Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Demokratieanspruch der EU
3. Die demokratische Legitimation der EU - zwei abweichende Modelle
3.1 Legitimation auf europäische Ebene durch das Europäische Parlament
3.2 Legitimation auf nationaler Ebene über die Parlamente der Mitgliedsstaaten
4. Die Qualität der Legitimation
4.1 Legitimation über das Europäische Parlament
4.1.1 Wahl exekutiver Organe
4.1.2 Kontrollfunktion
4.1.3 Rechtsetzungsbefugnis
4.2 Legitimation -über die Parlamente der Mitgliedsstaaten
4.2.1 Personelle Legitimationsketten
4.2.2 Verlust der Opposition auf EU-Ebene - Stärkung nationaler Regierungen
4.2.3 Schleichende Entmachtung der nationalen Parlamente
4.2.4 Stärkung nationaler Regierungen duch die Ernennung der Komissare
4.2.5 Ministerrat und Komission ohne Kontrolle
4.2.6 Wahlkampf mit nationalen Themen
4.2.7 Einfluß nationaler Parlamente auf die Europapolitik
5. Das demokratische Defizit
6. Lösungsansätze
6.1 Stärkung des EP
6.2 Veränderte Strukturen
6.3 Abbau von Bürokratie und mehr Transparenz
6.4 Förderung einer europäischen Öffentlichkeit
7. Zusammenfassung
8. Literaturliste
1. Einleitung
Die Europäische Union (EU) ist schon lange mehr als eine internationale Organisation, in der sich Staaten durch Völkerrechtsverträge zusammengeschlossen haben. Deutlich wird das wieder einmal durch das Eingreifen der EU nach der drohenden Regierungs- beteiligung des rechtspopulistischen Politikers Jörg Haider in Österreich. Vierzehn Regierungschefs der EU wollen nichts mehr mit dem neuen Österreich zu tun haben, erklärte die portugiesische EU-Präsidentschaft in einem Kommuniqué am 31. Januar 2000. Komme es in Wien zu einer schwarz-blauen Koalition, würden die bilateralen Beziehungen zu Österreich eingefroren1. Durch diese gemeinsame Strafaktion mischt sich die EU erstmals in die Innenpolitik eines Mitgliedsstaates ein. Es wird einmal mehr deutlich: Die EU hat sich zu einer supranationalen Organisation entwickelt, die zwar auf der einen Seite die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten anerkennt, auf der anderen Seite aber diese Souveränität an immer mehr Stellen durchbricht und so in immer mehr Bereichen selber Herrschaft ausübt. Sie ist ein Zwitterwesen und weist Strukturen einer internationalen Organisation im traditionellen Sinne sowie eines verfassungsgebundenen Staates auf.2
Nun stellt sich die Frage, ob die EU bedingt durch die verstärkten Kompetenzen seit dem Maastrichter und Amsterdamer Vertrag an einem Integrationspunkt angelangt ist, an dem ihr Einfluß so groß ist, daß er einer verstärkten demokratischen Legitimation bedarf. Dieser Frage möchte ich nachgehen. Dabei erscheint es mir wichtig, zuerst zu klären, welchen Demokratieanspruch die EU an sich selber hat. Dann möchte ich der Frage nachgehen, wie sich die EU zur Zeit selber legitimiert bzw. welche Modelle der demokratischen Legitimation der EU zur Zeit vorherrschen. Des weiteren möchte ich die Qualität dieser Legitimation untersuchen und die Kompetenzen der EU-Organe hinsichtlich ihrer demokratischen Legitimität näher betrachten. Dabei erscheinen mir die Fragen wichtig, ob die demokratische Legitimation über ein Europäisches Parlament ausreicht, das kaum legislative Kompetenzen besitzt. Und wie es mit der Qualität der mittelbaren Legitimation durch den Ministerrat steht. Welche Rolle spielen die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten bei der demokratischen Legitimation und was ist das eigentlich, das demokratische Defizit? Nachdem diese Fragen geklärt sind, möchte ich mich genauer damit auseinandersetzen, welche Folgen das demokratische Defizit hat und wie man es sinnvoll beheben könnte. Im Anschluß werde ich versuchen, einige Lösungsvorschläge aufzuzeigen.
