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Seminararbeit, 2020
26 Seiten, Note: 13
Jura - Europarecht, Völkerrecht, Internationales Privatrecht
Literaturverzeichnis
I. Einleitung
II. Begriffserklärung
III. Der Sachverhalt im Fall Falk Pharma
IV. Instanzenzug
V.1. Vorlagefrage
VI.2. Vorlagefrage
VII. Fazit zur „Falk Pharma“-Entscheidung
IIX. Rechtsprechungsentwicklung seit „Falk Pharma“-Entscheidung
IX. Kritik- und Konfliktpunkte bezüglich Open-House-Verfahren
X. Fazit
- Burgi, Martin: Vergaberecht, 2. Auflage 2018.
- Burgi, Martin: Hilfsmittelverträge und Arzneimittelrabattverträge als öffentliche Lieferaufträge? NZBau, 2008, 480-486.
- Burgi, Martin/Dreher, Meinrad [Hrsg.]: Beck´scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2017.
- Csaki, Alexander: Vorliegen einer Auswahlentscheidung bei öffentlichem Auftrag – Open-House-Modell, NZBau 2018, 598-600.
- Dreher, Meinrad/Hoffmann, Jens: Der Auftragsbegriff nach§99GWBund die Tätigkeit der gesetzlichen Krankenkassen , NZBau2009, 273 – 282.
- Dreher, Meinrad: Die Open-House-Verfahren Entwicklung und Stand der vergaberechtsfreien Zulassungsverfahren, NZBau 2019, 275 - 284.
- Dreher, Meinrad/Hoffmann, Jens: Der Auftragsbegriff nach§99GWBund die Tätigkeit der gesetzlichen Krankenkassen , NZBau2009, 273 – 282.
- Gabriel, Marc: Offenes Haus, geschlossene Tür: Der Vergaberechtsschutz bei Open-House-Verfahren vor dem aus, NZBau 2019, 568-570.
- Gabriel, Marc/Burholt, Christian: First come first served? – Open-House Rabattverträge für „substitutionsschwache“ Generika-Arzneimittel aus vergabe- und kartellrechtlicher Sicht, PharmR 2017, 323- 332.
- Gabriel, Marc/Krohn, Wolfram/Neun, Andreas: Handbuch des Vergaberechts, 2. Auflage 2017.
- Gaßner, Maximilian: Das Open-house-Urteil des EuGH – Ein Geschenk für kreative Beschaffer, NZS 2016, 767-770.
- Gaßner, Maximilian/Strömer, Jens: Arzneimittelrabattverträge als Allgemeine Geschäftsbedingungen, PharmR 2015, 41-52.
- Gaßner, Maximilian/Strömer, Jens: Mutiges Querdenken oder Abschied von der klassischen Subsumtion? NZS 2014, 811 – 815.
- Gaßner, Maximilian/Sauer, Stefan: Open-House-Verträge und Biosimilars im Spannungsfeld unterschiedlicher Regulierungsmechanismen, PharmR 2018, 288-295.
- Hänlein, Andreas/Schuler, Rolf,[Hrsg.]: Sozialgesetzbuch V, 5. Auflage 2016.
- Kaeding, Nadja: Ausschreibungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen oberhalb der Schwellenwerte, PharmR 2007, 239-247.
- Körner, Anne [Hrsg.]: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 107. EL Dezember 2019.
- Koop, Thorsten: Die (Nicht-)Anwendbarkeit des neuen Vergaberechts auf Verträge nach § 21 SGB IX über die Erbringung von Rehabilitationsleistungen, NZS 2017, 103 – 106.
- Lüttmann, Sarah: Beschaffung als Anwendungsvoraussetzung des deutschen und europäischen Vergaberechts, 2018.
- Neun, Andreas, Vergaberechtsfreiheit des „Open-House-Modells“, NZBau 2016, 681-684.
