Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Polen
II.1 Historische Aspekte der polnische politischen Kultur
II.2 Politische Kultur im demokratisierten Polen
II.3 Polen und die EU
III. Deutschland
III.1 Historische Entwicklungslinien deutscher politischer Kultur
III.2 Politische Kultur in Deutschland nach 1989
III.3 Die Deutschen und die EU
IV. Frankreich
IV.1 Die politische Kultur Frankreichs
IV.2 Frankreich in der EU
V. Einheit in Vielfalt?
V.1 Historische Aspekte
V.2 Nationalstaaten und Europa nach 1945
V.3 Perspektiven für eine europäische politische Kultur
Literaturverzeichnis
I.Einleitung
Am Anfang des neuen Jahrtausends steht die Europäische Union vor einen Aufgabe nie gekannten Ausmaßes: die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten. Gleichzeitig will man das Fortschreiten der Integration der jetzigen Mitgliedsländer nicht vernachlässigen. Auf administrativer Ebene wird alles getan, um diese zwei Herausforderungen zu bestehen.
Doch was ist mit den Bürgern? Gibt es überhaupt einen "europäischen Bürger"? Die politischen Kulturen der Mitgliedsländer werden im Integrationsprozess von offizieller Seite vernachlässigt. Dabei sind sie von fundamentaler Wichtigkeit, denn ein Europa ohne Europäer macht keinen Sinn, und die Stabilität eines solchen Europas ist äußerst fraglich.
In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die politischen Kulturen in drei Ländern entwickelt haben, ob eventuell gemeinsame Tendenzen zu erkennen sind und wie sich das Miterleben des europäischen Integrationsprozesses, sei es nun als Mitglieds- oder als Bewerberstaat, auf die politische Kultur und die Wahrnehmung der Bürger auswirkt.
Als Beispielländer wurden Polen, Deutschland und Frankreich gewählt; Deutschland und Frankreich als langjährige Mitgliedsstaaten, ohne die an eine weitere europäische Integration nicht zu denken ist; Deutschland hat gleichzeitig, wie Polen, 1989 eine Umbruchphase erfahren, die sich auch auf die politische Kultur ausgewirkt hat. Polen schließlich, als eines der fünf postkommunistischen Länder, die als nächste der Europäischen Union beitreten werden.
Da eine umfassende Untersuchung der politischen Kulturen der drei Länder den Umfang der Arbeit sprengen würde, werde ich mich hier auf allgemeine Darstellungen mit einigen wichtigen Indikatoren beschränken. In den ersten drei Kapiteln, die sich mit den Ländern beschäftigen, wird jeweils die historische Entwicklung der politischen Kultur untersucht sowie die Haltungen zur EU. Für Deutschland und Polen spielt des weiteren der Systemwechsel eine Rolle, der in beiden Ländern Auswirkungen auf die politische Kultur hatte. Im vierten Kapitel soll versucht werden, Schlüsse aus den drei Länderuntersuchungen zu ziehen und diese auf Gesamteuropa zu übertragen. Hier spielt besonders die Frage nach einer europäischen Identität eine wichtige Rolle.
II. Polen
II.1 Historische Aspekte der polnischen politischen Kultur
Die Geschichte Polens als Staat ist sehr wechselvoll, über lange Perioden existierte der Staat Polen gar nicht. Dieser Umstand ist auch bei der Untersuchung der politischen Kultur Polens zu berücksichtigen. Als historische "Schlüsselerfahrungen" bezeichnet Wehling die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. Schon damals wurde der Grundstein gelegt für die für Polen charakteristische Distanz zu staatlichen Autoritäten und die große Bedeutung von Familienverbindungen und informellen Netzwerken (Wehling 1996, 58/ Szajkowski 1997, 157). durch die Teilungen entwickelten sich regional stark unterschiedliche politische Kulturen, so wurde zum Beispiel im preußisch besetzten Teil versucht, das funktionale Modell des protestantischen Preußen auf das katholische Polen zu übertragen, während im österreichischen Teil von Seiten der Besatzungsmacht eher die Praxis des "laisser-faire" herrschte (Wehling 1996, 59f.). Der Zusammenhalt der Polen als Nation wurde in Zeiten der Nichtexistenz des polnischen Staates vor allem durch die katholische Kirche und die Intellektuellen gewährleistet. Besonders die Kirche stellte über die Jahrhunderte hinweg einen Identifikationspunkt dar (Wehling 1996, 61). Durch das Zelebrieren von Gedenktagen , nicht nur der kirchlichen, sondern vor allem auch der politischen, die z. B. an Aufstände oder historische Siege in Schlachten erinnerten, wurden die historischen Schlüsselerfahrungen auch über Generationen hinweg weitergegeben (Koestler 1996, 85). Somit kann auf eine relativ große Bedeutung der historischen Schlüsselerfahrungen auch für die gegenwärtige politische Kultur ausgegangen werden. Gleichzeitig verzögerte sich durch die starke Rolle der katholischen Kirche die Modernisierung und Industrialisierung Polens. Aufgrund des Einflusses der Kirche auf den polnischen Nationalismus und der Mythologisierung der Staatlichkeit, die Polen lange nicht hatte, war, als Polen 1918 unabhängig wurde, in den Köpfen der meisten Bürger die Idee der Bürgerschaft an sich eng verknüpft mit der Vorstellung der Nation und einem sehr starken Zusammengehörigkeitsgefühl, "Freiheit" wurde eher als kollektive Freiheit interpretiert (Jablonski 1996, 41f.). Dieses über Jahrhunderte hinweg durch die Kirche geprägte Zusammengehörigkeitsgefühl führte dazu, dass eine nationale politische Kultur die regionalen überlagerte (Wehling 1996, 53, 56).
