In dieser Arbeit sollen ausführliche theoretische Überlegungen angestellt werden, welchen Einfluss ethnische Konzepte auf die Arbeit eines Sozialarbeiters haben. Diese werden dann mit konkreten Beispielen aus dem Alltag eines Schulsozialarbeiters belegt. Vor den Beispielen wird kurz auf die konkrete Arbeitssituation des Schulsozialarbeiters eingegangen werden – also auf dessen Träger, die Schule, an der er tätig war, mitsamt deren sozialem Umfeld im Wohngebiet.
Wie ein Ethnologe fremde Kulturen erforscht, muss ein Schulsozialarbeiter Jugendkulturen und die Lebenswelt seiner Schüler erforschen. Was eignet sich also besser, um Handlungsweisen für den Alltag des Schulsozialarbeiters abzuleiten, als in der Ethnologie entwickelte Konzepte? Sein professionelles Ich, seine Rolle und sein Verhältnis zu Schülern und Lehrern kann der Schulsozialarbeiter mit Hilfe ethnologischer Theorien besser verstehen und dadurch auch besser im Alltagsgeschäft bestehen.
Natürlich ist der Schulsozialarbeiter in seiner Funktion darauf ausgelegt, Einfluss zu nehmen. Er soll die Lebenswelt in der Schule nicht nur beobachten, er soll sie beeinflussen. In dem er Schüler und Lehrkräfte bei Problemen berät, die über das schulisch-fachliche hinaus gehen. Indem er Ansprechpartner ist, wenn jemand nicht weiterkommt. In dem er Mediator bei Konflikten ist.
Aber Basis für all das ist die Kenntnis der Lebenswelt von Schülern und Lehrern, des Schulalltags und der unterschiedlichen Jugendkulturen. Und genau das Erlangen dieser Kenntnis macht ihn auch zum Ethnologen. Wenn er die fremde "Kultur" nicht erforschen kann, kann er auch keinen Einfluss nehmen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Theoretische Überlegungen
2.1 Der Fremde
2.1.1 Michel de Montaigne
2.1.2 Georg Simmel
2.1.3 Alfred Schütz
2.2 Die dichte Beschreibung und die künstliche Dummheit
2.2.1 Clifford Geertz
2.2.2 Ronald Hitzler
2.3 Theoretisches Handwerkszeug
3. Die Situation des Schulsozialarbeiters
3.1 Der Träger
3.2 Die Schule und das Wohngebiet
4. Der Fremde an der Schule
4.1 Der neue Lehrer und der Fremde
4.2 Das kleine Mädchen und der Fremde
4.3 Die lauten Jungs und der Fremde
5. Schlussbetrachtung
6. Quellenverzeichnis
Disclaimer
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Fallaufgabe hauptsächlich die gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.
1. Einleitung
Wie ein Ethnologe fremde Kulturen erforscht, muss ein Schulsozialarbeiter Jugendkulturen und die Lebenswelt seiner Schüler erforschen. Was eignet sich also besser, um Handlungsweisen für den Alltag des Schulsozialarbeiters abzuleiten, als in der Ethnologie entwickelte Konzepte? Sein professionelles Ich, seine Rolle und sein Verhältnis zu Schülern und Lehrern kann der Schulsozialarbeiter mit Hilfe ethnologischer Theorien besser verstehen und dadurch auch besser im Alltagsgeschäft bestehen.
Natürlich ist der Schulsozialarbeiter in seiner Funktion darauf ausgelegt, Einfluss zu nehmen. Er soll die Lebenswelt in der Schule nicht nur beobachten, er soll sie beeinflussen. In dem er Schüler und Lehrkräfte bei Problemen berät, die über das schulisch-fachliche hinaus gehen. Indem er Ansprechpartner ist, wenn jemand nicht weiterkommt. In dem er Mediator bei Konflikten ist.
Aber Basis für all das ist die Kenntnis der Lebenswelt von Schülern und Lehrern, des Schulalltags und der unterschiedlichen Jugendkulturen. Und genau das Erlangen dieser Kenntnis macht ihn auch zum Ethnologen. Wenn er die fremde „Kultur“ nicht erforschen kann, kann er auch keinen Einfluss nehmen.