- Otting, Olaf: Das Vergaberecht als Ordnungsrahmen in der Gesundheitswirtschaft zwischen GWB und SGB V, NZBau 2010, 734 – 739.
- Portner, David/Rechten, Stephan: Das Open-House-Modell– Möglichkeiten für eine praxisgerechte Verfahrensausgestaltung, NZBau 2017 587-592.
- Rolfs, Christian/Giesen, Richard/Kreikebohm, Ralf/Udsching, Peter [Hrsg.]: BeckOK Sozialrecht, 56. Edition 2020.
- Säcker, Franz Jürgen [Hrsg.]: Münchner Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Auflage 2018.
- Schickert, Jörg: Rabattverträge für patentgeschützte Arzneimittel im Sozial- und Vergaberecht, PharmR 2009, 167 – 173.
- Schulze, Reiner/Dörner, Heinrich/ Ebert, Ina u.a: Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage 2019.
- Streinz, Rudolf [Hrsg.]: EUV/AEUV, 3. Auflage 2018.
- Weyand, Rudolf: Vergaberecht, 17. Aktualisierung 2015.
- Zimmermann, Eric: Keine Ausschreibungspflicht für Hilfsmittelverträge, NZBau 2010, 739 – 742.
Das europäische und deutsche Vergaberecht befinden sich in einer ständigen Ausdehnung, durch die immer mehr Lebensbereiche erfasst werden.1 Insbesondere mit Vergaben im Bereich der Arzneimittel- und Hilfsmittelbesorgung sind Bereiche betroffen, in denen ein strenges, formales Vergaberegime auf unterschiedliche und somit nicht immer passgenaue Voraussetzungen für eine öffentliche, europaweite Ausschreibung trifft.2
Um die vergaberechtlichen Bindungen zu umgehen, werden in der Beschaffungspraxis viele Methoden angewandt;3 eine davon ist das sogenannte Open-House-Verfahren. Dieses Vertragsmodell hat sich nicht zuletzt im Bereich der Arzneimittelrabattvereinbarungen etabliert, wo heutzutage mehr als jede dritte im Wege eines Open-House-Verfahrens abgeschlossen wird.4 Eine in einem solchen Verfahren abgeschlossene Arzneimittelrabattvereinbarung war Gegenstand der EuGH-Urteils vom 02.06.2016 in der Rechtsache „Falk Pharma“, in der sich der EuGH erstmals und grundlegend zu Open-House-Verfahren äußerte.5 Der europäische Gerichtshof hatte sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob eine Auftragsvergabe nach dem Open-House-Modell zwingend dem europäischen Vergaberecht unterfällt, und, falls dies nicht der Fall sein sollte, welche Anforderungen an ein vergaberechtsfreies Zulassungsverfahren zu stellen sind.
Um zu verstehen, warum und wann das Open-House-Modell eine Ausnahme von der Anwendbarkeit des Vergaberechts darstellen kann, ist zunächst die Idee und das Grundkonzept eines Open-House-Verfahrens sowie das Wesen und die Funktionsweise einer Arzneimittelrabattvereinbarung nach § 130a Abs. 8 SGB V zu klären, um die damit verbundenen Besonderheiten und Berührungspunkte mit den Vorschriften des Vergaberechts erkennen zu können.
