Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, das psychoanalytische Verständnis der Religion Sigmund Freuds und Donald W. Winnicotts vorzustellen. Besonders geht es um die Frage, welche Rolle die Autoren der Illusion zukommen lassen. Die Konzeptionen unterscheiden sich wohl nicht zuletzt wegen ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit grundsätzlich voneinander. Freuds zentrale Religionsschrift "Die Zukunft einer Illusion" (GW XIV, 1927) erschien vier Jahre nach dem Ausbruch seiner Krebserkrankung, welche ihn vermutlich für die Themen der Religion wie Endlichkeit und Trost sensibilisierte. Die Ansichten Winnicotts zur Religion sind nicht in einer einzigen Schrift zusammengefasst, deren Entstehungsgeschichte zeigt allerdings zeitliche sowie inhaltliche Nähe zum aufkommenden Humanismus in der Psychologie der 50er und 60er Jahre.
Beide Positionen verbindet die Ansicht, dass die Religion grundsätzlich eine Illusion sei. Der Umgang mit ihr und ihr Stellenwert ist jedoch bei den beiden Autoren zutiefst verschieden. Es ergeben sich zwei gegensätzliche Ansichten: Einerseits die Illusion der Religion als Teil eines wunscherfüllenden falschen Bewusstseins. In dieser Position Freuds schwingt die Frage nach Wahrheit und Falschheit religiöser Inhalte mit. Andererseits die Position Winnicotts, der die Illusion religiöser Erlebnisse auf dieselbe Stufe stellt, die er der Illusion der Kunst und den damit einhergehenden Genussmöglichkeiten zuordnet. Während Freud die Religion zu überwinden und durch die Wissenschaft als Glaubenssystem zu ersetzen versucht, stößt er bei vielen Anti-Säkularisten in den Reihen der Psychoanalytiker auf Protest.
Die Argumentation und Leseart Joel Whitebooks (2014) der Schrift "Die Zukunft einer Illusion" rekonstruiert einen wichtigen Kern des Freud'schen Projekts Psychoanalyse: Dachte man lange, die besagte Schrift hätte kaum einen neuen nennenswerten Gehalt für die psychoanalytische Arbeit, so rekonstruiert Whitebook den Kampf gegen die Magie und die Allmacht der Gedanken nicht nur als einen Gehalt der Freud'schen Religionskritik sondern der Psychoanalyse im Allgemeinen. Dies steht scheinbar unvereinbar der Theorie Winnicotts gegenüber, der den privaten Illusionen gar einen eigenen Raum zur Entlastung des Individuums zugesteht. Dieser Sachverhalt und die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Psychoanalyse am Beispiel der Religion sollen am Ende dieser Arbeit diskutiert werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
2 Freud: Die Religion als Illusion - über das Verhältnis von Religion, Subjekt und Kultur
1.1 Ananke, Hilflosigkeit, Endlichkeit: Was ist hier reif?
1.2 Wissenschaft vs. Religion
2 Winnicott: Religion weder subjektiv noch objektiv?
2.1 Übergangsobjekte und Übergangsphänomene
2.2 Lebenslanges Spielen: Ein Übergangsraum
2.3 Ursprünge der Kultur: Religion im Übergangsraum
3 Diskussion: Anspruch auf Wahrheit? Über den Umgang mit der (religiösen) Illusion
Literaturverzeichnis
1 Einführung
Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, das psychoanalytische Verständnis der Religion Sigmund Freuds und Donald W. Winnicotts vorzustellen. Besonders geht es um die Frage, welche Rolle die Autoren der Illusion zukommen lassen. Die Konzeptionen unterscheiden sich wohl nicht zuletzt wegen ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit grundsätzlich voneinander. Freuds zentrale Religionsschrift „Die Zukunft einer Illusion“ (GW XIV, 1927) erschien 4 Jahre nach dem Ausbruch seiner Krebserkrankung, welche ihn vermutlich für die Themen der Religion wie Endlichkeit und Trost sensibilisierte (Will, 2013, S. 177). Die Ansichten Winnicotts zur Religion sind nicht in einer einzigen Schrift zusammengefasst, deren Entstehungsgeschichte zeigt allerdings zeitliche sowie inhaltliche Nähe zum aufkommenden Humanismus in der Psychologie der 50er und 60er Jahre.