Im Folgenden sollen nun ausführliche theoretische Überlegungen angestellt werden. Diese werden dann mit konkreten Beispielen aus dem Alltag eines Schulsozialarbeiters belegt. Da der Autor selbst Schulsozialarbeiter war, sind die Beispiele aus einem Alltag. Vor den Beispielen wird deshalb auch noch kurz auf die konkrete Arbeitssituation des Schulsozialarbeiters eingegangen werden – also auf dessen Träger, die Schule, an der er tätig war, mitsamt deren sozialem Umfeld im Wohngebiet. Da der Autor männlich ist und er beim Schreiben sein eigenes Erleben vor Augen hat, wird auch hauptsächlich die männliche Form von Schulsozialarbeiter verwendet, es sei denn es geht um eine konkrete weibliche Kollegin. Die Aussagen zur Tätigkeit des Schulsozialarbeiters gelten jedoch für jede*n Schulsozialarbeiter*in.
2. Theoretische Überlegungen
Um Funktion und Handlungen eines Schulsozialarbeiters zu analysieren, aber auch um als Schulsozialarbeiter Handlungsleitfäden zu haben, können mehrere Konzepte und Sichtweisen aus der der Ethnologie hilfreich sein. Da der Schulsozialarbeiter meist nicht direkt an der Schule beschäftigt ist, sondern über einen anderen Träger an die Schule kommt, ist er ja keine originär dem System Schule „eingeborene“1 Person. Weiterhin ist er auch den Gruppen der Jugendlichen nicht zugehörig, er kommt immer von außen in sie hinein. Somit eignen sich Konzepte, die sich mit der Situation des Fremden auseinandersetzen, besonders gut. Hierfür sollen im Folgenden die Betrachtungen des Fremden durch Michel de Montaigne, Georg Simmel und Alfred Schütz besprochen werden. Weiterhin liefern Clifford Geertz' Dichte Beschreibung und Ronald Hitzlers Künstliche Dummheit zwei Handlungskonzepte aus der Ethnologie, die auch in der Sozialen Arbeit hilfreich sein können; deswegen werden diese beiden Werke im Weiteren genauer betrachtet. Als Schlussbetrachtung des theoretischen Teils wird der Versuch unternommen, eine Art methodischen Leitfaden, ein theoretisches Handwerkszeug2 für das Handeln des Schulsozialarbeiters heraus zu destillieren.
2.1 Der Fremde
Das Bild des Fremden und der Umgang mit Fremdheit wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Fokus unterschiedlichster Betrachtungen. Die erwähnten Sichtweisen von Michel de Montaigne, Georg Simmel und Alfred Schuetz sollen hier genauer dargelegt und darauf analysiert werden, inwiefern sie zum Handeln des Schulsozialarbeiters beitragen können. Den Umgang mit dem Fremden bei Montaigne hat Julia Kristeva in ihrem Werk Fremde sind wir uns selbst3 schon wunderbar verdichtet, an diese Ausarbeitung wird die Betrachtung von Montaignes Essais sich weitgehend anlehnen. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden bei Georg Simmel sowie Alfred Schütz wird am jeweiligen Originaltext geschehen.