Unter kommunistischer Herrschaft lebte das alte Muster der politischen Kultur wieder auf: die kommunistische Herrschaft wurde als fremde Herrschaft und "Anderer" angesehen, die hohe Akzeptanz westlicher Werte führte zu einer starken antisowjetischen Strömung (Schimmelfennig 1996, 73) und damit verbunden zu einer Infragestellung des gesamten politischen Systems. Der vielbeschworene "Rückzug ins Private" erreichte in Polen besonders große Ausmaße (Szajkowski 1997, 157). Gerade der Umstand, dass Polen nie sichere Grenzen hatte führte dazu, dass der Kommunismus häufig nur als eine weitere Besetzung Polens verstanden wurde. Die wiederholten Aufstände in Polen trugen dazu bei, dass der Traum der Freiheit und Selbstbestimmung in der Bevölkerung aufrechterhalten wurde. Polen war das am wenigsten sowjetisierte Land der Warschauer-Pakt-Staaten (EU-Kommission 1998, 14).
II.2 Politische Kultur im demokratisierten Polen
Der Lernprozess, der bei der polnischen Bevölkerung nach 1989 einsetzte, war zuallererst ein ökonomischer: durch die nach dem Wegfall des allumfassenden kommunistischen Systems voll zum Tragen kommende Härte des Alltagslebens und die Nichterfüllung der an den Staat gestellten Ansprüche kamen mehr und mehr materialistische Haltungen in der Bevölkerung zum Vorschein, die politische Kultur Polens nach dem Umbruch von 1989 war stark outputorientiert, für die Systemstabilität kam es also vor allem auf die wirtschaftliche Performanz des Systems an (Meyer 1996, 19). Erneut fand ein "Rückzug ins Private", eine Individualisierung statt, das Interesse an aktiver Politikgestaltung war eher gering, zusätzlich stellte die Übernahme alter Kaderpolitiker in die neue politische Elite die Legitimierung des demokratischen Systems in Frage. Diese Umstände führten zu einem sehr instabilen Wählerverhalten und infolgedessen zu einem sich sehr schnell verändernden Parteiensystem. Der Pluralismus entwickelte sich in den ersten Jahren nach dem Systemwechsel nur sehr langsam, da keine stabilen Parteien und Vereinigungen auftauchten (Meyer 1996, 20ff.). Der Wechsel von einer eher wertorientierten zu einer interessengeleiteten Politik um 1993 ließ das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik schwinden und brachte unangenehme Erinnerungen an die Zeiten kommunistischer Kaderpolitik auf. Die Folge war wiederum ein Rückzug der Bürger aus der politischen Sphäre und ein Verlust des Vertrauens der Bürger in die Politik, die neuen Freiheitsrechte wurden auch als Recht auf Nichtorganisation interpretiert. Von Politikern wurde erwartet, dass sie apolitisch handelten, d.h. dass sie sich nicht auf Parteien und Vereinbarungen mit Wirtschaftsbossen einließen, sondern allein das Wohl Polens und die Werte der Nation zu verfolgen suchten (Jablonski 1996, 45ff.). Im Zuge der Mitte der neunziger Jahre einsetzenden Pluralisierung verlor auch die katholische Kirche an Einfluss (Szajkowski 1997, 162).
