Diese Hausarbeit widmet sich der Frage, wie Ida Pfeiffer aus ihrer Perspektive als europäische Reisende ihrer Zeit Geschlechterdifferenzen betrachtete, wie sie diese vor dem Hintergrund ihrer eigenen Verfasstheit bewusst oder unbewusst bewertete und aufnahm. Es soll herausgearbeitet werden, wie sich ihre individuelle Wahrnehmung, ihr Blick auf außereuropäische Geschlechterdifferenz in ihren Publikationen manifestierte. Dabei liegt ein Augenmerk auf der Frage, ob sie ihre Darstellungen rezipienten- beziehungsweise marktorientiert verfasste.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das private Reisen ein ausgesprochen männliches Privileg. Reisende Frauen gehörten auch im 19. Jahrhundert noch eher zu den Ausnahmen. Die zeitgenössische gesellschaftliche Geschlechterkonzeption mit ihrem tradierten Frauenideal hatte keinen Platz für weibliche Selbstbestimmung. Nicht viele Frauen begehrten gegen das herrschende bürgerliche Patriarchat auf. Und nur wenige unternahmen selbstbestimmt, autonom Reisen.
Eine dieser ungewöhnlichen Frauen, die als Reisende in diese bis dahin traditionell den Männern vorbehaltene Domäne eindrang, war die Österreicherin Ida Pfeiffer. Obwohl sie nicht um das Schreiben willen reiste, hatte sie in fünf umfangreichen Publikationen die Erlebnisse und Erkenntnisse, die sie auf all ihren Unternehmungen erfahren, gesammelt und in Tagebüchern notiert hatte, erfolgreich und zumeist untere ihrem eigenen Namen veröffentlicht. Auch weibliche Autorschaft war zu Ida Pfeiffers Zeit aufgrund des geltenden Rollenkonzeptes ein eher seltenes Phänomen. Insbesondere Veröffentlichungen unter dem eigenen weiblichen Namen waren unüblich, sodass ihre publizistischen Aktivitäten als eine weitere Außergewöhnlichkeit betrachtet werden können. Sie interessierte sich für alles ihr Fremde, Exotische. Ihren Wissensdurst beschränkte sie nicht auf einige wenige ausgewählte Zielorte, sondern führte sie durch die ganze Welt. Fremde Kulturen und Menschen, ihr Alltagsleben, ihre Lebenswelten, Bräuche und Sitten gehörten zu ihren Desideraten. Ihre Publikationen, wie Reiseberichte überhaupt, erfreuten sich nicht nur bei einer breiten Leserschaft großer Beliebtheit. Sie leisteten auch der Ethnographie, der Geologie und anderen Wissenschaften willkommene und gute Dienste.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Reisebeschreibung
2.1 Die Apodemik
2.2 Das Eigene und das Fremde
2.3 Forschungstand
3 Die Frau in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
3.1 Frauenreisen im 19. Jahrhundert
3.2 Weibliche Reiseberichte
4 Ida Pfeiffer - eine kurze biographische Skizze
5 Geschlechterdifferenz in „Eine Frauenfahrt um die Welt“, erster Band
6 Zusammenfassung und Ausblick
7 Literaturverzeichnis
7.1 Quellen
7.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das private Reisen ein ausgesprochen männliches Privileg. Die Grand Tour oder auch Kavalierstour, die sich insbesondere im 16. Jahrhundert in England entwickelte, kann als ein Beleg dafür gelten. Diese, zunächst als „letzter Schliff“ im Bildungsverlauf wohlhabender adliger und später auch bürgerlicher junger Männer geltende Reise, führte sie in aller Regel durch die Sehenswürdigkeiten Europas. Neben der Erweiterung ihres Horizontes sollte die Tour sie zudem in Konversation und Diplomatie schulen. Ein weiteres Ziel war es in bestehende Netzwerke eingeführt zu werden und auch erste eigene Netzwerke aufzubauen.1 Apodemiken lieferten etwa ab dem 16. Jahrhundert als theoretische Reiseinstruktionen die zur Vorbereitung solcher Reisen notwendigen Informationen und Tipps.2
