Über 200 Jahre nach dem Wiener Kongress stellt sich die Frage nach seiner Bedeutung für die heutige Staatenordnung Europas. Vor allem die Regelung der "deutschen Angelegenheiten", zusammengefasst als "die Deutschlandfrage", steht in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt. Die Interessen der europäischen Staaten und deren Verhandlungsstrategien auf dem Wiener Kongress werden untersucht und beurteilt. Mithilfe eines Vergleichs von Sekundärliteratur sollen die Positionen der Mächte auf dem Wiener Kongress rekonstruiert und analysiert werden.
Die Relevanz des Wiener Kongresses für die neuere Geschichtsforschung wird als immer wichtiger erachtet. Zunächst nur als Übergang zwischen dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und dem deutschen Kaiserreich angesehen, gewinnt der Deutsche Bund als Produkt des Wiener Kongresses immer mehr an Bedeutung für die Untersuchung der Entstehung deutschen Staatlichkeit.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlagen der „Deutschen Angelegenheiten“
2.1 Leitprinzipien des Gesamtkongresses
2.2 Das Deutsche Komitee
2.3 Lösungsmodelle der Deutschlandfrage
3. Die Interessen und Intentionen der Staaten
3.1 Die deutschen Großmächte
3.1.1 Kaiserreich Österreich
3.1.2 Königreich Preußen
3.1.3 Kurfürstentum Hannover
3.2 Die deutschen Mittelstaaten
3.2.1 Königreich Bayern
3.2.2 Königreich Württemberg
3.3 Die Randmächte
3.3.1 Frankreich
3.3.2 Russland
4. Der Deutsche Bund
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nach 22 Kriegsjahren auf dem europäischen Kontinent wurde im Mai 1814 auf dem Pariser Friedensvertrag der Artikel 32 verabschiedet: Innerhalb zweier Monate werden alle Mächte, die auf der einen oder anderen Seite an dem gegenwärtigen Krieg teilgenommen haben, Bevollmächtigte nach Wien schicken, wo auf einem allgemeinen Kongreß die Abmachungen getroffen werden sollen, welche zu Vervollständigung der Bestimmungen dieses Vertrages nötig sind. 1
Der Wiener Kongress beginnt am 1.Oktober 1814 in Wien und dauert acht Monate bis zur Unterzeichnung der sogenannten Schlussakte am 9. Juni 1815. Geleitet durch die vier Hauptmächte Österreich, Preußen, England und Russland war das Ziel des Kongresses die Neudefinition der staatlichen Einflussgebiete nach den napoleonischen Befreiungskriegen und die Wiederherstellung des sogenannten „Europäischen Gleichgewichts“ unter den Prinzipien der Legitimität und Souveränität.2
Über 200 Jahre nach dem Wiener Kongress stellt sich die Frage nach seiner Bedeutung für die heutige Staatenordnung Europas aber auch nach seinem Stellenwert in den verschiedenen Jahrzehnten der neueren Geschichtsforschung. Vor allem die Regelung der „deutschen Angelegenheiten“, zusammengefasst als „die Deutschlandfrage“, steht in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt. Die Beurteilung der Interessen der europäischen Staaten und deren Verhandlungsstrategien auf dem Wiener Kongress werden untersucht und analysiert.
Mithilfe eines Vergleichs von Sekundärliteratur sollen die verschiedenen Positionen der Autoren in Bezug auf die Politik auf dem Wiener Kongress beurteilt werden, im Vordergrund stehen die Werke:
- Burg, Peter: Der Wiener Kongreß. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem, München 1984.
- Dyroff, Hans-Dieter: Der Wiener Kongreß 1814/15. Die Neuordnung Europas, München 1966.
- Gruner, Wolf D.: Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014.