II.3 Polen und die EU
Aufgrund der hohen Akzeptanz westlicher Werte, genoss die EU (wie auch die NATO) in Polen sowohl in der Bevölkerung wie auch in der politischen Elite hohes Ansehen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zustimmungsraten zu einem möglichst schnellen EU-Beitritt in den Jahren nach 1989 lange über 40% lagen. Allerdings war diese Haltung zum EU-Beitritt geprägt von Mythen und Stereotypen, was vor allem auf die mangelnde Information der polnischen Bevölkerung über die EU zurückzuführen ist. Von 1993 bis 1995 fielen die Befürworter eines sofortigen Beitritts von 41% auf 27%. , es wird eher eine 5- bis 10jährige Periode als Perspektive für den Beitritt angegeben. Dieser Trend wurde vor allem ausgelöst durch einen höheren Wissensstand über die EU, die Zustimmung ist rationaler geworden. Der Abfall der Zustimmung zu einem Beitritt schon vor 1993 kann auf ein gesteigertes Bedürfnis der Bürger nach Informationen über die EU hinweisen, Widerstand als Indikator eines gesteigerten Informationsbedürfnisses, dem die polnische Regierung und die EU auch in den folgenden Jahren nachkamen. Als Befürchtungen bei einem EU-Beitritt werden als häufigstes die Einschränkungen der polnischen Souveränität und die Einschränkung der Leistungen des Wohlfahrtsstaates genannt (Szajkowski 1997, 166ff.). Andererseits motiviert sich die Befürwortung eines schnellen EU-Beitritts auch zum Teil aus dem in der polnischen Bevölkerung tief verwurzelten Bewusstsein, nie feste Grenzen gehabt zu haben und mit einem EU-Beitritt diese Grenzen etwas mehr zu sichern, denn auch die Angst vor dem mächtigen Nachbarn Deutschland wird in Umfragen als Grund für den EU-Beitritt genannt. Die Entwicklung einer Inselmentalität als zwischen zwei großen Nachbarn (Deutschland und Russland) könnte allerdings auch ein Hindernis auf dem Weg zur Integration Polens in die EU behindern (Szajkowski 1997, 169). Aber die Wahrscheinlichkeit für eine solche Entwicklung ist eher als gering einzuschätzen, da die meisten Polen die Integration in die EU als Weg weg vom Kommunismus ansehen, zumal sie sich schon seit Jahrhunderten als integraler Bestandteil Europas begreifen und mit der Integration in die EU nur den ihnen zustehenden Platz wieder einnehmen, nachdem Moskau dies in den Jahren des Kalten Kriegs verhindert hatte (u.a. Olechowski 1992, 23; EU-Kommission 1998, 5ff.).
III. Deutschland
III.1 Historische Entwicklunglinien deutscher politischer Kultur
In der einschlägigen Literatur werden fünf historisch wichtige und einflussreiche Entwicklungslinien der deutschen politischen Kultur identifiziert: die etatistische Tradition (überhöhter Staatsgedanke, Ablehnung von Parteien, Überhöhung des Monarchen, später der Regierung), die unpolitische Tradition (Politik wird als "schmutziges Geschäft" betrachtet), die Tradition des deutschen Idealismus' (die Realität wird an Idealbildern gemessen und von daher als enttäuschend empfunden), die Tradition der Konflitkscheu (Harmonie wird als Wert höher eingestuft als Konflikt) und die formalistische Tradition, die vor allem durch den seit jeher hohen Anteil von Juristen in der politischen Elite gestützt wird (u.a. Jesse 1997, 200f). Nach 1945 bemühte man sich, diese Traditionen zu unterdrücken oder zu brechen, da sie in Kombination miteinander den Aufstieg der Nationalsozialisten erst möglich gemacht hatten. Tatsächlich aber blieben viele dieser Traditionen in der alten Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre lebendig, während man in der DDR versuchte, durch eine totale Abwendung von der Vergangenheit und vom Westen diese Traditionen zu ignorieren (Jesse 1997, 206). Die Westdeutschen wurden natürlich nicht über Nacht zu Demokraten. Trotzdem erwies sich die zweite Demokratie auf deutschen Boden als durchaus stabil. Denn obwohl das Unpolitische in Deutschland eine lange Tradition hatte, so waren die Wahlbeteiligungen aufgrund der ebenso verwurzelten Staatstreue regelmäßig hoch. Die Bürger der frühen Bundesrepublik zeigten zwar wenig Verbindung zu der Staatsform der Demokratie, dennoch taten sie "wie verlangt" und machten so die bundesrepublikanische Demokratie zu einer "Lehrbuchdemokratie (Gaffney/ Kolinsky 1991, 6; Kolinsky 1991, 37). Auch Sontheimer (1999, 198f.) betont, dass die Bundesrepublik nicht an nationalstaatliche Traditionen anknüpfte. Das Fehlen einer nationalen Identität habe im Gegenteil dazu beigetragen, dass individuelle Identitätsmerkmale der Bürger an Bedeutung gewannen. Als Substitut für den fehlenden, da wegen der Vergangenheit verpönten, Patriotismus entwickelte sich der sogenannte Verfassungspatriotismus; die Deutschen waren nicht stolz auf ihr Land, sondern auf ihre Verfassung, das Grundgesetz (Sontheimer 1999, 201f.).