Bei der Auftragsvergabe im Open-House-Verfahren gibt ein öffentlicher Auftraggeber i. S. d. § 97 GWB gegenüber einer unbestimmten Zahl an Unternehmen öffentlich ein verbindliches Angebot zum Abschluss eines Vertrags über die Beschaffung von Waren oder Dienstleistungen ab.6 Der Auftraggeber verpflichtet sich, den Open-House-Vertrag mit jedem Unternehmer, der die im Angebot genannten Voraussetzungen erfüllt und einen Teilnahmeantrag abgibt, abzuschließen,7 ohne das vorab eine Auswahl unter den Wirtschaftsteilnehmern stattfindet.8 Auf Grundlage der vom Auftraggeber einheitlich gestellten Konditionen können dann die definierten Waren oder Dienstleistungen abgerufen werden, wobei der Abrufende nicht der öffentliche Auftraggeber selbst sein muss.9 Solche Open-House-Verträge sind hinsichtlich der Teilnehmerzahl nicht limitiert, vielmehr haben alle interessierten und geeigneten Unternehmen die Möglichkeit, ihr jederzeitiges Beitrittsrecht auszuüben und Vertragspartner des Rabattvertrages zu werden.10
Dadurch, dass sich also mehrere Unternehmen an dem Vertragssystem beteiligen können, soll den Versicherten eine möglichst breite Auswahl an Arzneimitteln zur Verfügung gestellt und das Lieferausfallrisiko minimiert werden.11
Die gesetzlichen Krankenkassen haben die Pflicht, ihre Leistungspflichten so wirtschaftlich wie möglich zu erfüllen. Dies kommt insbesondere in den §§ 4 Abs. 4, 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V zum Ausdruck. Sie sollen mit dem geringstmöglichen Aufwand die erforderliche – ausreichende und zweckmäßige – Leistung erbringen.12 Eine Methode, die wirtschaftliche Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln zu gewährleisten, ist in § 130a Abs. 8 SGB V normiert. Demnach können gesetzliche Krankenkassen mit pharmazeutischen Unternehmen Rabattvereinbarungen über Arzneimittel abschließen. Hierdurch verpflichtet sich der Hersteller des Arzneimittels einerseits zur Lieferung des Arzneimittels, andererseits zu einer Rabattgewährung.13 Dieser Rabatt erfolgt dann im Rahmen von monats- oder quartalsweise berechneter, anteiliger Rückerstattungen des Kaufpreises, sodass die Krankenkassen hierdurch einen Rabatt auf den Listenpreis erhalten.14
Einen solchen Vertragsabschluss im Wege eines Open-House-Verfahrens strebte die Deutsche Angestellten-Krankenkasse, DAK Gesundheit, an.15 Die DAK veröffentlichte am 28. August 2013 im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union eine Bekanntmachung über ein Zulassungsverfahren für Arzneimittel mit dem Wirkstoff Mesalazin, um sich solche in Form eines Rabattvertrages gemäß § 130a Abs. 8 SGB V zu beschaffen.
Im Rahmen des Zulassungsverfahrens sollte mit jedem interessierten Unternehmen, das die Zulassungskriterien erfüllt, zu im Voraus festgelegten, gleichlautenden und nicht verhandelbaren Vertragsbedingungen ein solcher Rabattvertrag abgeschlossen werden. Der Rabatt wurde hierbei einheitlich auf 15% auf den Herstellerabgabepreis festgesetzt.
Zusätzlich war es jedem weiteren Unternehmen, das die Kriterien erfüllt, möglich, während der Laufzeit des Rabattvertrags vom 01.10.2013 bis zum 30.09.2015 dem System der Rabattverträge zu denselben Konditionen beizutreten. Das Zulassungsverfahren wurde in der Bekanntmachung vom 28.08.2013 als ein nicht dem Vergaberecht unterliegendes deklariert.
Am 05.12.2013 wurde ein Rabattvertrag mit der einzigen Interessentin Kohlpharma GmbH geschlossen, der sodann am 22.02.2014 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde.