Beide Positionen verbindet die Ansicht, dass die Religion grundsätzlich eine Illusion sei. Der Umgang mit ihr und ihr Stellenwert ist jedoch bei den beiden Autoren zutiefst verschieden. Es ergeben sich zwei gegensätzliche Ansichten: Einerseits die Illusion der Religion als Teil eines wunscherfüllenden falschen Bewusstseins. In dieser Position Freuds schwingt die Frage nach Wahrheit und Falschheit religiöser Inhalte mit. Andererseits die Position Winnicotts, der die Illusion religiöser Erlebnisse auf dieselbe Stufe stellt, die er der Illusion der Kunst und den damit einhergehenden Genussmöglichkeiten zuordnet.
Für Freud ist Religion zunächst als kultureller Besitz zu sehen, dessen Funktion innerhalb der Kultur es ist, das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft erträglicher zu machen. Darüber hinaus gibt es für Freud auch eine psychische Motivierung zu Glauben, denn die Glaubenssätze der Religionen seien Illusionen, die deshalb so stark und glaubensfähig sind, weil sie die tiefsten und stärksten Wünsche des Menschen befriedigen (GW XIV). Die Erlösung ist nach Freud nicht in der Religion, sondern in der Überwindung derselben zu sehen. In Freuds Position zum Verhältnis von Kultur und Religion einerseits und dem des Subjekts gegenüber der Religion andererseits soll im ersten Teil dieser Arbeit eingeführt werden.
Dem gegenüber wird die Konzeption der Religion Donald W. Winnicotts gestellt. Der britische Analytiker und Säuglingsforscher wurde besonders durch seine Studien zu den Übergangsobjekten bekannt und bedeutsam. Dieses Konzept dekonstruiert den epistemischen Rahmen von der Gegensätzlichkeit des Subjekts zum Objekt (Whitebook, 2014). Ausgehend von der Behauptung, dass der Mensch vor der nie abgeschlossenen Aufgabe steht, sich mit der Welt in Beziehung setzen zu müssen und die Realität zu akzeptieren wie sie ist, geht Winnicott von einem metaphorisch gedachten Zwischenraum aus, in dem Erfahrungen wie Kunst und Religion dem Individuum von Zeit zu Zeit Entlastung vom Druck dieser Aufgabe bieten (Winicott, 1969, S. 668). Dieser Bereich entwickelt sich einerseits aus der frühen Erfahrung des Kindes mit der Mutter verbunden zu sein und andererseits aus der Sphäre des Spiels, in der das Kind sich der äußeren Realität annähert und sich auf sie in einer - aus eigener Perspektive - bedeutsamen Art und Weise bezieht (ebd.). Im zweiten Teil dieser Arbeit soll die Position Winnicotts anhand der Entwicklungslinie eines Individuums - also von den ersten Übergangsobjekten zum Übergangsraum - und deren Zusammenhang zum religiösen Erleben erläutert werden.
Während Freud die Religion zu überwinden und durch die Wissenschaft als Glaubenssystem zu ersetzen versucht, stößt er bei vielen Anti-Säkularisten in den Reihen der Psychoanalytiker auf Protest. Die Argumentation und Leseart Joel Whitebooks (2014) der Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ rekonstruiert einen wichtigen Kern des Freud'schen Projekts Psychoanalyse: Dachte man lange, die besagte Schrift hätte kaum einen neuen nennenswerten Gehalt für die psychoanalytische Arbeit (Will, 2013 S. 177), so rekonstruiert Whitebook den Kampf gegen die Magie und die Allmacht der Gedanken nicht nur als einen Gehalt der Freud’schen Religionskritik sondern der Psychoanalyse im Allgemeinen. Dies steht scheinbar unvereinbar der Theorie Winnicotts gegenüber, der den privaten Illusionen gar einen eigenen Raum zur Entlastung des Individuums zugesteht. Dieser Sachverhalt und die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Psychoanalyse am Beispiel der Religion soll am Ende dieser Arbeit diskutiert werden. Obwohl aus Gründen der Lesbarkeit im Text die männliche Form gewählt wurde beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.