2.1.1 Michel de Montaigne
Der vor allem mit seinen Essais 4 (und damit gleich für die Begründung einer Literaturgattung)5 berühmt gewordene Michel de Montaigne (geboren 1533 auf Schloss Montaigne, gestorben 1592 ebenda) setzt sich in ebendiesen auch mit dem Fremden und der Fremdheit auseinander. Er gelangt zu seinem Bild des Fremden über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Für ihn ist der Mensch nicht konstant über der Zeit, ist keine unbewegliche ontologische Einheit, sondern vielmehr ein Prozess, ein Konstrukt, das ständiger Veränderung unterworfen ist.6 Man könnte dies vielleicht mit Heraklits „in dieselben Flüsse steigen und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht“7 beschreiben. Und weil sich für Montaigne auch das Ich im stetigen Fluss befindet ist ein jeder sich selbst immer fremd. Das Ich von gestern ist ein anderes als das von heute, ist ein anderes als das von morgen. Durch diese „befremdete“ Selbstbetrachtung muss das Ich fernab von Gut und Böse gesehen werden.8 Das Selbstbild darf nicht nur durch fremdes Wissen konstruiert sein, ein Konstrukt „dessen, was die Hirne anderer ausgeheckt haben, Gefangene und Sklavin von deren Lehrautorität“9. Sehr oft seien Personen außerdem damit beschäftigt, ihr eigenes Selbstbild zu veräußern: „Statt zu versuchen, andere kennenzulernen, sind wir bloß darauf aus, daß sie uns kennenlernen“10. Es gelte jedoch erst mal sich selbst kennenzulernen und nicht ein oberflächliches Selbstbild zu veräußern.
Diese Geisteshaltung der Selbstexploration überträgt Montaigne nun auf den Umgang mit dem Fremden. Da das eigene Ich in seiner Fremdheit trotzdem wertneutral betrachtet wird, muss dies auch mit dem anderen, dem „Fremden“ geschehen. Somit darf keine Bewertung in Gut und Böse bei der Betrachtung Fremder vorgenommen werden, es dürfen nicht die eigene Kultur und die eigenen Eigenarten über die anderer gestellt werden. In seiner Betrachtung fremder Völker geht er teils sogar so weit, dass sich zwar schon eine Vorwegnahme von Rousseaus Edlem Wilden11 (die ja eine negative Sicht auf die zivilisatorischen Einflüsse der okzidentalen Gesellschaften beinhaltet und damit durchaus wertend agiert) erkennen lässt. So schreibt er beispielsweise: „Wir mögen die Menschenfresser [die vermeintlich primitiven Völker Anm. d. Autors ] also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, nicht aber nach Maßgabe unsres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen“12. Doch trotz dessen bleibt Montaigne erstaunlich wertneutral. Er fühlt sich eher eingeladen die Welt zu erkunden, von der Erforschung des Ich aus weitergehend die Welt zu erkunden. Und fernab wertender Kategorien, ausgestattet mit einem feinen Sinn für Ironie, die Erfüllung im staunenden Fragen und erkunden zu sehen. Das freie Erkunden des Selbst und der Welt erscheint bei ihm als erfüllend: „Der sicherste Stempel der Weisheit ist ein stetes Vergnügtsein“.13
2.1.2 Georg Simmel
Der 1858 in Berlin geborene und 1918 in Straßburg verstorbene Philosoph und Soziologe Georg Simmel hat in seinem 1908 erschienen Werk Soziologie ein Kapitel Exkurs über den Fremden 14 betitelt, das immer noch als eines der wichtigen Werke in der Migrationssoziologie gilt.15 In diesem Kapitel stellt Simmel die Frage was den Fremden ausmacht und in welchem Verhältnis er zu seiner Umwelt steht. Das beste Beispiel eines Fremden ist für ihn der Händler. Dieser ist nicht „der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern […] der, der heute kommt und morgen bleibt.