Gegen das von der DAK angewandte Zulassungsverfahren wandte sich die Dr. Falk Pharma GmbH. Diese vertrat die Ansicht, das angewandte Zulassungsverfahren sei vergaberechtswidrig erfolgt und reichte daher unter dem 17.01.2014 einen Nachprüfungsantrag ein, mit dem sie unter anderem die Anordnung zur Durchführung einer Ausschreibung nach Vergaberecht begehrt hat. Die 1. Vergabekammer des Bundes erklärte das Vergaberecht auf das angewandte Open-House-Verfahren für anwendbar mit der Folge, dass das Zulassungsverfahren der DAK vergaberechtswidrig erfolgte.16
Gegen diese Entscheidung legten sowohl die Dr. Falk Pharma GmbH, als auch die DAK sofortige Beschwerde beim OLG Düsseldorf ein.17 In diesem Zusammenhang hielt es das OLG „nicht für ausgeschlossen, dass Auftragsvergaben in bloßen Zulassungsverfahren ("Open-House-Modell") nicht dem Vergaberecht unterfallen.“18
Um jedoch unionsrechtliche Zweifel an dieser Auffassung auszuräumen, setzte das OLG das Verfahren aus und legte durch Beschluss vom 13.08.2014 die Streitsache dem EuGH vor, der nun im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 Abs. 1 lit.b), Abs. 2 AEUV zu zwei Vorlagefragen Stellung beziehen sollte.19
Der EuGH hatte darüber zu befinden, ob es sich bei dem Abschluss eines Arzneimittelrabattvertrags nach §130a Abs. 8 SGB V, der mit allen interessierten Wirtschaftsteilnehmern auf der Grundlage eines Zulassungsverfahrens ohne Auswahlentscheidung geschlossen wird, um einen öffentlichen Auftrag im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. a) Richtlinie 2004/18/EG handelt.20 Das Vorliegen der geschriebenen Tatbestandsmerkmale stellte der EuGH hierbei nicht streitig. Er stellte lediglich kurz fest, dass der im Open-House-Verfahren abgeschlossene Arzneimittelrabattvertrag der Definition des öffentlichen Auftrags im Sinne der Richtlinie entspricht.21 Allerdings war lange umstritten, ob das Vergaberecht überhaupt auf Arzneimittelrabattverträge anwendbar ist22 und Arzneimittelrabattverträge öffentliche Aufträge im Sinne des § 103 Abs. 1 GWB darstellen können23, sodass diese Streitfragen kurz darzustellen sind.
1. Geschriebene Tatbestandsmerkmale
a) Grundsätzliche Anwendbarkeit auf Arzneimittelrabattverträge
Die Anwendbarkeit des Vergaberegimes setzt allgemein voraus, dass ein öffentlicher Auftraggeber, § 99 GWB, einen öffentlichen Auftrag, § 103 GWB, vergibt, der den maßgeblichen Schwellenwert, § 106 GWB, erreicht oder überschreitet und kein Ausnahmetatbestand vorliegt.24
§ 69 SGB V in der Fassung vom 18.12.2008 erklärte das vierte Kapitel des SGB V und damit auch die Regelung des § 130a Abs. 8 SGB V zu Rabattvereinbarungen als abschließend, sodass die Regelungen des GWB keine Anwendung finden sollten. 2008 wurde durch Art. 1 Nr. 1e des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) ein zweiter Absatz in § 69 SGB V als Rechtsgrundverweis25 eingefügt, der ausdrücklich die Anwendbarkeit des Vergaberechts vorschreibt, sofern die Voraussetzungen eines öffentlichen Auftrags vorliegen. Seit dem 06.08.2016 ergibt sich die Anwendbarkeit aus § 69 Abs. 3 SGB V, ebenfalls als Rechtsgrundverweis.26
b) Gesetzliche Krankenkassen als öffentliche Auftraggeber
Lange war umstritten, ob die deutschen gesetzlichen Krankenkassen das Merkmal einer überwiegend staatlichen Finanzierung i. S. d. § 99 Nr. 2 lit. a GWB erfüllen und somit öffentliche Auftraggeber sind.27 Dies wurde durch das EuGH Urteil vom 11.6.2009 in der Rechtssache „Orthopädie Schuhtechnik“ bejahend geklärt.28
c) Arzneimittelrabattvereinbarung als öffentlicher Auftrag
Auch das Vorliegen der geschriebenen Voraussetzungen des öffentlichen Auftrages ist im Zusammenhang mit Arzneimittelrabattverträgen auf den ersten Blick nicht eindeutig. Gemäß § 103 Abs. 1 GWB sind öffentliche Aufträge entgeltliche Verträge zwischen öffentlichen Auftraggebern oder Sektorenauftraggebern und Unternehmen über die Beschaffung von Leistungen, die die Lieferung von Waren, die Ausführung von Bauleistungen oder die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand haben.