Reisende Frauen gehörten auch im 19. Jahrhundert noch eher zu den Ausnahmen.3 Allenfalls als begleitende Angehörige von beispielsweise Kaufleuten, Forschern oder Kolonialbeamten, die im Zuge handelswirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder imperialer Intentionen das Ausland bereisten, konnten sie ihr eigenes Fernweh und ihre eigene Neugier, wenn auch eingeschränkt, ausleben.4 Die zeitgenössische gesellschaftliche Geschlechterkonzeption mit ihrem tradierten Frauenideal hatte keinen Platz für weibliche Selbstbestimmung. Nicht viele Frauen begehrten gegen das herrschende bürgerliche Patriarchat auf. Und nur wenige unternahmen selbstbestimmt, autonom Reisen. Eine dieser ungewöhnlichen Frauen, die als Reisende in diese bis dahin traditionell den Männern vorbehaltene Domäne eindrang, war die Österreicherin Ida Pfeiffer. Sie wurde 1797 als Tochter des gutsituierten Kaufmanns Aloys Reyer in Wien geboren. Erst nachdem ihre beiden Söhne erwachsen waren, ließ sie ihre ohnehin nicht glückliche Ehe mitsamt ihrem bürgerlichen Leben hinter sich. Mit 45 Jahren trat sie allein, ohne die damals übliche standesgemäße Begleitung, die erste von vielen noch folgenden Reisen an.5 In den nächsten 16 Jahren bereiste sie zahlreiche Länder, bevor sie 1848, nach ihrer Rückkehr aus Madagaskar, starb. Im Vorwort zu dem dieser Arbeit zugrunde gelegten ersten Band ihrer 1850 veröffentlichten Publikation „Eine Frauenfahrt um die Welt“ schrieb sie:
„Reisen war der Traum meiner Jugend, Erinnerung des Gesehenen ist nun die Labsal meines Alters.“6
Obwohl sie also nicht um den Schreibens willen reiste, hatte sie in fünf umfangreichen Publikationen die Erlebnisse und Erkenntnisse, die sie auf all ihren Unternehmungen erfahren, gesammelt und in Tagebüchern notiert hatte, erfolgreich und zumeist untere ihrem eigenen Namen veröffentlicht.7 Auch weibliche Autorschaft war zu Ida Pfeiffers Zeit aufgrund des geltenden Rollenkonzeptes ein eher seltenes Phänomen. Insbesondere Veröffentlichungen unter dem eigenen weiblichen Namen waren unüblich, sodass ihre publizistischen Aktivitäten als eine weitere Außergewöhnlichkeit betrachtet werden können. Sie interessierte sich für alles ihr Fremde, Exotische. Ihren Wissensdurst beschränkte sie nicht auf einige wenige ausgewählte Zielorte, sondern führte sie durch die ganze Welt. Fremde Kulturen und Menschen, ihr Alltagsleben, ihre Lebenswelten, Bräuche und Sitten gehörten zu ihren Desideraten. Ihre Publikationen, wie Reiseberichte überhaupt, erfreuten sich nicht nur bei einer breiten Leserschaft großer Beliebtheit. Sie leisteten auch der Ethnographie, der Geologie und anderen Wissenschaften willkommene und gute Dienste.8
Diese Hausarbeit widmet sich der Frage, wie Ida aus ihrer Perspektive, als europäische Reisende ihrer Zeit, Geschlechterdifferenzen betrachtete, wie sie diese vor dem Hintergrund ihrer eigenen Verfasstheit, bewusst oder unbewusst, bewertete und aufnahm. Es soll herausgearbeitet werden, wie sich ihre individuelle Wahrnehmung, ihr Blick auf außereuropäische Geschlechterdifferenz in ihren Publikationen manifestierte. Dabei liegt ein Augenmerk auf der Frage, ob sie ihre Darstellungen rezipienten- beziehungsweise marktorientiert verfasste.
Zur Vorbereitung einer Analyse werden in einem ersten Schritt die theoretischen Grundlagen gelegt. Insofern wird zunächst der Begriff „Reisebeschreibung“ definiert und seine Entwicklung skizziert, bevor kurz darauf eingegangen wird, was in diesem Kontext mit den Begriffen „Fremd“ und „Eigen“ gemeint ist. Anschließend soll in einem Exkurs auf das Gesellschaftsbild des frühen 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen europäischen Raum und auf die darin enthaltende tradierte bürgerliche Frauenrolle im Allgemeinen eingegangen werden. Im Speziellen werden außerdem die Voraussetzungen beleuchtet, in denen Frauen zu dieser Zeit reisen konnten. Nachfolgend wird Ida Pfeiffers Leben und Werk kurz umrissen, ehe es im Hauptteil dieser Arbeit um den ersten Band ihres Reiseberichtes „Eine Frauenfahrt um die Welt“ geht, der hinsichtlich meiner formulierten Fragestellungen analysiert wird. Im sich daran anschließenden letzten Kapitel werden die Analyse-Erkenntnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf mögliche Anknüpfungspunkte für weiter literaturwissenschaftliche Fragestellungen gegeben.