2. Der Demokratieanspruch der EU
Die EU hat sich dem Demokratieprinzip verpflichtet, es in die Präambel der EU-Vertrages aufgenommen und in Art. 6, Abs.1 des EU-Vertrages rechtlich verankert.3 Wenn man über ein demokratisches Defizit sprechen möchte, ist es wichtig, zu betrachten, was genau die EU unter dem Begriff Demokratie versteht. In den Gründungsverträgen taucht der Grundsatz der Demokratie zwar an zwei Stellen auf,4 eine genauer Definition wird aber nicht gegeben. So bleibt unklar, ob die EU eine direkte oder repräsentative Demokratie anspricht und wie genau die Strukturen dieser Demokratie aussehen sollen. Ein Stück konkreter ist die Erklärung zur Demokratie des Europäischen Rates vom 8.4.1978 in Kopenhagen5. Die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten betonen: „Die allgemeine direkte Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes ist ein bedeutsames Ereignis für die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft und eine herausragende Demonstration des allen Mitgliedsstaaten gemeinsamen demokratischen Ideals.“ Hier wird deutlich: Die angesprochene Demokratie ist palamentarisch- repräsentativ, das Europäische Parlament ist Repräsentant der Bürger der Union, und die Wahlen des EP sind allgemein und direkt. Dennoch ist die Wahl des EP nur „eine herausragende Demonstration des (...) demokratischen Ideals“ - spielt also zumindest 1978 noch keine große Rolle zur demokratischen Legitimation der EU. Was sich hinter dem „gemeinsamen demokratischen Ideal“6 verbirgt, wird im Folgenden der Erklärung ausgeführt: Der Rat setzt sich für die Prinzipien der parlamentarischen, pluralistischen Demokratie ein. Was genau darunter zu verstehen ist, wird nicht ausgeführt. Des weiteren wird die Vertretung der Meinungen im „konstitutionelle Aufbau des Staates “ garantiert, demnach hat dieses gemeinsame Ideal nur verbindliche Gültigkeit für die Mitgliedsstaaten, nicht jedoch für die EG als Ganzes7. Die Demokratieprinzipien für den institutionellen Aufbau der EU selber werden nicht deutlich. Sie ließen sich höchstens aus den Gründungsverträgen ableiten - wenn man davon ausgeht, daß die aktuelle Organisationsstruktur dem demokratischen Ideal der EU entspricht. Eines ist auf jeden Fall klar: Die Demokratieanforderungen, die die EU an ihre Mitgliedsstaaten stellt, kann sie selber nicht erfüllen. Ein entscheidender Grund dafür ist die schwache Stellung des EP. Das einzige Organ, das durch direkte Wahlen der EU-Bürger legitimiert ist, wird bei den meisten Beschlüssen nur angehört. Es hat kein Legislativrecht und lediglich ein ausgesprochen eingeschränktes Vetorecht.8
3. Die demokratische Legitimation der EU - zwei konkurrierende Auffassungen
Um der Frage nachgehen zu können, ob in der EU ein demokratisches Defizit vorliegt, ist es notwendig, die derzeitige demokratische Legitimation des Handelns der EU zu betrachten. Dabei ergibt sich folgendes Problem: Die EU ist kein Staat, sie ist ein internationaler Völkerverbund, eine supranationale Organisation. Es stellt sich nun die Frage, ob eine supranationale Organisation wie die EU überhaupt demokratisch organisiert sein muß, wenn bereits all ihre Mitgliedsstaaten dem Demokratieprinzip unterliegen. Bei dieser Frage geht es darum, wo Herrschaft stattfindet: Auf nationaler oder auf supranationaler Ebene. Geht man davon aus, daß die EU ein lockerer Staatenverbund ist, der auf der Souveränität seiner Mitglieder beruht und durch einfach Völkerrechtsverträge geschlossen ist wie etwa die UNO, OSZE, oder die NATO, so wird man nicht fordern, daß die Institution selber demokratisch organisiert sein muß und jeder Bürger an Entscheidungen beteiligt wird. Ist man jedoch der Auffassung, daß die EU mehr ist, als ein Staatenbund und selber Herrschaft ausüben kann, so stellt sich die Frage nach der Legitimation dieser Herrschaft.9
Es gibt zwei konkurrierende Auffassungen, wie sich die EU derzeit demokratisch legitimiert. Auf der einen Seite steht die Legitimation über das Europäische Parlament, auf der anderen Seite die Legitimation über die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten. Beide Modelle möchte ich im Folgenden vorstellen.
3.1 Legitimation auf europäischer Ebene durch das Europäische Parlament (EP)
Jeder Bürger der EU ist berechtigt, das EP in allgemeinen, unmittelbaren Wahlen zu wählen10. Somit ist dieses Organ der EU direkt demokratisch von den EU-Bürgern legitimiert. Jedoch ist zur Zeit umstritten, ob das EP Hauptträger der demokratischen Legitimation sein darf. In Italien etwa stuft man das EP als zentrale demokratische Legitimationsquelle ein, wohingegen Frankreich und England den hohen Stellenwert der nationalen Parlamente betonen. Wenn man das EP als Hauptlegitimitätsträger betrachtet, so ist dies ein Bekenntnis, daß Herrschaft auf EU-Ebene ausgeführt wird, die einer eigenen demokratischen Legitimation bedarf. Es ist ein indirektes Bekenntnis dazu, daß ein Teil der Souveränität der Mitgliedsstaaten an die EU abgegeben wurde. Das EU- Recht würde somit als eine eigene Rechtsquelle anerkannt, die keiner Bestätigung duch die Mitgliedsstaaten mehr bedarf. Und das gilt sowohl für das Primärrecht als auch für das Sekundärrecht und die Rechtsetzung durch den EuGH. Vertreter dieser Position erkennen an, daß sich die EU von einer einfachen supranationalen Organisation, die auf Völkerrechtsverträgen beruht, emanzipiert hat und bereits so viel Souveränität auf EUEbene übertragen wurde, daß diese Herrschaft einer eigenen Legitimation bedarf.