aa) Entgeltlichkeit
Der Begriff der Entgeltlichkeit im Sinne des § 103 GWB ist weit auszulegen,29 sodass es ausreicht, dass sich der Auftraggeber durch ein einheitliches Leistungsaustauschgeschäft zu einer geldwerten Gegenleistung für die Leistung des Auftragnehmers verpflichtet.30 Entscheidend ist, ob und wie stark der Abschluss des Vertrages die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass vergütungspflichtige Lieferleistungen des Unternehmers abgerufen werden, sodass bereits der Vertragsschluss als solcher einen wirtschaftlichen Mehrwert für ihn begründet.31 Betrachtet man den Rabattvertrag isoliert, so ist zunächst keine Gegenleistung der Krankenkassen für die zusätzliche Rabattierung der Arzneimittel durch die pharmazeutischen Unternehmen ersichtlich; im Rahmen der Beschaffung von Krankenkassen liegt nämlich die Entscheidung, ob, wann und in welchem Umfang ein Abruf erfolgt, nicht bei ihr, sondern wird durch die Verordnungsentscheidung des Arztes oder die allgemeine Morbidität bestimmt.32 Somit ist durch den Vertragsschluss als solchen noch nicht sicher, ob Medikamente des Auftragnehmers überhaupt abgerufen werden. Allerdings ist der Apotheker gemäß § 129 Abs. 1 S. 3 SGB V verpflichtet, für den von ihm bzw. dem Versicherten benötigten Wirkstoff gerade das Medikament auszuwählen, das Gegenstand eines Rabattvertrages gemäß § 130 Abs. 8 SGB V ist. Schließt die Krankenkasse also einen Rabattvertrag mit einem Pharmahersteller ab, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die Medikamente, die Inhalt des Rabattvertrages sind, vom Apotheker abgerufen werden. Dieser hierdurch geschaffene Anreiz wird durch eine weitere Vorschrift nochmals verstärkt. Besteht der Versicherte nämlich nicht darauf, ein anderes als das vom Rabattvertrag erfasste Medikament zu erhalten, kann die Zuzahlung um die Hälfte ermäßigt oder ganz aufgehoben werden, § 31 Abs. 3 S. 5 SGB V. Im Ergebnis ist ein solcher Rabattvertrag somit ein entgeltlicher Vertrag im Sinne des Vergaberechts.33
bb) Lieferleistung
Auch das Merkmal der Lieferleistung ist klärungsbedürftig. Gemäß§ 103 Abs. 2 GWB sind Lieferaufträge „Verträge zur Beschaffung von Waren, die insbesondere Kauf oder Ratenkauf oder Leasing, Miet- oder Pachtverhältnisse mit oder ohne Kaufoption betreffen”.