2. Grundlagen der „Deutschen Angelegenheiten“
2.1 Leitprinzipien des Gesamtkongresses
Im Mittelpunkt des Wiener Kongresses 1814/15 stand vor allem die Neuordnung Europas nach der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft, eine erneute französische Hegemonie sollte verhindert werden.3 Die Kongresspolitik wurde maßgeblich durch machtpolitische Interessen und dem sogenannten „Grundsatz der Restauration“ bestimmt, demnach sollte ein bestehender Staat nicht ohne zwingenden Grund ausgelöscht werden und eine alte Dynastie nicht aus ihrem Stammland vertrieben oder enteignet werden.4 Ein weiteres Prinzip war der Gleichgewichtsgedanke5 und das Pentarchie-System.6 Am stärksten von diesen Leitgedanken überzeugt waren die Vertreter Österreichs und Großbritanniens.7
Um den Frieden auf dem Kontinent zu erhalten, sollte Frankreich nicht durch Gebietsabtrennungen geschwächt werden und so seinen Staus als Großmacht behalten, um Unruhen zu vermeiden. So wurde die Abtretung der Gebiete Elsass und Lothringen, die die deutschen Patrioten forderten, nicht verabschiedet. Gleichzeitig sollte das Zarenreich Russland durch die Verhinderung der Angliederung Gesamtpolens geschwächt werden, um eine russische Hegemonie über Europa zu verhindern. Preußen sollte als Bollwerk zwischen den beiden Randmächten fungieren und erhielt seinen, in den napoleonischen Kriegen verlorenen, Großmachtstatus zurück.8
Diese Leitgedanken führten während der Verhandlungen auf dem Kongress immer wieder zu Konflikten zwischen den Allianzmächten.9
2.2 Das Deutsche Komitee
Im Deutschen Komitee, einer Unterkommission des Wiener Kongresses10, sollten die „deutschen Angelegenheiten“ geklärt werden. Dabei wurde Frankreich gezielt ausgeschlossen, denn zu groß waren die Bedenken, dass eine französische Hegemonie durch die traditionelle französische Deutschlandpolitik, die clientèle, wieder an Macht gewann.11 Im Vordergrund stand die Umsetzung des im Pariser Friedensvertrag beschlossenen „föderativen Band“ mit dem die deutschen Staaten geeinigt werden sollten.12 Zunächst in einem Gremium aus Preußen, Österreich und Hannover als Vertreter der dritten deutschen Großmacht Großbritannien, bildete das Deutsche Komitee eine unverfängliche Kommission zur Beratung der Deutschlandfrage. Später wurden die süddeutschen Mittelstaaten Bayern und Württemberg in der Kommission ergänzt.13 Eines der Hauptziele war es den deutschen Staatenraum frei von französischem und auch russischem Einfluss zu halten.14
2.3 Lösungsmodelle der Deutschlandfrage
Die Stabilisierungs- und Ausgleichsfunktion des Deutschen Bundes für das Gesamtsystem Europa sollte durch das „föderative Band“ der neuen Verfassung gesichert werden. Der Zusammenhalt der deutschen Staaten sollte die europäische und die deutsche Funktion des Staates unterstützen.15
Im wesentlichem wurden drei Lösungsansätze für die Deutschlandfrage durch Gruner entwickelt:
1. Die Wiederherstellung eines reformierten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation mit der Kaiserwürde in der Hand des österreichischen Hauses Habsburg. Eine straffere Organisationsform und größere Kompetenzen für die Reichsorgane: Kaiser, Zentralverwaltung und Reichstag, sollte die alte Reichsordnung wieder funktionsfähig machen.
Von den Staaten des ehemaligen Rheinbundes wurde diese Lösung eher kritisch angesehen. Sie lehnten die habsburgische Herrschaft ab, um ihre nach 1806 erlangte Souveränität nicht einzuschränken. Insgesamt wurde dieser Lösungsvorschlag sehr divers diskutiert, die mögliche einer Bildung österreichischen Hegemonie war nach den Erfahrungen mit der französischen Herrschaft über Europa sehr negativ angesehen.16
2. Ein weiterer Ansatz war eine Doppelherrschaft Österreichs und Preußens über die deutsche Staatenwelt, dabei sollte der Main die Interessensphären der beiden deutschen Großmächte abgrenzen. Bei dem Vorschlag handelt es sich jedoch um ein scheinföderatives Modell, ein verschleiertes Kondominium sollte die Macht Preußens und Österreichs sichern und den Antagonismus zwischen den beiden Staaten überwinden. Für die souveränen deutschen Mittelstaaten war diese Lösung nicht hinnehmbar.17
3. Als dritter Vorschlag wurde eine bündische Lösung angeführt, diese wurde in mehreren Varianten zwischen staatenbündischen und bundesstaatlichen Varianten diskutiert. Durch den Einbezug der aktuellen Transformationsprozesse und Entwicklungen bildete dieser Vorschlag eine für alle Staaten angemessene Lösung für die Nachfolgeorganisation des Alten Reiches. Berücksichtigt wurde zudem die historische, landschaftliche und kulturelle Vielfalt der deutschen Staatenwelt, der ein hohes Entwicklungspotenzial zugeschrieben wurde. Für die erfolgreiche Umsetzung dieses Vorschlages musste jedoch eine dauerhafte Kooperation der deutschen Großmächte Preußen und Österreich gebildet werden, an der viele andere europäische Staaten zweifelten.18
Diese vorgestellten Modelle werden lediglich durch Gruner vertreten, Dyroff und Burg bieten keine vergleichbaren Ansätze.