2 Freud und die Religion als Illusion - über das Verhältnis von Religion, Subjekt und Kultur
Während die Schrift Freuds Die Zukunft einer Illusion von 1927 die Psychoanalyse als Kulturtheorie weiter ausarbeitet, bringt sie für die psychoanalytische Technik selbst kaum etwas Neues (Will, S. 177). Stattdessen tritt „der Kampf gegen die Illusion und die Infragestellung des religiösen Wahrheitsanspruches [in] ihr Zentrum“ (ebd., S.177). und füge dieser -so Freud- ohnehin bekannten Tatsache die ausstehende psychologische Begründung hinzu (GW XIV, S. 358). Diese soll im Folgenden erörtert werden.
Hierfür skizziert Freud was den Kulturbegriff seiner Ansicht nach auszeichnet. Kultur sei zunächst mal das Gegenteil des Animalischen im Menschen und er sieht dabei einen nicht aufhebbaren Antagonismus. Dieser Antagonismus führt einerseits zur Unterdrückung animalischer, also antikultureller Tendenzen, andererseits ist er Katalysator für Kulturentwicklung, denn Kultur entfaltet sich sogleich aus deren Versagung: „Jede Kultur muß auf Zwang und Triebverzicht aufbauen“ (GW XIV, S. 328). Der Antrieb für Versagung und Unterdrückung zum Wohle von Kultur galt beim frühen Menschen der Beherrschung der Natur und der Lebenserhaltung durch materielle Versorgung. Die Natur ist in vielen Teilen der Welt kontrolliert bzw. weniger bedrohlich geworden und auch die materielle Versorgung ist vielerorts gewährleistet. Die Bedeutung der Kultur erhebe sich nun anhand neuer Fragestellungen, etwa der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander und die Verteilung von Gütern, also anhand des Seelenlebens des Einzelnen und des sozialen Miteinanders (vgl. Will, S. 174).
Bereits in Totem und Tabu (GW IX) zeigt sich, dass sich Kulturentwicklung nicht lediglich aus Versagung speist, sondern gleichzeitig auf der Weitergabe von Erfahrungen beruht (hier: Traumatogenese der Kultur; Vatermord). Als Teil dieser Weitergabe ist die Verinnerlichung der äußeren Kulturvorschriften zu sehen, welche im Individuum als eine seelische Instanz -als Über-Ich- ausgebildet wird und das Kind erst zum Kulturmenschen macht. Das Befolgen der Ideale der Kultur wird durch narzisstische Befriedigung entschädigt (vgl. GW XIV, S. 334). Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten der Ersatzbefriedigung für die archaischen, nicht zu befriedigenden Veranlagungen des Menschen, die die Kultur bietet. Man denke an die Entstehung der Kunst als in dieser Hinsicht wertvollen Kulturbesitz (Will, 2013).
Die Lokalisation der Religion innerhalb der Kultur sei hierbei ähnlich zu sehen. Im Sinne Freuds ist sie in erster Linie psychischer Besitz, den er als ein Teil der Kultur einführt und in ihrem Dienste Aufgaben übernehmen lässt. Dazu gehöre die Bannung der Schrecken der Natur in dem sie durch Götter vermenschlicht wird, aber vor allem, um den Menschen mit der Kultur, die ihm auch Leiden durch auferlegte Versagungen verursacht, auszusöhnen (GW, XIV, S. 339). Später beschreibt Freud in „Warum Krieg“, Kultur ist eben „das Beste, was wir geworden sind, und ein großer Teil von dem, woran wir leiden“ (GW XVI, S. 25).
Bevor nun geklärt werden kann, wie Freud genau die Entschädigung durch die Religion konzeptualisiert, ist noch eines wichtig festzuhalten: Freud sieht die primäre Funktion der Religion darin, die Anforderungen der Kultur zu legitimieren und zu begründen - dies gelingt allein deshalb, weil es ja göttliche Tugenden und Offenbarungen sind. Deren Ursprünge seien aber aus kultureller Notwendigkeit verdunkelt (GW XIV, S. 340). Dabei ist es entscheidend was Freud in seinem Argumentationsgang zwar nicht sagt, aber ausdrückt: „Die Kultur schafft die religiösen Vorstellungen“ - nicht Gott “! „(...) es ist die Erbschaft vieler Generationen (ebd., 34). So zeigt sich, worum es Freud in der Schrift eigentlich geht - um einen Wahrheitsanspruch.