Rabattverträge müssten also der Beschaffung von Waren dienen. Ein Beschaffungsbezug setzt voraus, dass der Auftraggeber einen Bedarf für sich erkennt, den er nicht anders als durch Inanspruchnahme von Leistungen am Markt decken kann oder will.34
Ausgangspunkt der Frage ist das in § 2 Abs. 2 S. 1 SGB V normierte, für das Krankenversicherungsrecht grundlegende Sachleistungsprinzip.35 Hierdurch erhalten die Versicherten gegenüber ihrer Versicherung einen Anspruch allein auf die Verschaffung der für die Behandlung erforderlichen Sachleistung. Diesen Anspruch erfüllen die Krankenkassen meist nicht selbst, sondern durch entsprechende Verträge mit den jeweiligen Leistungserbringern.36 Die Vergütung für die Sachleistung wird von der Krankenkasse an den Leistungserbringer gezahlt.37 Im Ergebnis folgen die Leistungsbeziehungen einem Dreiecksverhältnis. Dies führt dazu, dass die Sachleistung gegenüber den Versicherten und nicht unmittelbar gegenüber den Krankenkassen erbracht wird.38
Bei genauer Betrachtung hat ein Rabattvertrag also nicht den Gegenstand der Warenlieferung an den öffentlichen Auftraggeber zum Gegenstand.39 Da die Tatbestandsmerkmale des Vergaberechts aber teilweise sehr offen sind,40 ist deren Auslegung von enormer Bedeutung. Um dem Zweck des deutschen und europäischen Vergaberechts, potenziellen Bietern den Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu garantieren, gerecht zu werden, ist eine funktionale Auslegung des Begriff des Auftrags im Sinne der §§ 97 ff. GWB und der Vergaberichtlinie anzulegen.41 Bei einer gebotenen funktionalen Betrachtung erhält der Versicherte die Medikamente aber von seiner Krankenkasse, die diese vorher vom pharmazeutischen Unternehmer bezogen hat, auch wenn der Versicherte diese vom Apotheker ausgehändigt bekommt.42. Im Ergebnis liegt also ein – wenn auch nur mittelbarer - Beschaffungsvorgang durch die Krankenkassen vor,43 sodass der Arzneimittelrabattvertrag den erforderlichen Beschaffungsbezug aufweist.
d) Ergebnis
Damit liegen die geschriebenen Voraussetzungen eines öffentlichen Auftrages vor, sodass es grundsätzlich möglich ist, im Open-House-Verfahren abgeschlossene Arzneimittelrabattverträge als öffentliche Aufträge im Sinne des nationalen und europäischen Vergaberechts anzusehen.
2. Auslegungsfrage: Auswahlentscheidung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal
Der EuGH stand nun vor der Frage, ob über die geschriebenen Tatbestandsmerkmale hinaus weitere Anforderungen an den öffentlichen Auftrag im Sinne der im Beurteilungszeitpunkt des Verfahrens noch anwendbaren Richtlinie 2004/18/EG zu stellen sind. Die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge bildete den wichtigsten Bestandteil des sog. Legislativpakets zur Reform sämtlicher Bereiche des europäischen Vergaberechts und stellte bis zur Reform 2014-2016 das Herzstück des europäischen Vergaberechts dar.44 Unter anderem führte sie durch die Zusammenführung der zuvor in getrennten Richtlinien geregelten Bereiche der Beschaffung von Bauleistungen, Dienstleistungen und anderen Leistungen zu einer Vereinfachung des europäischen Vergaberechts.45 Im Kern ging es um die Frage, ob das Treffen einer Auswahlentscheidung bezüglich eines oder mehrerer Wirtschaftsteilnehmer für die Annahme eines öffentlichen Auftrags und damit für die Anwendbarkeit des Vergaberegimes erforderlich ist. Diese Frage wurde in Rechtsprechung und Literatur bereits vor dem Vorlagebeschluss des EuGH viel diskutiert, sodass zunächst der Meinungsstand und die Entscheidungspraxis bis zur Vorlage an den EuGH kurz skizziert wird.