“16 Er ist also jemand von „außerhalb“, der sich eine Position im „innerhalb“ schaffen muss. Und da er sich diesen Platz schaffen muss ist er kein Teil außerhalb der Gruppe, sondern ein Teil der Gruppe. Es geht vielmehr um die Position, die der Fremde in der Gruppe einnimmt, um sein Verhältnis zu den Gruppenmitgliedern und den Arten von Nähe und Distanz, die zwischen ihm und den anderen Gruppenmitgliedern vorherrschen. Simmel bringt immer wieder zum Ausdruck, dass der Fremde nicht ein Fremdkörper ist, sondern dass er vielmehr eine Bereicherung für die Gruppe ist. Er ist kein störendes Element, sondern jemand, der neues in die Gruppe einbringt und somit zu ihrer Entwicklung beiträgt (womit natürlich der Händler ein perfektes Beispiel für den Fremden ist, denn dieser bringt ja ganz materiell etwas von außen ein, das zur Bereicherung der Gruppe beiträgt bzw. für sie einen positiven Nutzen birgt). Was der Fremde an nicht materiellem beisteuert ist für Simmel seine Objektivität.17 Da er nicht aus der Gruppe heraus festgelegt ist und gewissen, aus der Gruppe gewachsenen, Zwängen nicht unterworfen ist, kann er viele Situationen objektiver Beurteilen als die der Gruppe „eingeborenen“ Mitglieder. Als besonderes Beispiel hierfür nennt er italienische Städte, deren Richter außerhalb der Stadt rekrutierten, da nur so zu gewährleisten war, dass die Richter nicht nach familiären Beziehungen, sondern nach dem Recht urteilten.18
Diese Objektivität ist für ihn „keineswegs Nicht-Teilnahme […] sondern eine positiv-besondre Art der Teilnahme“19. Der Fremde sei in der Lage, zuzuhören und Rat zu geben, aus einer Warte heraus, die den anderen Gruppenmitgliedern verwehrt sei. Der Fremde habe in dieser Objektivität also eine Art Freiheit, die er der Gruppe zu Gute kommen lassen kann. Weiterhin kann jeder Einzelne eine besondere Art von Nähe und Vertrautheit zum Fremden aufbauen. Denn, die Ähnlichkeiten, die man mit ihm teilt, sind nicht nur die allgemeinen, die einen mit vielen Verbinden, sondern es sind spezielle, die damit auch ein ganz spezielles Band formen. So ist der Fremde in der Lage, einem Näher zu sein als der „Bekannte“.20
Abschließend lässt sich festhalten, dass Simmel ein nahezu durchwegs positives Bild des Fremden zeichnet. Lediglich die Möglichkeit, dass der Fremde als Sündenbock herhalten muss, wird von ihm negativ erwähnt21 – dies ist jedoch keine dem Fremden eigene, negative Qualität. Der Fremde ist für ihn sonst eine rein positive Erweiterung jeder Gruppe, seine Teilnahme bietet verschiedenste Chancen und Möglichkeiten für jede Gruppe.
2.1.3 Alfred Schütz
Der 1899 in Wien geborene und 1959 in New York City verstorbene Alfred Schütz gilt als Begründer der phänomenologischen22 Soziologie. Auch er setzte sich mit der Situation des Fremden in dessen sozialem Kontext auseinander. Betrachtet Simmel den Fremden vor allem daraufhin, was er der neuen Gruppe Positives beisteuern kann, setzt sich Schütz in seinem Aufsatz Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch23 jedoch mehr mit denjenigen Leistungen auseinander, die der Neuzugang zu erbringen hat, um sich in einer neuen Gruppe einzufinden.
Er schreibt, für das Handeln in einem sozialen Kontext ist Wissen notwendig. „Der Handelnde in der sozialen Welt erlebt sie […] primär als ein Feld seiner aktuellen und potentiellen Handlungen“24 Daraus folgt für Schütz, dass der Handelnde, wenn „er an Kenntnis seiner sozialen Welt interessiert ist, […] er diese Kenntnis nicht in Begriffen eines wissenschaftlichen Systems, sondern in Begriffen der Relevanz für seine Handlungen“25 organisiert. Benötigt wird „ein graduelles Wissen der relevanten Elemente, wobei der Grad des gewünschten Wissens der Relevanz der Elemente entspricht“26. Für Schütz ist dieses Alltagswissen (er schlüsselt es noch genauer nach „‘Bekanntheitswissen‘ und ‚Vertrautheitswissen‘“27 auf) gekennzeichnet durch eine große Unschärfe. Es ist inkohärent, inkonsistent der „Mensch