In der Arbeit soll daher die Schuldfrage der sizilischen Expedition von 415 bis 413 v. Chr. beleuchtet werden und geklärt werden, wem Thukydides die Schuld für das Scheitern der Expedition zuschreibt. Zur Beantwortung dieser Frage diente als Quelle die deutsche Übersetzung Thukydides Werk „Der Peloponnesische Krieg“ von Helmuth Vretska und Werner Rinner aus dem Jahre 2000 im Reclamverlag. Als Besonderheit der Quelle sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass Thukydides als Zeitgenosse den gesamten Krieg selbst miterlebt hat und mit dem Kriegsende 404 v. Chr. seine schriftliche Darstellung über den gesamten Kriegsverlauf begann. Diese Tatsache verleiht seinem Werk einen hohen Grad an Authentizität.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Voraussetzungen und Auslöser der Expedition
3. Im Vorfeld der Expedition
3.1 Die Feldherrnreden von Nikias und Alkibiades
3.2 Die Entscheidungsfindung Athens
4. Verlauf der Expedition
5. Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Decision-making is the foundation of Thucydides’ narrative of the Peloponnesian War. [...] It strikes me that the History could essentially be read as a series of decisions that drive the historical events of the narrative and that in order to understand these events we must first understand the decisions that instigate them.“1 Die Entscheidungsfindung ist demnach ein wesentlicher Prozess, der die nachfolgenden Abläufe maßgeblich beeinflusst. Im Falle Athens führte dieser Prozess zu dem Aufbruch nach Sizilien im Jahre 415 v. Chr. und somit zu einer Unternehmung, die insgesamt etwa 10.000 Menschenleben kosten sollte2 und für Athen den Umschwung im Verlauf des Peloponnesischen Krieges bringen sollte, denn das Ende der Expedition markiert den Beginn des Verlusts der athenischen Großmachtstellung3. Bei einer solch großangelegten Unternehmung, die weitreichende Konsequenzen mit sich führt, stellt sich die Frage nach den Verantwortlichen. In der nachfolgenden Arbeit soll daher die Schuldfrage der sizilischen Expedition von 415 bis 413 v. Chr. beleuchtet werden und geklärt werden, wem Thukydides die Schuld für das Scheitern der Expedition zuschreibt. Zur Beantwortung dieser Frage diente als Quelle die deutsche Übersetzung Thukydides Werk „Der Peloponnesische Krieg“ von Helmuth Vretska und Werner Rinner aus dem Jahre 2000 im Reclamverlag. Als Besonderheit der Quelle sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass Thukydides als Zeitgenosse den gesamten Krieg selbst miterlebt hat und mit dem Kriegsende 404 v. Chr. seine schriftliche Darstellung über den gesamten Kriegsverlauf begann4. Diese Tatsache verleiht seinem Werk einen hohen Grad an Authentizität. Die verwendete Literatur deutet auf einen breiten internationalen Diskurs dieses Werkes hin und erfreut sich einer verhältnismäßig guten Aktualität. Um die Fragestellung dieser Arbeit beantworten zu können, werden zunächst die Voraussetzungen sowie der Auslöser für die sizilische Expedition dargelegt. Ausgehend von dieser Basis wird die Zeit vor der Expedition näher beleuchtet. Hierbei wird der Fokus besonders auf die Feldherrenreden in der Volksversammlung sowie auf die Entscheidungsfindung des athenischen Volkes gelegt. Mit der Entscheidung für die Ausfahrt nach Sizilien werden nachfolgend die ausschlaggebendsten Handlungen und Entschlüsse während der Expedition erläutert und in Hinblick auf Thukydides Urteil untersucht. Abschließend erfolgt im Fazit die Beantwortung der Schuldfrage für das Scheitern der zweiten sizilischen Expedition aus Sicht des Thukydides unter Einbezug aller zuvor genannten relevanten Sachverhalte und Argumente.