a) Meinungsstand vor „Falk Pharma“-Entscheidung
Die ersten Streitfragen bezüglich des Erfordernisses einer Auswahlentscheidung für die Annahme eines öffentlichen Auftrages kamen in der Rechtsprechung im Zusammenhang mit einem Hilfsmittelvertrag mit Beitrittsrecht gemäß § 127 Abs. 2, Abs. 2a SGB V auf. Mit Beschluss vom 10.04.2010 erklärte das LSG Nordrhein-Westfalen, dass eine Auswahlentscheidung und die daraus resultierende Einräumung von Exklusivität als konstitutiver Bestandteil eines öffentlichen Auftrages anzusehen ist.46 Diese Entscheidung wurde in der Literatur von Befürwortern als in sich schlüssig und die vergaberechtlichen Anforderungen in Verbindung mit dem Sinn und Zweck des SGB V gekonntabwägend47 bezeichnet, anderen Autoren nach sei der pauschalen Nichtanwendbarkeit des Vergaberechts mangels Exklusivität nicht zu folgen.48 Allein dieses gegensätzliche Verständnis zeigt den Klärungsbedarf auf, der auch in der Folge durch Rechtsprechung nicht einheitlich gedeckt werden konnte. 2011 entschied die 3. VK Bund, dass das Treffen einer Auswahlentscheidung und damit die Gewährleistung von Exklusivität im Rahmen eines Rabattvertrages gemäß § 130a Abs. 8 SGB V als Qualifizierung für einen öffentlichen Auftrag weder das europäische, noch das nationale Vergaberecht vorsieht. Vielmehr ist eine Auswahlentscheidung lediglich Folge einer Vergabe im Wettbewerb49, sodass das Vergaberecht auf Open-House-Verträge anzuwenden ist. Demgegenüber bezog das OLG Düsseldorf 2012 in einer anderen Entscheidung trotz mangelnder Entscheidungserheblichkeit für den streitigen Sachverhalt kurz Stellung zu dieser Frage und führte aus, dass es aufgrund einer fehlenden Auswahlentscheidung des Auftraggebers wohl nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass bloße Zulassungen nicht dem Vergaberecht unterfallen.50 2014 führte die VK Bund ihre Entscheidungspraxis fort und erklärte das Vergaberecht auf Open-House-Verträge im Fall „Falk Pharma“ trotz fehlender Auswahlentscheidung für anwendbar,51 was durch die sofortigen Beschwerden zum OLG und der Aussetzung des Verfahrens zum in dieser Arbeit gegenständlichen Vorabentscheidungsverfahren des EUGH führte. Im Ergebnis standen sich zu diesem Zeitpunkt somit sowohl in Literatur als auch in der Rechtsprechung gegensätzliche Ansichten gegenüber. Im Rahmen des Vorlagebeschlusses hatte der EuGH nun die Möglichkeit, Rechtsklarheit zu schaffen.
b) Argumentationsstruktur des EuGH
Die Entscheidung des EuGH fiel kurz und ohne Schlussanträge des Generalanwalts aus.52
aa) Telos
Für das Erfordernis der Auswahlentscheidung führte der EuGH zunächst den Sinn und Zweck der Vergaberichtlinie als Argument an. Durch die Vergaberichtlinie soll primär die Bevorzugung inländischer Wirtschaftsteilnehmer verhindert werden. Diese Ziele finden sich zunächst in Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2004/18/EG wieder, wonach die Einhaltung der Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung bei der öffentlichen Auftragsvergabe gesichert werden sollen. Dieser Zweck wurde auch in Artikel 2 der Richtlinie aufgenommen, wonach die öffentlichen Auftraggeber alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend behandeln und in transparenter Weise vorgehen. Nach Erwägungsgrund 3 sollen die einzelnen Mitgliedsstaaten innerhalb ihrer geltenden Verfahren und Verwaltungspraktiken die Koordinierungsbestimmungen der Richtlinie so weit wie möglich berücksichtigen. Eine Bevorzugung eines Bieters ist jedoch nur möglich, wenn der Auftraggeber diesen, zum Nachteil eines anderen Bieters, auswählt, dieser also exklusive Rechte erlangt.53 Findet jedoch keine Auswahl eines oder mehrerer Wirtschaftsteilnehmer statt, so ist eine solche Bevorzugung von vornherein nicht möglich, die Möglichkeit einer Bevorzugung ist eng mit der vom öffentlichen Auftraggeber beabsichtigten Auswahl verbunden.54
[...]