des Alltagslebens“28 nur teilweise an dessen Klarheit interessiert.29 Doch für Mitglieder der Gruppe sei diese geringe Schärfe ausreichend, um eine Kommunikationsbasis zu haben, „Rezepte“30 (Kulturtechniken, Handlungsweisen, Interpretationsmuster), um mit der sozialen Alltagswelt umzugehen. Diese Rezepte gelten jedoch nur unter den Voraussetzungen, dass: 1. „das Leben und insbesondere das soziale Leben weiterhin immer so sein wird, wie es gewesen ist; […] 2. daß wir uns auf das [tradierte] Wissen verlassen können; […] 3. daß […] es genügt, etwas über den allgemeinen Typus oder Stil der Ereignisse [in unserer Lebenswelt zu wissen, um sie zu kontrollieren]“31 und 4., dass diese Rezepte eine vom sozialen Umfeld akzeptierte Allgemeingültigkeit haben.32
Für den Fremden, der mit anderen Voraussetzungen in eine neue Gruppe kommt, gibt es diese „Rezepte“ also nicht – beziehungsweise er hat andere Rezepte aus einer anderen sozialen Welt. Das führt dazu, dass der Fremde Fragen an das Alltägliche stellt; er das Alltägliche in Frage stellt. Um in der neuen Gruppe zu bestehen, versucht er deren Muster und Rezepte zu verstehen, er ist bestrebt, sich „vom unbetroffenen Zuschauer zu einem Möchtegernmitglied der Gruppe […] zu wandeln“33. Sein Bild von der fremden Gruppe fängt daraufhin an sich zu wandeln, denn war es früher dazu da, um über die Gruppe zu reden (in seiner alten Heimat), benötigt er nun ein Bild, welches ihm ermöglicht in der Gruppe zu reden.34 Dabei muss er feststellen, dass Dinge von innen häufig sehr anders aussehen können als von außen, dass alte Schemata nicht ohne weiteres auf eine neue Gruppe übertragen werden können. Deshalb muss er neue Muster in ihm bekannte übersetzen, dabei jedoch mit „fundamentalen Brüchen rechnen, wie man [in der neuen Gruppe] Dinge sieht und Situationen behandelt“35.
Schütz vergleicht das „Sich-Einfinden“ in einer neuen Gruppe mit dem Erlernen einer neuen Sprache. Zunächst beginnt der Lernende, die Sprache lesend und hörend zu verstehen. Erst danach fängt er an, sich auch selbst in der neuen Sprache ausdrücken zu können. Doch erst im aktiven Gebrauch lernt man, verschiedene Sinnebenen, Idiome, Konnotationen und ähnliche Feinheiten einer Sprach zu verstehen und zu benutzen. Und dieser Prozess benötigt einen gewaltigen Zeitraum, und die neue Sprache wird dem Fremden nie zur Heimatsprache werden, somit wird auch der Fremde nie „eingeborenes“ Mitglied der neuen Gruppe. Es wird immer wieder Situationen geben, in denen ihm die notwendigen Rezepte fehlen, um rein intuitiv und mit einer Art von schlafwandlerischer Sichergeit durch sie hindurch zu gehen.36
Und aufgrund dieser Situation, in der sich der Fremde befindet, muss er sich selbst sowie die zivilisatorischen Handlungsmuster permanent Hinterfragen. Er wird immer Probleme haben, genau zu sehen, was typisch und was speziell ist, welche Muster nur zu einem Individuum und welche zu seinem kulturellen Bezugssystem gehören.
Somit ist für Schütz der Fremde ein Reflexionsinstrument. Aus der Notwendigkeit heraus ist der Fremde in der Situation, ein kulturelles oder soziales System dauerhaft zu analysieren und damit auch in der Lage, ein solches System zu reflektieren. Bis zu dem Moment, in dem er alle Muster internalisiert hat und damit selbst nur ein weiterer Teil der Gruppe geworden ist.
2.2 Die dichte Beschreibung und die künstliche Dummheit
Die Werke von Clifford Geertz und Ronald Hitzler wirken auf den ersten Blick widersprüchlich. Scheint der eine auf eine möglichst große Fülle an Information zu setzen, ist dem anderen vermeintlich das gezielte Nichtbeachten von Informationen wichtig. Um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, sollen hier beide Gedanken kurz erläutert werden.