2. Voraussetzungen und Auslöser der Expedition
Nach der Schlacht von Amphipolis 422 v. Chr. verhandelte der athenische Feldherr und Politiker Nikias einen Friedensvertrag mit dem spartanischen König Pleistoanax aus. Dieser Frieden wurde 421 v. Chr. auf eine Gültigkeit von 50 Jahren datiert und wird gemeinhin als „Nikiasfrieden“ bezeichnet. Der Friedensvertrag beinhaltete jedoch einige Bedingungen beider Parteien, so sollte es unter anderem zu einem Gefangenenaustausch kommen und die athenischen Stützpunkte Pylos und Kythera sollten gegen das von Sparta besetzte Amphipolis getauscht werden. Allerdings wurden diese Bedingungen von beiden Seiten nicht vollständig erfüllt und somit kam es immer wieder zu Streitigkeiten, weshalb der Frieden auch als unruhiger Frieden bezeichnet wird5. Der Nikiasfrieden führte zu einer wirtschaftlichen und finanziellen Erholung Athens von den Kriegsjahren und der Seuche, wodurch wieder verstärkt Reserven aufgebaut werden konnten. Dieser zunehmende finanzielle Wohlstand kann als ein wesentlicher Pfeiler in der Entscheidungsgrundlage für die Expedition nach Sizilien betrachtet werden6. Die wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen Athens im Jahre 416 v. Chr. waren somit sehr vielversprechend, als im Winter 416/415 v. Chr. Gesandte aus der sizilischen Stadt Egesta in Athen ankamen und vor der Volksversammlung sprachen. Die Stadt Egesta war in einem Streit mit seinen Nachbarn den Selinuntern geraten. Die Selinunter erhielten daraufhin Unterstützung von ihrem Bündnispartner den Syrakusanern, die nun Egesta mit einer Streitmacht zu Wasser und zu Land bedrohten. Die Gesandten von Egesta baten nun die Athener in der Volksversammlung um Unterstützung und beriefen sich dabei auf das Bündnis, welches der athenische Feldherr Laches 426 v. Chr. während der ersten sizilischen Expedition mit Egesta geschlossen hatte. Als wichtigste Begründung für Athens Intervention in den Konflikt auf Sizilien gaben die Egestaner einen Präventivschlag Athens gegen Syrakus an. Sie schilderten, dass die Syrakusaner Athens Macht stürzen könnten, wenn sie erstmal die gesamte Macht über Sizilien erlangt haben und gemeinsam mit den Dorern an der Seite ihres peloponnesischen Verwandten Sparta gegen Athen kämpfen würden. Als weiteres Überzeugungsmittel führten die Gesandten von Egesta an, dass ihnen ausreichend finanzielle Mittel zur Kriegsführung zur Verfügung stehen würden und sie somit Athen nicht zusätzlich finanziell belasten würden7. Die Athener beschlossen 415 v. Chr. in der Volksversammlung, nachdem athenische Gesandte aus Egesta zurückkamen und den beschriebenen Reichtum bestätigten, ein Expeditionsheer von 60 Schiffen unter dem Kommando von Nikias, Alkibiades und Lamachos nach Sizilien zu schicken8. Im Vorfeld erklärt Thukydides, dass die Sizilienexpedition der Athener vordergründig aus dem Wunsch geschah, „das ganze Land zu beherrschen“9 und das zu Hilfekommen ihrer Bündnisgenossen sahen sie nur als einen geeigneten Vorwand zum Erreichen dieses Ziels an10. Der Expansionswunsch der Athener sowie der wiederkehrende Wohlstand können somit als Ursache und Erklärung für die Expedition gesehen werden. Das Hilfegesuch der Egestaner diente demnach lediglich als geeigneter Auslöser und Legitimation dieser Unternehmung.