3. Die Interessen und Intentionen der Staaten
3.1 Die deutschen Großmächte
3.1.1 Kaiserreich Österreich
Das Kaiserreich Österreich wurde auf dem Wiener Kongress durch seinen Außenminister Fürst Clemens Metternich und den Diplomaten Freiherr von Wessenberg vertreten.19
Die Position Metternichs als Hauptverhandelnder Österreichs ist nicht eindeutig zu klären. Die Darstellungen in der Literatur zeigen verschiedene Ansatzpunkte. Burg bezieht sich vor allem auf den Standpunkt Metternich, der für die Eindämmung der bürgerlichen Emanzipation und die Erhaltung des ständisch gegliederten Unterbaus zur Stärkung der monarchischen Autorität plädiert haben soll.20
Gruner geht vor allem auf die politischen Grundlinien Metternichs ein. Dieser war ein Fürsprecher des Gleichgewichtsgedanken und des Pentarchie-Systems. Zur Erhaltung der Balance of Power sollte die Bildung eines Kondominiums mit Preußen dienen. Dabei handelte es sich um eine Verschleierung der formalen Teilung Deutschlands entlang des Mains zwischen Preußen und Österreich. Die föderative Ordnung sollte so gewahrt werden.21 Österreich und Preußen hätten in dieser Teilung die gleiche Stellung innegehabt, Österreich besetzte die Ehrenposition des primus inter pares. Ziel war unter anderem aber auch die Bildung eines „größeren Österreichs“ in Zusammenarbeit mit Preußen.22 Der Plan zur Bildung einer österreichischen Hegemonie über den Deutschen Bund oder Gesamteuropa wird in der Literatur nicht weiter ausgeführt.
Dyroff führt den Vorschlag Metternichs an, auf eine Neuordnung Deutschlands mit der Einrichtung eines losen Staatengefüges zu verzichten.23 Auf Basis eines Systems von Verträgen und Allianzen mit einem Minimum an einheitsstaatlichen Einrichtungen sollten die Staaten ihre vollständige Souveränität wahren.24 Zudem nennt er die mögliche Bildung eines süddeutschen Blocks mit den süddeutschen Mittelstaaten Bayern und Württemberg durch einen Vorschlag Österreichs, dabei sollte ein Gegengewicht zum preußischen Norddeutschland gebildet werden.25 Österreich sprach sich zudem gegen die von Preußen vorgeschlagene Kreiseinteilung des Deutschen Reiches aus.26 Metternich äußerte den Vorschlag zur Einrichtung einer Bundesversammlung mit österreichischem Vorsitz.27 Zusätzlich wurde eine Kaiserwürde im Deutschen Bund durch das Haus Habsburg, so Dyroff, aufgrund von zu geringer Machtfülle abgelehnt.28 Metternich plädierte während des Wiener Kongresses immer wieder für die Aberkennung des Kriegs- und Bündnisrechts für Mitgliedsstaaten des Bundes ohne Gebiete außerhalb des zukünftigen Bundesgebiets, für die beiden deutschen Großmächte Preußen und Österreich bliebe diese Rechte also bestehen.29
[...]
1 Vgl. Dyroff, Hans-Dieter: Der Wiener Kongreß 1814/15. Die Neuordnung Europas, München 1966, S.18.
2 Vgl. Lentz, Thierry: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014 (Franz. 2013), S. 7.
3 Vgl. Burg, Peter: Der Wiener Kongreß. Der deutsche Bund im europäischen Staatensystem, München 1984, S. 52.
4 Vgl. Ebd. S. 54.
5 Gleichgewichtsgedanke: auch Balance of Powers, Schlüsselbegriff aus der Staatenpolitik und politischen Publizistik des 18. Jahrhunderts, Theorie nach der die zwischenstaatlichen Beziehungen nach dem mechanischen Prinzip des Gleichgewichts erklärt werden können. Ein Ruhezustand käme nur zustande, wenn sich die politisch-militärische Potenzen der Staaten genau ausgleichen würden. Vgl. Duchhardt, Heinz: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785, Paderborn u.a. 1997.(Handbuch für internationale Beziehungen), S. 11-12.
6 Pentarchie: Offenes System, das von einer Verflechtung der fünf stärksten Staaten des europäischen Kontinents ausgeht. Im 18. Jahrhundert ein fünfpoliges System aus den Staaten Großbritannien, Russland, Frankreich, Preußen und Österreich. Vgl. Duchhardt (1997), S.7-8.
7 Vgl. Burg (1984), S. 52.
8 Vgl. Ebd. S. 53.
9 Vgl. Ebd. S. 53.
10 Vgl. Gruner, Wolf D.: Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014, S. 83.
11 Vgl. Ebd. S. 82.
12 Vgl. Ebd. S. 83.
13 Vgl. Ebd. S. 84.
14 Vgl. Ebd. S. 83.
15 Vgl. Ebd. S. 40.
16 Vgl. Gruner (2014), S. 41.
17 Vgl. Ebd. S. 41-42.
18 Vgl. Ebd. S. 42-43.
19 Vgl. Dyroff (1966), S. 19
20 Vgl. Burg (1984), S. 52.
21 Vgl. Gruner (2014), S. 85
22 Vgl. Ebd. S. 86.
23 Vgl. Dyroff (1966), S. 102.
24 Vgl. Ebd. S. 99.
25 Vgl. Ebd., S.101.
26 Vgl. Dyroff (1966), S. 102.
27 Vgl. Ebd. S. 106.
28 Vgl. Ebd. S. 103.
29 Vgl. Ebd. S. 100.