2 Die Reisebeschreibung
Exakte Abgrenzungen innerhalb der literarischen Gattung der Reisebeschreibung, die nach zeitgenössischem Verständnis sowohl die Beschreibung tatsächlich erfolgter, als auch fiktiver Reisen umfasst, existieren im Kanon nicht.9 Reisebeschreibungen, -erzählungen, -berichte und Reisetagebücher, ebenso wie wissenschaftliche Entdeckungs- und Forschungsberichte von Reisen und sogar Briefsammlungen, in aller Regel als autobiografische Form, subsumieren sich unter ihr. Die Übergänge sind häufig fließend. Auch noch zu Idas Zeit schwankte Reiseliteratur, mit mehr oder weniger hohem ästhetischem Anspruch verfasst, vielfach und trotz Erhebung eines Wahrheitsanspruchs, zwischen Fakt und Fiktion. Johann Heinrich Zedler führte in seinem 1754 veröffentlichten Universal-Lexikon folgendes aus:
„Reisebeschreibungen, Reisebuch, Franz. Itineroire, Lat. Itinerarium, oder ein solches Buch, darinnen man entweder seine eigenen oder anderer ihre Reisen beschreibet, und darinnen hauptsächlich erzählet, wenn und wie man von einem Orte zum anderen gekommen, was einem an jedem merckwürdi- ges entweder begegnet oder zu Gesichte gekommen.“10
Der Erfolg eines jeden veröffentlichen Reiseberichts, ungeachtet ob die Reise vom Autor selbst unternommen wurde oder nicht, stand und fiel nicht nur mit der Fülle von „Merckwürdigem“, sondern stets auch mit der Glaubhaftigkeit des Berichteten und auch der Integrität des Berichtenden. Das diese Problematik auch zu seiner Zeit bereits präsent war, belegt Zedlers Warnung „die wahren [Reiseberichte] von denen, so fingierte Reisen in sich fassen, wohl zu unterscheiden.“11 So enthielten auch bereits die Reisebeschreibungen der ersten Entdeckungsfahrten Beglaubigungsstrategien. Die 1557 veröffentlichte „Warhafftige Historia“ des Landsers Hans Staden enthält ein Vorwort, das, sicherlich vor eben diesem Hintergrund, von einem angesehen Arzt und Mathematiker verfasst wurde. Auch benennt der Autor zahlreiche mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, denen er während seiner Reise begegnet war. Als „quasi Augenzeugen“ bestätigen sie scheinbar allein schon durch ihre Benennung das Berichtete, zu dem auch Menschenfresser und Fabeltiere gehörten.12 Aber auch in den Reisebeschreibungen einer Grand Tour sind Übertreibungen oder ist schlicht Falsches zu finden.
Faktuale Erzählungen über unternommene Reisen entwickelten sich im 19. Jahrhundert, gefördert durch die neuartige industrielle Massenproduktion und das steigende Interesse des biedermeierschen Bildungsbürgertums an Welterfahrung, zu Kassenschlagern.13 Das ehemalige Informationsmedium Reisebeschreibung wandelte sich im Zuge dessen allmählich. Seine literarische Bandbreite, die eingangs bereits Erwähnung fand, dehnte sich im Sinne eines Unterhaltungsmediums aus.14 Seine Verfasser, überwiegend männlich, wurden nicht nur von der Aussicht auf eine Einnahmequelle, sondern durchaus auch von der Vorstellung als Autor oder als Wissenschaftler ein wenig Ruhm ernten zu können zur späteren Literarisierung des Erlebten angespornt.
2.1 Die Apodemik
Aus der mindestens seit dem 16. Jahrhundert gewonnenen Reisepraxis-Erfahrung entwickelte sich eine Methodisierung des Reisens, wie Justin Stagl es nennt. Die „Ars Apodemica“, die Kunst des Reisens, oder einfach Apodemik, beschäftigte sich mit der Planung, der Theorie und der Praxis des Reisens.15 Sie gliederte sich üblicherweise auf in Definition und Zielsetzung des Reisevorhabens sowie einen praktischen Teil, der Themen wie Ernährung, Reisezeiten und -routen und Ratschläge bezüglich allgemeiner Verhaltensweisen beinhaltete. Ein weiterer theoretischer Teil unterrichtete über Beobachtungs- und Aufzeichnungsmethoden. Die männlichen Verfasser stellten darin gezielte Fragen an den Reisenden, die die Aufzeichnung von „Merckwürdigem und Sehenswürdigem“ erleichtern sollten. Damit wurde nicht nur die Reise an sich systematisiert. Das Verfahren normierte auch den Schreibhabitus der späteren Reiseschriftsteller hin zu chronologischen Erzählstrukturen, übersichtlichen Auflistungen von Beobachtetem und dergleichen mehr.