Er versucht die Religion als Kulturproduktion zu beweisen und somit als von Menschen gemacht zu identifizieren. Sie habe die einerseits Funktion die seelischen Bedürfnisse in einer Kultur zu befriedigen (ähnlich zur Kunst) und tritt andererseits dem Einzelnen in „fordernder Versagung“ gegenüber (Will, 2013, S. 175).
Den Ursprung in der „psychoa-nalytischen Motivierung der Religionsbildung“ (GW XIV, S. 345) sieht Freud in der infantilen Hilflosigkeit beim Kinde. Auf der Suche nach einem geeigneten Angstschutz wird dieser zunächst durch die Erwachsenen Rechnung getragen. Die Mutter als primärer Angstschutz werde dabei schon bald durch den Vater als stärkeren Angstschutz ersetzt. Im Verhältnis des Kindes zum Vater und im Verhältnis des Erwachsenen zur Religion sei eine entscheidende Parallelität erkennbar: Die Ambivalenz des Vaterkomplexes (GW XIV, S. 346). Gemeint ist hier natürlich der Ödipuskomplex, in dem das Kind zwischen Hilflosigkeit, Ohnmacht und Konkurrenzphantasien gegenüber dem Vater oszilliert. Die Phantasien bringen dem Kind ein Schuldbewusstsein ein, welches in letzter Linie zur Ausprägung des Über-Ichs führt. Im Mann Moses schreibt Freud später.
„ Zum Wesen des Vaterverhältnisses gehört die Ambivalenz; es konnte nicht ausbleiben, daß sich im Laufe der Zeiten auch jene Feindseligkeit regen wollte, die einst die Söhne angetrieben, den bewunderten und gefürchteten Vater zu töten. (...) [D]as Schuldbewußtsein wegen dieser Feindseligkeit, das schlechte Gewissen, man habe sich gegen Gott versündigt und höre nicht auf zu sündigen “ (GW XVI, S. 243).
Die „Söhne“ stellen die Brüderhorde dar, die Freud in Totem und Tabu schlüssig als prä-kulturellen Zustand beschreibt und die sich zusammenschließen, um den übermächtigen Vater zu ermorden. Damit zeigt Freud, dass Kultur nur auf der Basis sozialer Tabus entstehen kann. In gleicher Weise wie das Kind den Ödipuskomplex durchlaufen und lernen muss, basaler Regeln des sozialen Miteinanders in der Familie zu verinnerlichen, musste Freuds primitive Brüderhorde die gemeinsame Leistung erbringen, ihre ursprünglichsten Triebe einzuschränken und in den Dienst der gemeinsamen Sache - der Kultur zum Wohle des eigenen Überlebens - zu stellen (vgl. Lohmer & Pfeiffer, S. 65).
Nun soll die Religion nach Freud ein spezifischer Kulturbesitz sein, der diesem Zusammenleben Rechnung trägt. Es folgt eine weiter Spezifikation davon, was Freud mit Religion im engeren Sinne meint: „Es sind Lehrsätze, Aussagen über Tatsachen und Verhältnisse der äußeren (oder inneren) Realität, die etwas mitteilen, was man selbst nicht gefunden hat, und die beanspruchen, daß man ihnen Glauben schenkt“ (GW XIV, S. 347).
Man mag Religion sehr verschieden definieren, aufgrund der großen Vielzahl von Versuchen sie kurz und knapp zu greifen, soll hier auch keine Definition vorgetragen werden.
Allerdings ist es wichtig zu erwähnen, dass Freud den religiösen Erlebnissen und Erfahrungen wenig Beachtung schenkt. Stattdessen geht es ihm um die „Lehrsätze“, die überprüfbar sein müssten, sprich der Vernunft entspringen. Das innere Erleben und Zustände, denen die tiefe Überzeugung an der Wahrheit dieser Lehrsätze entspringt, ist für Freud nicht von Interesse, bzw. gelten nicht, denn: „Es gibt keine Instanz über der Vernunft“ (GW XIV, S. 350). Nur die Instanz korrekten Denkens könne also die Wahrheit religiöser Lehrsätze legitimieren. Religion weise in ihrer Selbst-Legitimation nämlich einen nicht zu bestreitenden Mangel auf: Sie setzt das Nicht-Infragestellen ja gerade voraus, Überprüfbarkeit ist nicht Teil der Lehrsätze. Hier zieht Freud die Analogie zum Märchen und wirft nun schlussendlich die Frage auf, warum die religiöse Vorstellung trotz ihrer Widersetzung gegen die Instanz der Vernunft eine derartige große Anhängerschaft und Bedeutung für die Menschen aufweisen. Dies beantwortet er nahezu mit den identischen Worten des deutschen Philosophen Ludwig Feuerbachs: „Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche“ (GW XIV, S. 352). Mit der Charakterisierung der Religion als Illusion zur Befriedung unliebsamer Phantasien bzw. der Ersatzbefriedigung der stattdessen gewünschten Phantasien spannt Freud den Bogen von der infantilen Ohnmacht während des Ödipuskomplexes zur Ohnmacht, die man auch beim Erwachsenen wiederfinde.
