt
-Ausmaß der Gewalttätigkeit als Ausdruck tiefer narzißtischer Verwundungen und Beschämungen
-Fremdgruppe wird entmenschlicht („Ungeziefer“, „Kanacken“ etc.), was nur dem möglich ist, der selbst Menschlichkeit, Würde und Selbstrespekt verloren hat
-gegen Feindgruppen gerichtete Unterwerfungs- und Beschämungsrituale auch gruppenintern anzutreffen (streng hierarchische Hackordnung)
-sexualisierte Gewalttätigkeit durch Befriedigung sadistischer Triebwünsche (Gewalt als Liebesersatz)
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Annette Streeck-Fischer's "Geil auf Gewalt"?
Annette Streeck-Fischer's "Geil auf Gewalt" untersucht rechtsextremes Verhalten bei Jugendlichen aus psychoanalytischer Sicht, wobei familiäre Traumatisierung, die Rolle der rechtsextremen Gruppe als Elternersatz, und die Projektion innerer Konflikte auf die Umwelt zentrale Themen sind. Es wird argumentiert, dass traditionelle Erklärungen, die auf den Nachwirkungen des Nationalsozialismus basieren, nicht mehr ausreichend sind.
Welche Rolle spielen Kindheitskonflikte in der Adoleszenz rechtsextremer Jugendlicher?
Zentrale Kindheitskonflikte, insbesondere ungelöste Erfahrungen von Verlassenheit, beeinflussen die Weltanschauung des Heranwachsenden und können zur Wiederholung dieser Muster führen. Die Auseinandersetzung mit idealen Elternbildern ist wichtig für die Ablösung, und Schule und Peergroup spielen eine entscheidende Rolle bei Integration oder Ausgrenzung.
Welche Hauptideologien prägen rechtsextremistische Einstellungen?
Ungleichheit des Menschen und Gewaltbereitschaft sind die Hauptideologien. Ein erschüttertes Selbstgefühl macht Jugendliche anfällig für Herrschaftsideologien. Entmutigung in Schule, Familie und Beruf führt zur Stabilisierung mittels eines primitiven Größenselbst, Feindprojektionen und dem Anschluss an Skinheads.
Wie äußern sich die psychologischen Mechanismen bei rechtsextremen Jugendlichen?
Konflikte mit Erziehungsautoritäten werden auf Gesellschaft und Politik projiziert, was zu Rache und Gewalttätigkeit führt, um das traumatisierte Selbstgefühl zu reparieren. Scheinanpassung wird als Strategie zur Vermeidung erneuter Traumatisierung eingesetzt. Ein Abbruch des Dialogs mit den Eltern kann zu einer verfrühten Anpassung an eine missverstandene Realität führen.
Welche Funktion hat die Peergroup (Skinheadszene) für rechtsextreme Jugendliche?
Die Peergroup übernimmt die Elternersatzfunktion und bietet Orientierung, insbesondere wenn familiäre Beziehungen abgebrochen sind. Die Gewaltkultur der Skinheadszene hilft, eigene Ohnmacht nach außen zu projizieren. Rechtsextreme Accessoires dienen als Übergangsobjekte, die den Trennungsprozess von elterlichen Objekten unterstützen.
Welche Rolle spielen Männlichkeit und Sexualität im rechtsextremen Kontext?
Betonte Männlichkeit und Brutalität sollen labile männliche Identität stärken und vor Minderwertigkeitsängsten schützen. In rechtsextremen Gruppen werden unbewusst homoerotische Beziehungen gesucht bei gleichzeitiger Abwehr sexueller Triebregungen. Projektion als böse empfundener Selbstobjektanteile erfolgt auf Fremde, Andersartige und Frauen.
Wie beeinflussen Bildungsniveau und gesellschaftliche Position rechtsextreme Einstellungen?
Niedrige Bildungsabschlüsse und die zunehmende Stärkung der Position der Frau lassen rechtsextreme Jugendliche in ihrer Zukunftsperspektive und materiellen Existenz von kompetenten Ausländern und starken Frauen bedroht sehen.
Was bedeutet der Skinheadspruch "Ihr könnt uns nicht vernichten, denn wir sind ein Teil von Euch"?
Dieser Spruch deutet auf eine familiäre und gesellschaftliche Spiegelfunktion hin, bei der Kinder eigene unbewusste und abgewehrte Persönlichkeitsanteile repräsentieren und bittere Wahrheiten erkennen lassen, die abgespalten oder verleugnet wurden.
Wie äußert sich Gewalttätigkeit im rechtsextremen Kontext?
Gewalttätigkeit wird als Maßnahme gegen innere Notstände, Angstbewältigung und narzisstische Reparation eingesetzt. Eine Gegnersymbiose (Notwendigkeit eines äußeren Feindes) dient zur Projektion negativer Selbstanteile. Die Fremdgruppe wird entmenschlicht, was nur dem möglich ist, der selbst Menschlichkeit, Würde und Selbstrespekt verloren hat.
Welche Rolle spielen Rettungs- und Größenphantasien?
Adoleszente Rettungs- und Omnipotenzphantasien können entwicklungsfördernd sein, solange der Abstand zwischen Real- und Idealselbst nicht zu groß ist. Bei Skinheads überwiegen Grandiositätsvorstellungen, die bis zum Realitätsverlust führen.
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- Michael Haß (Author), 2001, Annette Streeck-Fischer - "Geil auf Gewalt". Psychoanalytische Bemerkungen zu Adoleszenz und Rechtsextremismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/99670