2.2 Das Eigene und das Fremde
Die Schilderungen und Zeichnungen von exotischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Landschaften ferner fremder Länder stellten dennoch für die Masse der Menschen die einzige Möglichkeit dar, sich eine Vorstellung von diesen für sie unerreichbaren Orten zu machen. Die Reisenden führten in aller Regel zunächst zur eigenen Erinnerung Notiz- und Tagebücher, aus denen sie später ihre zur Publikation gedachten Berichte generierten. Sofern es, wie hier, um real unternommene Reisen geht, können die Schreibenden in ihren Berichten aber stets nur vermitteln wie sie selbst das Gesehene, Erlebte individuell wahrgenommen haben. Diese individuelle Wahrnehmungsweise bedingt sich und entwickelt sich permanent, sozusagen jeweils reziprok, mit der Verfasstheit, der Konstituierung dessen, was als „Eigenes“ identifiziert werden kann. Dieses „Eigene“ entsteht und entwickelt sich wiederum immer in Bezug zum sozialen und kulturellen Umfeld, in das eine Person hineingeboren wird, beziehungsweise in dem sie aufwächst und lebt.16 Die Deutung dessen, was das „Fremde“ ist, gestaltet sich also in Bezug auf den jeweiligen Ursprungs-Kulturkreis des Schreibenden, seinen eigenen sozialen Stand, seine Schichtzugehörigkeit und seinen Bildungsgrad. Sie ist also insofern immer subjektiv. Zugehörigkeit beziehungsweise Nichtzugehörigkeit benennt für das individuelle Selbstverständnis was „Fremd“ und was „Eigen“ ist.17 Hans-Jürgen Lü- sebrink unterstreicht dies, indem er darauf hinweist, dass Vorurteile und Stereotype soziale und kulturelle Ordnungskriterien für einen kulturspezifischen Diskurs über andere Kulturen darstellen.18 Als Bewertungskategorien belegen sie den voreingenommenen und an eigenen kulturellen Normen und Wertvorstellungen gemessenen und beurteilten Habitus des Erlebenden beziehungsweise des Beschreibenden. Seine „imaginierten“ Bilder entstehen insofern über Ausschluss vom, respektive Einbeziehung zum Eigenen.19 Vor diesem Hintergrund wirkt sich auch die bürgerlich-ideologische Geschlechterdifferenz zwischen Mann und Frau auf die individuelle Deutung und Beschreibung von erlebtem, respektive beobachtetem Exotischen aus.
2.3 Forschungstand
Peter J. Brenner legte 1990 die wichtigsten Theorien zum Reisebericht ab dem 18. Jahrhundert dar und hatte ein Jahr zuvor bereits deren literarische Darstellungformen thematisiert.20 Neun Jahre später monierte Irmgard Scheitler, dass es noch immer keine kanonisierten Werkzeuge gäbe, mit denen eine „Grammatik der Reisebeschreibung“ analysiert werden könne. Zahlreiche Versuche füllten zwar die Regale, waren aber ihrer Meinung nach noch längst nicht als „Reiseliteraturforschung“ zu benennen.21 Ihre textliche Gestaltung, ihre formale literarische und ästhetische Qualität, schreibt Sandra Vlasta 2015, findet noch immer keine ange- messene Beachtung.22 Der fehlenden literaturwissenschaftlichen Systematik in Bezug auf Reisebeschreibungen stehen Unmengen an Forschungsliteratur, etwa zu historischen oder ethnologischen Fragestellungen, gegenüber. Seit die Literaturwissenschaften in den 1970er Jahren begann sich mit ihnen zu beschäftigen, wird interdisziplinär unter den verschiedensten Aspekten geforscht. Doch in der Literaturwissenschaft selbst geraten sonst gesetzte, kanonisierte Konzepte wie Gattung, Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung vor der Zweckform Reisebeschreibung ins Schwanken. Der Diskurs hält noch immer an.