Die Natur der Illusion lokalisiert Freud zwischen Wahnvorstellungen und Irrtümern. Während der Wahn in seiner Entität ein Fehlurteil darstellt, welches trotz rationaler Gegenargumente tief in die Emotionalität und Triebhaftigkeit eingebettet ist, sodass der Betreffende diese Wahnidee nötig hat, so ist der Irrtum in Form von Aussagen, Auffassungen oder Annahmen durch bessere Erfahrungen korrigierbar (vgl. GW XIV, S. 353). Die Illusion wiederum entspringt ähnlich der Wahnidee unbewussten Bedürfnissen. Dieses Bedürfnis wird hier jedoch von der Illusion als Ersatzbefriedigung direkt gestillt, weshalb man eine Illusion nur dann preisgibt, wenn „der Lebensmut und die Realitätsbezogenheit stark anwachsen“ (Rattner, 1995, S.21). „Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion auf ihre Beglaubigungen verzichtet“ (GW XIV, S. 354). Tatsächlich ist es so, dass sich die Illusion im Gegensatz zur Wahnidee trotz ihrer fehlenden Fähigkeit zur Beglaubigung bzw. Überprüfbarkeit, bewahrheiten kann. Dies illustriert Freud an der Phantasie des bürgerlichen Mädchens, dass ein Prinz vorbeikommen wird und sich gerade sie zur Braut heraussucht (vgl. GW XIV, S. 353). Vollkommen unmöglich ist diese Vorstellung nicht, doch der Wunsch hat einen weit höheren Anteil als die realistische Aussicht. Im Unterschied zum Irrtum basiert die Illusion zwar ebenso auf nicht überprüfbaren Annahmen, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich tatsächlich realisiert: Der Prinz kommt tatsächlich vorbei und der Wunsch des Bürgermädchens wird Realität. Für noch viel unwahrscheinlicher als diesen Vorgang hält Freud, dass der Erlöser hinabsteigen und das ersehnte Goldene Zeitalter begründen wird (Will, 2013, S. 175). An der Unüberprüfbarkeit solcher religiösen Vorstellungen stört sich Freud, denn sie sind weder beweisbar noch widerlegbar und doch setzt sie den Glauben an die von ihr postulierte Realität voraus.
1.1 Ananke, Hilflosigkeit, Endlichkeit: Was ist hier reif?
Als Gegensatz zur Religion steht bei Freud die wissenschaftliche Arbeit, die er als die einzige kulturelle Praxis sieht, die das Wissen um die Realität außerhalb des eigenen Subjekts vorantreiben kann. Sie setze ihre Unvollkommenheit und Vorläufigkeit voraus. Damit sieht Freud die Wissenschaft als Mittel zur Kritik der Religion und gleichzeitig als deren Ablösung. Dies führe aber zu folgendem Problem: Die rein rationale Begründung von Kulturvorschriften funktioniert nur eingeschränkt, da Gott und die religiösen Vorstellungen - die diese Vorschriften unüberprüfbar herleiten und verkleiden - aus einem inneren Drang heraus entstanden ist, welchen Freud auch an historische Ereignisse koppelt (vgl. GW XIV, S. 366). Damit spannt Freud einmal mehr den Bogen zu seiner Schrift Totem und Tabu (GW IX), in welcher er den Mord des Urvaters als Ursprung von Kultur und Religion beschrieben hatte. Das bedeutet, dass die Religionsbildung für Freud nicht nur ein kultureller Besitz darstellt, der mittels Wunscherfüllung zur Befriedung des Einzelnen mit der Kultur beiträgt und deren Vorschriften legitimiert, sondern gleichzeitig die Dynamik historischer Reminiszenzen innehat. Ähnlich wie beim psychisch kranken Menschen leidet auch die gesamte Menschheit an historisch gewachsenen Reminiszenzen - in dem Fall an der Urtat des Vatermords. In einem Brief an Lou Andreas Salomé schreibt Freud: „Was die Religion stark macht, ist nicht ihre reale, sondern ihre historische Wahrheit“ (Freud & Salomé 1966a, S. 224; zit n. Assman, 2004, S. 6). Auf diesen Briefwechsel bezogen äußert sich Jan Assmann folgendermaßen:
„Die reale Wahrheit wäre die Existenz Gottes, die historische Wahrheit ist der Urvater. Die Religionen sind für Freud Systeme von Illusionen, ausgelöst von historischen, aber verdrängten Erfahrungen. “ (Assmann, S. 6).