2.2.1 Clifford Geertz
In Geertz Werk Dichte Beschreibung 37 geht es vermeintlich darum, sehr viele gesammelte Daten „richtig“ zu interpretieren. So ist es für ihn unerlässlich, möglichst viel Hintergrundwissen über eine Kultur zu sammeln, um Auffälligkeiten und Besonderheiten interpretieren zu können. So schreibt er: „Ohne Kenntnis der balinesischen Theatralik ist lek [eine Besonderheit der balinesischen Lebenswelt Anm. d. Autors ] ebenso wenig zu verstehen wie ein Elfmeter, wenn man Fußball nicht kennt. Und wie man umgekehrt nicht verstehen kann, was eine mosaikartige soziale Organisation ist, wenn man nicht weiß, was eine nisba [ein arabischer Begriff, der unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten von Personen aus Marokko umschreibt Anm. d. Autors ] ist, kann man Keats‘ Platonismus nicht verstehen, wenn man, in Spitzers Worten, den ‚geistigen Faden‘ nicht begreift, der sich in Kürzeln ‚Attische Form‘, ‚schweigsame Form‘, […] verbirgt.“38 Für ihn erfolgt Erkenntnis über eine Gruppe/ Kultur also dadurch, dass Information in ein Netzwerk anderer Informationen eingebettet wird. Dies erinnert stark daran, wie später von Neil Postman in seinem Werk Die Zweite Aufklärung 39 Wissen beschrieben wird. Dieser spricht von Informationen als losgelösten Fragmenten und Wissen als Verknüpfung verschiedener Informationen. Man kann also Festhalten, dass Geertz versucht einen Rahmen zu stecken, in dem Informationen interpretiert werden können.
[...]
1 Der Begriff „eingeboren“ soll hier losgelöst von der negativ wertenden Konnotation des „Eingeborenen“ verwendet werden. Er beschreibt hier lediglich eine einer Gruppe zugehörige, in ihr sozialisierte Person.
2 Handwerkszeug: bei der Ausübung eines Handwerks benötigtes Werkzeug. [ Definition lt. Duden ]
3 Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M. 1990.
4 Montaigne, Michel de: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a.M. 1998.
5 Siehe Beispielsweise: Pinkernell, Gert: Michel Eyquem, seigneur de Montaigne. [URL: http://www.gert-pinkernell.de/romanistikstudium/Internet1.htm] Stand: 10.7.2019
6 Vgl. Kristeva 1990, S.130
7 Mansfeld, Jaap: Die Vorsokratiker 1. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1999. S. 273
8 Vgl. Kristeva 1990, S.131
9 Montaigne 1998, S. 235
10 Montaigne 1998, S. 240
11 Vgl. Kristeva 1990, S.132
12 Montaigne 1998, S. 326
13 Montaigne 1998, S. 251
14 Simmel, Georg: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig 1908. S. 685–691. [URL: https://archive.org/details/soziologieunters00simmrich/page/684.] Stand: 13.7.2019
15 Vgl. beispielsweise: Merz-Benz, Peter-Ulrich; Wagner, Gerhard (Hrsg.): Der Fremde als sozialer Typus. Konstanz 2002.
16 Simmel 1908, S. 685
17 Vgl.: Simmel 1908, S. 687
18 Vgl.: Simmel 1908, S. 687
19 Simmel 1908, S. 687
20 Vgl. Simmel 1908, S. 689
21 Vgl. Simmel 1908, S. 688
22 Phänomenologie im Sinne Husserls oder Bergsons.
23 Schütz, Alfred: Der Fremde. In: Alfred Schütz. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag 1972. S.53-69
24 Schütz 1972, S. 55
25 Schütz 1972, S. 55
26 Schütz 1972, S. 55
27 Schütz 1972, S. 56
28 Schütz 1972, S. 55
29 Vgl. Schütz 1972, 56f.
30 Schütz 1972, S. 58
31 Schütz 1972, S. 58f.
32 Vgl. Schütz 1972, S. 59
33 Schütz: 1972, S. 60
34 Vgl. Schütz 1972, S. 61
35 Schütz 1972, S. 63
36 Vgl. Schütz 1972, S. 65
37 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Frankfurt a.M. 1987.
38 Geertz 1987, S. 308
39 Vgl.: Postman, Neil: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert. Berlin 1999. S.105-125.