Die Wirtschaft spielte in der politischen Kultur der Bundesrepublik immer eine besondere Rolle: zu Zeiten eines Booms war die Unterstützung für Institutionen und Politik im allgemeinen jeweils stärker als in Zeiten der Stagnation oder der Depression. Von daher lässt sich die politische Kultur der Bundesrepublik als eine outputorientierte bezeichnen. Mit dem Generationenwechsel Mitte der sechziger Jahre hin zu einer Generation, die in der Demokratie aufgewachsen war und diese als etwas selbstverständliches hinnahm, ist zum ersten Mal eine leichte Abkehr von der Konsenskultur zu erkennen (Kolinsky 1991, 37).
III.2 Politische Kultur in Deutschland nach 1989
Die nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten befürchtete Rückkehr zu diesen Traditionen, die sich im Laufe der vierzig Jahre Demokratie in der Bundesrepublik vor allem durch den Generationswechsel verloren hatten (Kolinsky 1991, 36f.), blieb aus. Die Vereinigung wurde vornehmlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen (Sontheimer 1999, 220).
Fuchs, der 1997 die politische Kultur im vereinigten Deutschland untersuchte, kommt zu dem Schluss, dass die politische Kultur in den zwei Teilen Deutschlands immer noch sehr verschieden sei. Die Unterstützung für die Demokratie an sich sei zwar hier wie dort groß, die Differenz zeigte sich jedoch, als nach dem Demokratietyp gefragt wurde. So stellt er fest, dass Ostdeutsche eher ein sozialistisches Demokratiemodel bevorzugen und den westdeutschen, liberalen Demokratietyp immer noch als Import betrachten (Fuchs 1997, 102). Sontheimer (1999, 218ff.) hingegen stellt eine Annäherung der politischen Kulturen der beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten fest, die sich in Zukunft noch fortsetzen werde. Auch Jesse (1997, 202ff.) unterstützt diese These, indem er zwar auf Differenzen wie zum Beispiel die konsequente Bevorzugung von "Gleichheit" über "Freiheit" im Osten, während es im Westen genau andersherum wahrgenommen wird, hinweist, aber gleichzeitig aber einige, die Differenzen überlagernde Gemeinsamkeiten feststellt: er nennt drei Defizite der deutschen politischen Kultur, die seiner Meinung nach, erst nach 1990 voll zum Tragen kommen: die Lagermentalität der Deutschen, die Dramatisierung von Konflikten (die sicherlich an die Tradition der Konfliktscheu anknüpft) und der Willen, auf jeden Fall politisch korrekt zu handeln und zu denken.
III.3 Die Deutschen und die EU
Die Deutschen sehen ihre Mitgliedschaft in der EU immer noch als überwiegend positiv an, obgleich der Wert in den letzten Jahren gesunken ist, lag er 1999 noch bei 47%, die der Mitgliedschaft zustimmten, 39% der Bundesbürger waren der Ansicht, die EU-Mitgliedschaft bringe überwiegend Vorteile (EU-Kommission 1999a, 31ff.).
Dabei ist den Deutschen, wie den meisten Europäern, das Tempo der Integration zu langsam: auf einer Skala von 0 (kein Fortschritt) bis 7 (schnellstmögliches Tempo) wird die empfundene Geschwindigkeit mit 4 gemessen, die Wunschgeschwindigkeit liegt allerdings bei 4,8 (EU-Kommission 1999a, 45).
Die EU-Osterweiterung wird hingegen als nicht so dringlich wahrgenommen wie die weitere Integration der EU in den jetzigen Grenzen. Nur 38% der Deutschen sprachen sich 1999 für eine schnelle Erweiterung der EU nach Osten hin aus (EU-Kommission 1999a, 59).