3. Im Vorfeld der Expedition
3.1 Die Feldherrnreden von Nikias und Alkibiades
Vier Tage nach Beschluss der Expedition kam die Volksversammlung erneut zusammen, um über die notwendige Ausrüstung sowie spezielle Forderungen zu beraten11. Nikias wurde bei dieser Unternehmung gegen seinen Willen zum Feldherrn gewählt und ist ein klarer Opponent der Expedition, denn er war der Meinung „die Stadt habe nicht den richtigen Beschluss gefasst, sondern stürze sich unter nichtigem, nur scheinbar schönem Vorwand auf ein großes Unternehmen, nämlich (die Unterwerfung von) ganz Sizilien“12. Diese Aussage seitens Nikias verdeutlicht, dass er des Expansionswunsches der Athener kundig gewesen war. Diesen Willen versucht er in seiner nachfolgenden Rede vor der Volksversammlung durch vernünftige und rationale Argumente zu bremsen, indem er auf die Risiken einer solch großen Unternehmung hinweist, die Athener vor überstürzten Entscheidungen warnt und Alkibiades beschuldigt, die Expedition lediglich aus egoistischen Zielen voranzutreiben. Nikias greift seinen Antagonisten Alkibiades in seiner Rede direkt an, spricht ihm seine Fähigkeiten als Feldherrn aufgrund seiner Jugend ab und kreidet ihm seinen verschwenderischen Lebensstil an13. Thukydides differenziert an dieser Stelle zwischen Nikias und den Athenern und betont somit, dass Nikias nicht mit der Meinung der Athener konform geht. Er skizziert Nikias weiterhin als einen weisen und weitsichtigen Politiker, der an die Vernunft des Volkes appelliert. Dennoch ließen sich die Athener nicht von ihrem Kurs abbringen14, wodurch Thukydides die Stärke des athenischen Wunsches nach Expansion aufzeigt. Nachfolgend trat Alkibiades vor die Volksversammlung. Im Vorfeld seiner Gegenrede präsentiert Thukydides ein zweischneidiges Bild von Alkibiades. Er unterstreicht die egoistischen Beweggründe Alkibiades in Bezug auf die Expedition und sieht in seiner Gegenrede zu Nikias die Ausläufer ihrer persönlichen politischen Fehde. Des Weiteren prangert er seine ausschweifende Lebensführung an, denn sie sei der Grund weshalb die Athener Vorsicht und Skepsis gegenüber Alkibiades walten lassen und an seiner Stelle stets anderen Männern die Ämter übertragen, obwohl er „in seiner Amtsführung den Forderungen des Krieges am trefflichsten begegnete“15. Dementsprechend stürze aus Sicht des Thukydides sowohl Alkibiades mit seinem Lebensstil als auch die daraus resultierende Skepsis der Athener den Staat ins Verderben16. In seiner Rede plädiert Alkibiades für die Expedition und schildert die Lage auf Sizilien als leicht zugänglich für das athenische Expeditionsheer. Außerdem verweist er auf ihre Bündnispflicht gegenüber den Egestanern und rechtfertigt diesen Präventivschlag zur Sicherung der Macht Athens. Er spricht obendrein von der Herrschaft Athens über ganz Hellas im Falle einer geglückten Expedition17. Thukydides lässt durch diese Aussage ebenfalls expansive Gedanken bei Alkibiades anklingen, die sich im Verlauf des Werkes wiederholt bestätigen lassen. In der Rede von Hermokrates, der die Syrakusaner vor der herannahenden athenischen Flotte warnt, wird den Athenern „das Verlangen nach dem Besitz Siziliens“18 angelastet. Ebenso offenbart Alkibiades nach seiner Flucht den Spartanern, dass es von Beginn an Athens Absicht gewesen sei, zunächst Sizilien, dann Karthago und schließlich den gesamten Peloponnes anzugreifen und zu erobern19. Fernbeziehungen von Reden dieser Art sind charakteristisch für das Werk Thukydides und dienen als Mittel zur Authentizitätssteigerung des dargelegten Inhalts20. Alkibiades Rede bewirkte die gewünschte Reaktion beim Volk, sie drangen „noch viel mehr als vorher auf den Feldzug“21. In Anbetracht dieser Tatsache trat Nikias ein zweites Mal vor die Volksversammlung und versuchte sie umzustimmen, indem er ihnen die