3 Die Frau in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
Die Ideen der Aufklärungsbewegung beeinflussten politische, wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Entwicklungen in Europa und waren auch im späten 18. und im 19. Jahrhundert noch präsent. Bekanntes Wissen sollte überprüft, neues Wissen sollte mit Hilfe der Hinwendung zu den Naturwissenschaften erlangt werden. Alles wurde „neu gedacht“. Zu den Forderungen der Aufklärer gehörte beispielsweise auch das Recht auf Bildung und mehr persönliche Handlungsfreiheit für jedermann. Noch vor Erreichen der Mitte des 19. Jahrhunderts opponierte die Bevölkerung Frankreichs, Italiens und des Deutschen Bundes gegen die jeweiligen konservativen, zumeist monarchischen Herrschaftsverhältnisse und die damit einhergehenden Strukturen. Die sich ausweitenden Unruhen und politischen Entwicklungen, die daraus erwuchsen, hatten zur Folge, dass innerpolitische Oppositionen überwacht und bekämpft wurden. Damit einher ging eine starke Einschränkung jeglicher politischer Betätigung der Bevölkerung. Diese innerpolitische Lage, ebenso wie die zu befürchtenden drakonischen Strafen bei Widersetzung, führte zu einem Rückzug vieler Menschen in das Private. Sie „flüchteten“ in unpolitische, gefühlt geschützte Räume mit konstanten Werten und verlässlichen Regeln, wie Familie, Gemeinde, Zunft oder Verein und auch in die Natur. Der literarische Spiegel dieser Zeit, die Mitte desselben Jahrhunderts bereits in den Münchner „Fliegenden Blättern“ mit der fiktiven, kleingeistigen Figur des Gottlieb Biedermeier höhnisch charakterisiert wurde und der literarischen Epoche im Rückblick auch ihren Namen einbrachte, zeigt, dass sich vor allem unpolitische Kurzge- schichten, Novellen, Familienromane, Natur-Lyrik, Tagebücher, Briefe und Reiseberichte beim Gros der Leserschaft großer Beliebtheit erfreuten.23 Die zeitgenössische Literatur dieser Strömung transportierte auch deren Werte, wie Religiö- sität, Genügsamkeit, Naturnähe oder Leidenschaftskontrolle.24 Die geistige und soziale Reformbewegung der Aufklärer überdachte und diskutierte zudem, durchaus kontrovers, die „Ordnung der Geschlechter“.25 Die Familie als Kernpunkt dieser gesellschaftlichen Ausformung sah eine, mit dem noch wenige Jahrzehnte zuvor propagierten Idealbild der gelehrten und, im zeitgenössischen Sinn, emanzipierte Frau wenig zu vereinbarende, rein patriarchalische Familienstruktur vor.26 Zwar wurde die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten philosophisch begründet, einige bedeutende Vordenker klammerten Frauen dabei jedoch aus. In ihren Schriften argumentierten sie eine prinzipielle Ungleichheit der Geschlechter mit dem „Naturwesen“ der Frau.27 Sich darauf berufend, unterteilten sie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären und ordneten sie den Geschlechtern zu: die „öffentliche“ Sphäre entsprach dabei dem als willensstark, aktiv und mutig charakterisierten Mann, während die „private“ Sphäre der passiven, schwachen und als emotional gesteuert, ängstlich charakterisierten Frau zufiel.28 Die Reduzierung der „natürlichen“ Frau auf ihren Körper und die Fähigkeit Nachkommenschaft zu gebären wurde durch Wissenschaften wie die Medizin unterstützt. In Abgrenzung zur postulierten physisch, psychisch und geistig überlegenen männlichen Natur wurde Frauen unter anderem „kindliche Vernunft“ zugeschrieben und charakterisierte sie so als generell des männlichen Schutzes bedürftig. Auf dieser Basis wurde ihre gesellschaftspolitische und vor allem ihre rechtliche Minderstellung zusätzlich legitimiert. Immanul Kant formulierte 1798 in seinem Vorlesungspapier „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ seine Sicht auf „den idealen Stand der Frau“ in der Gesellschaft deutlich: „Das Weib in jedem Alter wird für bürgerlich-unmündig erklärt; der Ehemann ist ihr natürlicher Curator.“29 Tatsächlich beschrieb er die faktisch gelebte zeitgenössische Geschlechterstruktur. In diesem Sinne gab eine eher nach sozialen und wirtschaftlichen Kriterien arrangierte Verheiratung, Häuslichkeit als Kernaufgabe und Mutterschaft als Kür den weiblichen Lebenslauf vor.30 Von beruflichen Tätikeiten, die als Teil der öffentlichen Sphäre zumindest für bürgerliche Frauen als unschicklich galten, waren sie entsprechend ausgeschlossen und damit allein auf ihren privaten Handlungsradius beschränkt. Raum für vorhandene Interessen zur Selbstverwirklichung war weder vorgesehen noch gegeben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lehnten sich immer mehr Frauen gegen diese oktroyierte Rollenzuweisung und die konservative Rahmenstruktur auf. Frauen wollten sich an Politik, Wirtschaft und Kultur aktiv und sichtbar beteiligen, frei ihren Interessen nachgehen können und Reisen unternehmen. Sie beanspruchten Zugang zur männlich dominierten „öffentlichen“ Sphäre.