In der für eine europäische politische Kultur wichtigen Frage der Identität zeichnet sich bei den Deutschen ein sehr uneinheitliches Bild: So wird hier der niedrigste Wert der gesamten EU für Nationalstolz gemessen (67% sind eher stolz auf ihr Land, 35% eher nicht), gleichzeitig liegt das empfinden für eine europäische Identität eher am unteren Ende der Skala, 4% der Deutschen fühlen sich ausschließlich als Europäer, 8% eher europäisch als deutsch, 37% eher deutsch als europäisch und 48% ausschließlich deutsch, womit zwar bei der Mehrheit eine europäische Komponente enthalten aber nicht sehr stark ausgeprägt ist. Dabei meinen allerdings 43% der Deutschen, es gebe eine europäische kulturelle Identität, genauso viele sind der gegenteiligen Auffassung. Damit liegt dieser Wert über dem europäischen Durchschnitt (38%/ 49%) (EU-Kommission 1999a, 10f.).
IV. Frankreich
IV.1 Die Politische Kultur Frankreichs
Als Almond und Verba ihre erste Studie zur politischen Kultur in fünf westlichen Demokratien vorstellten, kamen sie für Frankreich zu dem Schluss, dass sich das Land in einem zu wechselvollen Prozess befinde, um konstante Haltungen zu erkennen und zu untersuchen. Allerdings nahmen sie dabei an, dass eine Systemstabilität (die Frankreich kurz nach dem Wechsel zur Fünften Republik 1958 dann Anfang der sechziger Jahre noch nicht hatte) notwendig war für die Akzeptanz politischer Prozesse (Gaffney/ Kolinsky 1991, 2). Ähnlich wie für Deutschland werden auch für Frankreich des öfteren einige Merkmale politischer Kultur genannt: erstens der ausgeprägte Individualismus, zweitens eine mangelnde staatsbürgerliche Disziplin und drittens die Angewohnheit, politische Konflikte auf die ideologische Ebene zu transportieren (Christadler 1999, 287).
Historisch gesehen sticht vor allem die französische Revolution heraus, die bis heute der Hauptidentifikationspunkt für die Franzosen und den französischen Republikanismus geblieben ist (McMillan 1997, 81). Traditionell zeichnet sich Frankreich nicht durch eine hohe Systemstabilität, sondern eher durch eine große Konfliktfähigkeit und eine politische Polarisation aus (Gaffney/ Kolinsky 1991, 1). So zeigen Umfragen in der 5. Republik durchweg eine hohe Unterstützung für die Institutionen des Staates und die politischen Prozesse der Republik (Gaffney 1991, 13).
Die Angewohnheit, politische Konflikte auf ideologischer Ebene auszutragen wirkt sich auch auf das Parteiensystem in Frankreich aus: hier findet man keine traditionellen Klientelparteien (Gaffney 1991, 17). Ihre Interessen versuchen die Franzosen eher über Aktionsgruppen und Initiativen als über die Parteien durchzusetzen, die Organisationsbereitschaft ist hier im europäischen Bereich vergleichsweise hoch (Christadler 1999, 296).
IV.2 Frankreich in der EU
Frankreich als einer der ersten Staaten, die den Weg zu einer europäischen Integration beschritten scheint in den letzten Jahren der weiteren Integration skeptisch gegenüberzustehen. Das liegt vor allem daran, dass die Stimmung in der Bevölkerung umzuschlagen droht. So war schon die Entscheidung für die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht 1992 denkbar knapp: 49% stimmten dagegen, 51% dafür. In Umfragen nach dem Referendum wurden für lange Zeit noch geringere Zustimmungsraten gemessen (McMillan 1997, 82; EU-Kommission 1999a, 34). Der Prozentsatz der Leute, die für eine schnelle Osterweiterung sind, fällt in Frankreich noch geringer aus als in Deutschland: gerade einmal 34% betrachten die Osterweiterung als eine vorrangige Aufgabe der EU (EU-Kommission 1999a, 59). Die niedrige Zustimmung zu einer schnellen Osterweiterung hängt mit der immer noch vorhandenen Angst vor einem zu starken Deutschland zusammen, dass durch eine Osterweiterung zur zentralen wirtschaftlichen und politischen Macht in Europa werden könnte ( Axt 1999, 477)
Das Verhältnis der Franzosen zur EU wird in den letzten Jahren immer mehr von der Frage der Identität bestimmt. Das Eurobarometer weist zwar einen über dem EU-Durchschnitt liegenden Wert für die europäische Komponente in der Identität der Franzosen aus, jedoch geben viele Befragte in Umfragen an, die französische Identität würde durch die europäische Identität bedroht (Christadler 1999, 298). Konstitutiver Teil der französischen Identität war von jeher der Republikanismus, nicht etwa, wie in Deutschland ein völkisch geprägter Begriff des Franzosentums, das Bekenntnis zur Republik war das eigentlich wichtige. Vor diesem Hintergrund fällt es den Franzosen schwerer als anderen europäischen Nationen, Souveränität an eine höhere Ebene abzugeben. Bemerkenswert ist dabei, dass die Franzosen in Zeiten zunehmender europäischer Integration wieder mehr auf nationale Festtage zurückgreifen, diese größer als zuvor zelebrieren (Christadler 1999, 299f.; Axt 1999, 466) und somit versuchen, den "Mythos nationaler Großartigkeit" (McMillan 1997, 81), der laut McMillan die französische politische Kultur bestimmt, wieder aufleben zu lassen.