Folgt man also Freud, dann speisen sich religiöse Vorstellungen einerseits aus Illusionen und sie stellen gleichsam Illusionen dar. Andererseits speisen sich religiöse Vorstellungen aus historischen Wahrheiten und Erfahrungen, die verdrängt sind. Beim Einzelnen liegen diese Erfahrungen im Ödipuskomplex begründet, für die kulturelle Gemeinschaft ist es der verdrängte Vatermord. Diesen sieht er als zentralen Kern für die Entstehung der monotheistischen Religion1.
Es zeigt sich nach diesen ersten Ausführungen: Die religiösen Vorstellungen - also die Illusionen - erfüllen einerseits kulturelle und andererseits psychische Funktionen. Dabei entsteht nun folgendes Problem am offen kommunizierten Auflösungswunsch der Religion Freuds: Einerseits behauptet er, die Religion erfülle die „ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit“ (GW XIV, S.352). „Andererseits untersucht er nie das Schicksal, das diese Wünsche in einer säkularen Gesellschaft haben“ (Whitebook, S. 1175). Damit wird hier abermals deutlich, als was Freud Religion wahrnimmt. In der Fokussierung auf den kognitiven Inhalt der Religion behandelt Freud diese ausschließlich als Glaubenssystem und kümmert sich wenig um deren Zeremonien und Rituale. Damit „entwarf er ein Bild der Religion als primitiver Proto-Wissenschaft, deren Wahrheitsansprüche im Kontrast zu den Wahrheitsansprüchen der ausgereiften Wissenschaft zu beurteilen sind“ (Whitebook, S. 1176).
Die hier gemeinte Primitivität begreift Whitebook in der weiteren Rekonstruktion des Freudschen Religionsverständnisses als unreif. Nehme man zum Verständnis des Reifebegriffs im kulturtheoretischen Gebrauch die Schrift Freuds „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“ (GW IX, S. 93-121) zu Hilfe, werde deutlich, „dass das grundlegende Desiderat von Freuds Projekt - im Leben wie in der Analyse - darin besteht, unsere Allmacht zu bewältigen und mit der Realität bzw. mit den Anforderungen der Notwendigkeit ebenso fertig zu werden wie mit der Ananke, und zwar in dem Maße, in dem eine solche Resignation endlichen Wesen wie uns möglich ist “ (S. 1177).
Für Freud stellt der Tod die anfängliche und damit bedeutsamste Setzung der Ananke im menschlichen Dasein dar. Erst durch den Tod gelangten die Urmenschen zur Erkenntnis um die Ananke. In dieser Situation schufen sie ein erstes theoretisches System - den Animismus - im Versuch, den Skandal des Todes in den Griff zu bekommen (GW, IX). Whitebook liest Freud in dem Sinne, dass ein Glaubenssystem in jenem Ausmaß, in dem es die Endgültigkeit des Todes anerkenne, sich gleichsam aus „der Sphäre der Illusionen“ (2014, S. 1177) befreien kann. Gleichzeitig folge daraus, dass jedes Glaubenssystem, welches ein Leben nach dem Tode voraussetzt, von Grunde auf illusorisch und damit unreif ist (ebd.).
[...]
1 Hierzu: Freud, S. (1939a): Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen. GW XVI, 103-246. Aus Gründen des Rahmens dieser Arbeit kann hierzu nicht weiter eingegangen werden.