Größe des Unternehmens darlegte. Er forderte eine enorme Aufstockung des Expeditionsheers einhergehend mit der entsprechenden Versorgungslogistik. Des Weiteren skizzierte er ein gänzlich anderes Bild von Sizilien als Alkibiades, denn die Städte seien ebenfalls demokratisch organisiert und würden daher keine Symmachie mit Athen eingehen. Lediglich die Poleis Naxos und Katane sieht er aufgrund von Verwandtschaftsverhältnissen auf Athens Seite. Weiterhin weist er auf die hohe Anzahl an Schwerbewaffneten und die starke syrakusanische Reiterei hin, die er insgesamt vier Mal in seiner Ausführung erwähnt22. Nikias Einschätzungen zu den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und militärischen Gegebenheiten auf Sizilien sollen sich im Verlauf des Werkes bewahrheiten. Es gibt Theorien, dass Nikias ein proxenos von Syrakus gewesen sein solle, aus diesem Grund soll er besser über die Verhältnisse auf der Insel informiert gewesen sein als die beiden anderen Feldherren23. Zur Bestätigung dieser Theorie liegen aktuell keine stichhaltigen Beweise vor, nichtsdestotrotz betont Thukydides in seinem Werk immer wieder den Wissens- und Informationsvorsprung des Nikias gegenüber den anderen Feldherren und dem Volk in Bezug auf Sizilien24. Diese Diskrepanz stellt Thukydides auch literarisch heraus, indem er seiner Beschreibung der Expedition einen Exkurs über die Geographie und die Bevölkerung Siziliens voranstellt25. Auf diese Weise soll die Leserschaft über ein besseres Basiswissen verfügen als die Athener und sich vernunftbasiert auf Seiten Nikias positionieren und somit auch Thukydides Standpunkt vertreten. Es kristallisiert sich heraus, dass Thukydides mit der Meinung des Nikias konform geht und daher im weiteren Verlauf der Narration über die Geschehnisse in Sizilien immer wieder die Übereinstimmungen von Nikias Warnungen an das athenische Volk und den eintretenden Ereignissen auf Sizilien betont26. Nikias erreichte mit seiner zweiten Rede das Gegenteil seiner Absicht, das Volk tauchte noch tiefer in die Euphorie ab und das Truppenkontingent wurde von 60 auf 134 Schiffe aufgestockt27. An dieser Stelle ist fraglich, weshalb Nikias nicht auf die schlechten Erfahrungen aus der ersten sizilischen Expedition in seiner Gegenargumentation verweist28, denn dies hätte möglicherweise einen Denkanstoß liefern können. Thukydides beschreibt infolge der starken Euphorie unter den Athenern das Phänomen, dass sich manch ein Zweifler aus Angst vor der Masse nicht traute gegen die Expedition zu stimmen29. Aus diesen Textstellen geht deutlich hervor, dass die Entscheidungsgewalt bei der Volksversammlung lag. Sie entschied sich für den Aufbruch nach Sizilien trotz der rationalen Gegenargumente des Nikias. Die entfachte Leidenschaft innerhalb des Volkes verhinderte eine rationale Betrachtung der Sachverhalte, sodass eine vernünftige Entscheidung basierend auf einer abwägenden Planung nicht möglich war30.
[...]
1 Turner, Thucydides: S.239.
2 Vgl. Schulz, Athen: S. 119.
3 Vgl. Sonnabend, Thukydides: S.154.
4 Vgl. Sonnabend, Thukydides: S.147-148.
5 Vgl. Kagan, The Peace of Nicias: S. 17-20.
6 Vgl. Burrer, Kriegskosten: S.35.
7 Vgl. Thuk. 6,6,2.
8 Vgl. Thuk. 6,8,2.
9 Thuk. 6,6,1.
10 Vgl. Thuk. 6,6,1.
11 Vgl. Thuk. 6,8,3.
12 Thuk. 6,8,4.
13 Vgl. Thuk. 6,9,1-6,14,1.
14 Vgl. Thuk. 6,15,1.
15 Thuk. 6,15,4.
16 Vgl. Thuk. 6,15,4.
17 Vgl. Thuk. 6,17,2-6,18,7.
18 Thuk. 6,33,2.
19 Vgl. Thuk. 6,90,2-6,90,4.
20 Vgl. Rengakos, Fernbeziehungen: S.398.
21 Thuk. 6,19,1.
22 Vgl. Thuk. 6,20,1-6,23,4.
23 Vgl. Trevett, Nicias: S.246.
24 Vgl. Thuk. 7,48,2.
25 Vgl. Stahl, Literarisches Detail: S.71; siehe dazu: Thuk. 6,1,1-6,6,3.
26 Vgl. Stahl, Literarisches Detail: S.71.
27 Vgl. Thuk. 6,24,2.
28 Vgl. Meier-Welcker, Athen: S.13.
29 Vgl. Thuk. 6,24,4.
30 Vgl. Meier-Welcker, Athen: S.18.