Ein besonderer Aspekt beim Streben Frankreichs nach europäischer Integration war von jeher die Einbindung Deutschlands in ein Bündnissystem. Dieses Ziel ist allerdings nach Ansicht der meisten Franzosen längst erreicht, so dass einer der Gründe für eine weitere Integration wegfällt. Höchstens die Osterweiterung könnte das Erreichen dieses Ziels erneut in Frage stellen.
V. Einheit in Vielfalt?
Jean Monnet, einer der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaften, sagte kurz vor seinem Tod, wenn er noch einmal mit der europäischen Integration beginnen könnte, würde er mit der Kultur anfangen. Angesichts zunehmendem Skeptizismus innerhalb der Union wie auch in einigen der Beitrittsstaaten scheint dieser Teil der Integration überfällig zu sein. "Einheit in Vielfalt", das offizielle Konzept der EU zur kulturellen Integration, stößt an seine Grenzen.
V.1 Historische Aspekte
Es wäre historisch falsch, so zu tun, als ob seit dem Mittelalter eine gemeinsame europäische Geschichte geschrieben worden wäre, die nur auf eine Europäischen Union oder einen Staatenbund hinausläuft (Gallo 1997,387). Europa als einheitliches, befriedetes Gebiet hat es kaum gegeben, die europäische Teilung ist kein Phänomen des kalten Krieges.
Im Mittelalter waren die Grenzen Europas religiös definiert, der Islam wurde als ständige Bedrohung an Europas Grenzen wahrgenommen. Die Religion wurde spätestens im 18. Jahrhundert durch den Nationalismus als europäische Ideologie abgelöst. Damit verringerten sich die Differenzen natürlich nicht, im Gegenteil, der Sieg über den Erbfeind wurde zum Staatsziel.
V.2 Nationalstaaten und Europa nach 1945
Die direkte Verbindung der Bürger zur EU beschränkt sich auf die Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei hier die Wahlbeteiligung seit Jahren zurückgeht und auch meist unter nationalen Gesichtspunkten gewählt wird (EU-Kommission 1999a, 86f.). Wohl auch wegen der Möglichkeit der direkten Einflussnahme genießt das Europäische Parlament das größte Vertrauen unter den Bürgern, verglichen mit anderen EU-Institutionen (EU-Kommission 1999a, 2), die für die Bürger nur mit dem Umweg über nationale Institutionen funktionieren (Stephan 1999, 100). Wenngleich die Nationalstaaten unverzichtbar sind für eine Legitimierung der europäischen Institutionen, so entsteht doch eine europäische Identität nur durch die Zustimmung der Bürger im Alltag (Karlsson 1999, 70).
Zu bemerken ist hier auch, dass das Vertrauen in die EU-Institutionen in den letzten Jahren zugenommen hat, wenngleich die Zahlen noch nicht die der nationalen Institutionen erreichen. Es handelt sich um ein mehr oder weniger "funktionalistisches" Vertrauen, ein Vertrauen weniger aus Leidenschaft für die europäische Idee, sondern aus Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Zukunft.
Die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten ist für eine Europäische Union, die es sich zum Ziel gemacht hat, für Frieden und Freiheit auf dem Kontinent zu sorgen, unabdingbar geworden. Im Jahre 1986 wurden Portugal und Spanien unter anderem deshalb aufgenommen, um die noch junge Demokratie der beiden Staaten, die bis Mitte der siebziger Jahre von Diktatoren beherrscht wurden, zu stärken. Gleiches sollte man jetzt auch den postkommunistischen Staaten zugestehen.