1 Dreher, NZBau 2019, 275.
2 Dreher, NZBau 2019, 275.
3 Gaßner, NZS 2016, 767.
4 Gabriel, NZBau 2019, 568.
5 Dreher, NZBau 2019, 277.
6 Gaßner, NZS 2016, 767.
7 Gaßner, NZS 2016, 768.
8 Portner/Rechten, NZBau 2017, 587.
9 Gaßner/Sauer, PharmR 2018, 290.
10 Gabriel/Burholt, PharmR 2017, 323.
11 Gabriel, in: Gabriel/Krohn/Neun, § 79 Rn. 31.
12 Schuler, Sozialgesetzbuch V, § 2 Rn. 2.
13 Burgi, NZBau 2008, 484.
14 Gabriel/Burholt, PharmR 2017, 323.
15 EuGH, Urteil vom 02.06.2016, Rs. C-410/14 „Falk Pharma“.
16 VK Bund, 20.02.2014 - VK 1-04/14.
17 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.08.2014 - VII-Verg 13/14, Rn. 22.
18 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.08.2014 – VII-Verg 13/14, Rn. 47.
19 EuGH, Urteil vom 02.06.2016, Rs. C-410/14 „Falk Pharma“.
20 EuGH, Urteil vom 02.06.2016, Rs. C-410/14 „Falk Pharma“.
21 EuGH, Urteil vom 02.06.2016, Rs. C-410/14 „Falk Pharma“, Rn.33.
22 Tugendreich, in: MüKO § 103 GWB Rn. 46.
23 Burgi, NZBau 2008, 484.
24 Koop NZS 2017, 104.
25 Schickert, PharmR 2009, 165.
26 Krasney, in: Kasseler Kommentar SGB V, § 69 Rn. 63.
27 Gabriel, in: Gabriel/Krohn/Neun, § 75 Rn. 7.
28 EuGH, Urteil vom 11.06.2009, Rs. C-300/07, „Orthopädie Schuhtechnik“.
29 Hüttinger, in: Beck´scher Vergaberechtskommentar, § 103 GWB Rn. 94.
30 OLG Naumburg, NZBau 2012,260.
31 Gabriel,in: Gabriel/Krohn/Neun, § 75 Rn. 12.
32 Gabriel, in: Gabriel/Krohn/Neun, § 75 Rn. 9.
33 Tugendreich, in: Müko § 103 GWB Rn. 48.
34 BGH, Beschl. v. 01.02.2005, X ZB 27/04, S. 15.
35 Jousen in: BeckOK Sozialrecht, § 2 SGB V Rn. 5.
36 Jousen in: BeckOK Sozialrecht § 2 SGB V Rn. 6.
37 Kaeding, PharmR 2007, 244.
38 Gabriel, in: Gabriel/Krohn/Neun, § 79 Rn. 5.
39 LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. Oktober 2008 -L 11 KR 4810/08 ER-B.
40 Burgi, NZBau 2008, 481.
41 Weyand, in: Weyand, Vergaberecht, § 99 GWB Rn. 10.
42 Dreher/Hoffmann, NZBau 2009, 276.
43 Kaeding, PharmR 2007, 245 f.
44 Burgi, Vergaberecht, § 3 Rn. 39.
45 Burgi, Vergaberecht, § 3 Rn. 40.
46 LSG Nordrhein-Westfalen , NZBau 2010,653.
47 Zimmermann, NZBau 2010, 742.
48 Otting, NZBau 2010, 737.
49 VK Bund, 14.06.2011 – VK 3-62/11, S. 18.
50 OLG Düsseldorf , NZBau 2012,315.
51 VK Bund, 20.02. 2014 – VK 1-04/14.
52 Neun, NZBau 2016, 683.
53 EuGH, Urteil vom 02.06.2016, Rs. C-410/14 „Falk Pharma“ Rn. 35 /Neun, NZBau 2016, 683.
54 EuGH, Urteil vom 02.06.2016, Rs. C-410/14 „Falk Pharma“ Rn. 35 f.
Seminararbeit, 22 Seiten
Projektarbeit, 48 Seiten
Seminararbeit, 22 Seiten
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