[...]
1 Elke Frederiksen: Der Blick in die Ferne: Zur Reiseliteratur von Frauen. In: Frauen - Literatur - Geschichte: Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann. Stuttgart: J.B. Metzler, 1998, S. 148.
2 Justin Stagl: Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 140-177.
3 Elke Frederiksen: Der Blick in die Ferne, S. 147.
4 Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen. Münster: Lit, 2005 (= Kulturgeschichtliche Perspektiven, Bd. 5), S. 44ff.
5 Constantin von Wurzbach: Pfeiffer, Ida. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 22. Theil. Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei. Wien: 1870, S. 175-184. In: Austrian Literature Online. URL: http://www.literatuie.at/viewer.alo?obiid=11774&paas=181&scale=3.33&vie^mode=fullsaBen (letzter Zugriff: 16.06. 2017).
6 Ida Pfeiffer: Eine Frauenfahrt um die Welt: Reise von Wien nach Brasilien, Chili, Otahaiti, China, Ost-Indien, Persien und Kleinasien von Ida Pfeiffer, geb. Reyer, 1. Band. Wien: Carl Gerold, 1850, Vorrede.
7 Gabriele Habinger: Eine Wiener Biedermeierdame erobert die Welt. Die Lebensgeschichte der Ida Pfeiffer (1797-1858). Wien: Promedia, 1997.
8 Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 54-56.
9 Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780 - 1850. Tübingen: Max Niemeyer, 1999 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 67), S. 2.
10 Johann Heinrich Zedler (Hrsg..): Grosses vollständiges UNIVERSAL LEXICON Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 31, S. 194. Halle/ Leipzig: 1754. In: Bayerische Staatsbibliothek (Digitalisat). URL: https: //www.zedler-lexikon.de/index.html?c=blaettem&bandnummer=31&seitenzahl=195&dateiformat=1& view=100&supplement=0%27) (letzter Zugriff 16.06.2017).
11 Ebd.
12 Fabian Fechner: Zwischen „Fabel“ und „Historie“. Beglaubigungsstrategien in Hans Stadens „Warhafftiger Historia“ (1557). In: Migration und Reisen: Mobilität in der Neuzeit. Innsbruck: Studien-Verlag 2012, S. 132136.
13 Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht, S. 85.
14 Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Max Niemeyer, 1990 ( = 2. IASL-Sonderheft), S. 275 und Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 55.
15 Justin Stagl: Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert, S. 140-177.
16 Gabriele Habinger: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Wien: Promedia, 2006, S. 21.
17 Ottfried Schäffter: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher, 1991, S. 25 ff.
18 Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, Interaktion. Fremdwahrnehmung. Kulturtransfer. Stuttgart: J.B. Metzler, 2005, S. 83.
19 Ebd., S. 104.
20 Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur und Peter J. Brenner: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt: Suhrkamp, 1989.
21 Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht, S. 4.
22 Sandra Vlasta: Reisen und davon erzählen. Reiseberichte und Reiseliteratur in der Literaturwissenschaft., 2015. In: literaturkritik.de. URL: http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez id=21077 (letzter Zugriff 16.06.2017).
23 Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 -1914 ( = Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Aufklärung, Band 1648). Bonn: J.H.W. Dietz, 2015, S. 74.
24 Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Stuttgart: Reclam, 1987, S. 155-175.
25 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 17501850. Frankfurt a. M.: Campus, 1991, S. 72 -93.
26 Matthias von Hellfeld: Das lange 19. Jahrhundert, S. 74-79.
27 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 126-165, insbesondere S. 141.
28 Ebd., S. 49-51.
29 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: Th. 7, Abt. 2. In: Immanuel Kant’s sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert. Leipzig: Leopold Voss, 1838, S. 116.