V.3 Perspektiven für eine europäische politische Kultur
Entscheidend für die weitere europäische Integration wird die Frage sein, ob es gelingt, eine europäische kulturelle Identität zu entwickeln. Dies sollte auch unter Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Staaten geschehen, die aufgrund der historischen Entwicklung integraler Bestandteil Europas sind, auch ein vereintes Europa wird nicht ohne historische Komponente der Identität auskommen.
Die nationalen Identitäten, die sich mit Entstehen der Nationalstaaten vor mehr als zweihundert Jahren herausgebildet haben, sind sehr unterschiedlich in ihrer Entstehung und Entwicklung. Allgemein kann gesagt werden, dass bei der Nationsbildung jeweils folgende Faktoren eine Rolle spielten: erstens eine gemeinsame Basis in Sprache und Kultur, zweitens gemeinsame historische Erfahrungen, drittens ein gemeinsames wirtschaftliches Gebiet und viertens ein gemeinsames Bedürfnis nach Sicherheit vor Bedrohungen von außerhalb (Jansen 1999, 29).
Dennoch gibt es genug Gemeinsamkeiten, die Phase der gemeinsamen Entwicklungen und der Integration hat viele davon hervorgebracht. So gibt es eine "gemeineuropäische moderne Normalität", wie sie Sontheimer propagiert (1999, 239); es gibt einen Minimalkonsens auch in der europäischen Bevölkerung über die Unterstützung demokratischer politischer Systeme, marktorientierter Wirtschaftssysteme und relativ umfangreicher Wohlfahrtssysteme (Eatwell 1997, 234). Auch gemeinsame europäische Trends lassen sich in den letzten Jahren zunehmend erkennen: dazu gehört die Abnahme der Religiosität (in postkommunistischen Staaten oft erst im Zuge der Pluralisierung) und die Orientierung auf postmaterialistische Werte ebenso wie die zunehmende Mobilität innerhalb Europas, die natürlich ein gesteigertes Maß an Kommunikation mit sich bringt (Eatwell 1997, 264ff.).
"Einheit in Vielfalt" reicht als Konzept für eine europäische Identität oder als Basis für eine europäische politische Kultur nicht aus; Differenzen dürfen und können nicht das Einzige sein, das verbindet. Darüber hinaus muss es Gemeinsamkeiten geben, sowohl was Gedenktage und geteilte Erinnerung, als auch was den politischen Prozess und die Institutionenstruktur betrifft. Die relativ große und konstante Unterstützung des Europäischen Parlamentes in der Bevölkerung sowohl der Mitglieds- als auch der Beitrittsstaaten könnte einen Anfang darstellen.
Das Christentum als vereinigender Faktor von Europas Verschiedenheit reicht nicht aus. In Zeiten zunehmender Säkularisierung und mit Aufnahmeanträgen von Ländern, die mehrheitlich andere Religionen haben, ist das Christentum als Fokus der europäischen Identität mehr Vergangenheit als Zukunft. Wenn sich die Teilnahme am europäischen Integrationsprozeß und der Wille, Europa zu gestalten als historischer Fakt im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten festsetzt, könnte dies der Ausgangspunkt für eine europäische Identität sein. Die Erinnerungen und Erfahrungen werden keine anderen sein , sie werden aber in einem europäischen Rahmen reinterpretiert.
Im Falle der EU besteht eine Chance für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen kulturellen Identität in der Schaffung von unmittelbar europäischen Institutionen, die für die Bürger ebenso unmittelbar und nicht über den Umweg über nationale Institutionen funktionieren. Auf den identitätsstiftenden Effekt von Institutionen ist mehrfach hingewiesen worden (Keman 1997, 14). Die Stärkung der supranationalen europäischen Identität wird mit einer Stärkung der regionalen und einer Schwächung der nationalen Identitäten einhergehen. Der Umstand, dass es nach 1945 für Europa unmöglich war, ein Selbstbildnis zu entwickeln, das unabhängig war vom Selbstbildnis der westlichen Welt, könnte sich jetzt nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs als Vorteil erweisen. Die mittel- und osteuropäischen Staaten können so in den Entscheidungsprozeß über die zukünftige Gestalt und Identität der Europäischen Union miteinbezogen werden. Für die Entwicklung eines gesamteuropäischen Selbstbildnisses, das auch politische Konsequenzen hat, wäre eine Diskussion über die Zukunft der EU nicht nur in den politischen Eliten der Länder von essentieller Bedeutung.
Literaturverzeichnis
Axt, Heinz-Jürgen (1999): Frankreich in der europäischen Union. In: Christadler, Marieluise/ Uterwedde, Henrik (1999): Länderbericht Frankreich. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Christadler, Marieluise (1999): Frankreichs politische Kultur auf dem Prüfstand. In: Christadler/ Uterwedde, a.a.O.
Eatwell, Roger (1997): European Political Cultures: Conflict or Convergence? London/ New York: Routledge
EU-Kommission (1998): Survey of National Identity And Deep-Seated Attitudes Towards
European Integration in the Ten Applicant Countries of Central and Eastern Europe, Brüssel.
EU-Kommission (1999a): Eurobarometer 52. Brüssel
EU-Kommission (1999b): Reflections on European Identity (Working Paper). Brüssel
Fuchs, Dieter (1998): The Political Culture of Unified Germany. In: Discussion Paper FS III, Berlin: Wissenschaftszentrum
Gaffney, John/ Kolinsky, Eva (1991): Political Culture in France and Germany, London/ New York: Routledge
Gaffney, John (1991): French Political Culture and Republicanism. In: Gaffney/ Kolinsky, a.a.O.
Gallo, Max (1997): Forgetting the Nations: A Dangerous Mirage. In: J. Peter Burgess (Hrsg.) (1997): Cultural Politica and Political Culture in Postmodern Europe (= Postmodern Studies 24). Amsterdam: Rodopi.
Jablonski, Andrzej W./Meyer, Gerd (1996): The Political Culture of Poland in Transition, Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego
Jablonski, Andrzej W. (1996): Politics of Virtue Versus Politics of Interest: the Political Culture of Poland in the Era of Systemic Transition. In: Jablonski/ Meyer, a.a.O.
Jansen, Thomas (1999): European Identity and/ or the Identity of the European Union. In: EU-Kommission (1999b), a.a.O.
Jesse, Eckhard (1997): Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
Karlsson, Ingmar (1999): How to Define the European Identity Today and in the Future? In: EU-Kommission (1999b) a.a.O.
Keman, Hans (1997): Approaches to the Analysis of Institutions. In: Streunenberg, Bernard/ van Vught, Frans (1997): Political Institutions and Public Policy. Perspectives on European Decision Making. Dordrecht/ Boston/ London: Kluwer Academic Publishers
Koestler, Nora (1996): Historical Anniversaries in Polish Political Culture: Remembering as a Perspective for the Future. In: Jablonski/ Meyer, a.a.O.
Kolinsky, Eva (1991): Socio-Economic Change and Political Culture in West Germany. In: Gaffney/ Kolinsky, a.a.O.
McDonald, Maryon (1999): European Identity - an Anthropological Approach. In: EUKommission (1999b), a.a.O.
McMillan, James (1997): France. In: Eatwell, a.a.O.
Meyer, Gerd (1996): Towards a Political Sociology of Postcommunism: the Political Cultures of East Central Europe on the Way to Democracy. In: Jablonski/ Meyer, a.a.O.
Olechowski, Andrzej (1992): Polen und Deutsche im Prozess der Europäischen Integration. In: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (1992):Deutschland und Polen im veränderten Europa (= Arbeitspapiere zur internationalen Politik 75), Bonn: Europa-Union
Schimmelfennig, Frank (1996): International Relations and Political Culture: International Debate and Transition to Democracy in Poland. In: Jablonski/ Meyer, a.a.O.
Schneider, Heinrich (1999): The Dimensions of the Historical: a Cultural Core of a European Identity. In: EU-Kommission (1999b), a.a.O.
Soares, Mario (1999): European Identity and Political Experience. In: EU-Kommission (1999b), a.a.O.
Sontheimer, Kurt (1999): So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München: Beck
Stephan, Rüdiger (1999): L'identité européenne comme engagement transnational dans la societé. In: EU-Kommission (1999b), a.a.O.
Szajkowski, Bogdan (1997): Poland. In: Eatwell, a.a.O.
Wehling, Hans-Georg (1996): A Historical and Regionalist Approach: National and Regional Dimensions of Polish Political Culture. In: Jablonski/ Meyer, a.a.O.
Zimmermann, Ekkehard (1997): Germany. In: Eatwell, a.a.O.
- Arbeit zitieren
- Jordan, Anne (Autor:in), 2001, Einheit in Vielfalt? Europäische Identität und politische Kultur, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/99359