3.2 Legitimation auf nationaler Ebene über die Parlamente der Mitgliedsstaaten
In jedem EU-Mitgliedsstaat gibt es ein von den Bürgern direkt gewähltes Parlament, das das Interesse der Bürger repräsentieren soll. Die nationalen Parlamente wählen die Regierungen, die durch die obersten Staatshäupter im Europäischen Rat und durch die Minister im Rat der Europäischen Union (Ministerrat) vertreten sind. Zudem ernennen die nationalen Regierungen die Mitglieder der Kommission.
Somit ist sowohl der Ministerrat als Organ mit Entscheidungsbefugnis über die Verabschiedung von Gesetzen indirekt demokratisch über die nationalen Parlamente legitimiert als auch der Europäische Rat, der die Leitlinien der EU vorgibt. Auch die Kommission ist indirekt legitimiert, da sie von einer demokratisch gewählten Regierung ernannt und zusätzlich vom EP bestätigt worden ist. Für Frankreich, England aber auch Deutschland ist diese Legitimation ganz entscheidend. Da weiterhin die Mitgliedsstaaten die „Herren der Verträge“ sind und der EU keine „Kompetenz-Kompetenzen“ zukommen sollen11, muß die demokratische Legitimationskette über die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten laufen. Frankreich etwa beruft sich dabei auf Art. 3 der französischen Verfassung aus dem Jahr 1958, wonach die nationale Souveränität dem französischen Volk zusteht. Demnach ist die EU nicht über das EP demokratische legitimiert. In Deutschland schwankt die Diskussion. 1974 hat das BVerfG in seiner Solange I - Entscheidung das EP noch als entscheidend für die demokratische Legitimation in Europa betrachtet. Im Maastricht-Urteil aus dem Jahr 1993 jedoch stellte das BVerfG klar, daß sich die Legitimation der EU einzig und allein aus dem Grundgesetz ableiten lasse: Nach Art. 23,1 GG sowie 24,1 GG ist es gestattet, Hoheitsrecht an die EU abzutreten. Nutze die EU die ihr übertragene Kompetenz jedoch nicht im von Deutschland gewünschten Sinne, würde also der EuGH die Rechtsquellen der EU allzu extensiv auslegen, würde diese Recht in Deutschland keine Anwendung finden. Dabei spielt es nach Auffassung des BVerfG keine Rolle, ob das EP an der Verabschiedung der Rechtsquellen mitgewirkt hat oder nicht12, denn das EP habe lediglich eine stützende Funktion.
In diesem Zusammenhang steht auch die sogenannte „Mittelbarkeitslehre“13 der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Nicht das die Unionsbürger, sondern die Staatsvölker sind demnach die Legitimationsgrundlage. Vertreter der Lehre betonen, daß somit das EP zur demokratischen Legitimation des Handelns der EU nicht nötig sei. Jene Legitimation erfolge nämlich bereits durch den Ministerrat, der aus den demokratische gewählten Regierungen der Mitgliedsstaaten besteht. Wer demnach den Regierungen der Mitgliedsstaaten eine ausreichende Legitimation zuspreche, müsse sie auch den Regierungen der EU zubilligen. Schließlich seien es dieselben Regierungen. Diese sei zwar mittelbar und nicht unmittelbar vom Volk legitimiert, aber das stehe einer ausreichenden Legitimation nicht entgegen, da das Demokratieprinzip nicht zwingend verlange, daß alle Staatsorgane unmittelbar vom Volk gewählt seien. Vielmehr sei es das Charakteristikum repräsentativer Demokratien, daß Exekutive und Justiz nicht selber gewählt, aber dennoch - verfahrensmäßig vermittelt - demokratisch legitimiert seien. Dieser Gedanke ist entscheidend für die deutsche Staatsrechtswissenschaft: Wenn einerseits alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und andererseits nicht alle Staatsorgane vom Volk selbst gewählt sind, so müsse es unter bestimmten Voraussetzungen auch eine demokratische Legitimation dieser nicht gewählten Staatsorgane geben. Dieser Gedanke wird sodann vom nationalen Staatsrecht auf das Europarecht übertragen und begründet die ausreichende Legitimation von Kommission und Ministerrat. Das EP spielt demnach eine untergeordnete Rolle.
Es gibt sogar Vertreter der Mittelbarkeitslehre, die diese mit der Souveränitätslehre von Carl Schmitt verknüpfen und so zu folgendem Ergebnis kommen: Demokratisch kann nur der Staat sein, Staat und Demokratie sind unauflöslich verbunden. Europa ist kein Staat und hat somit auch kein Staatsvolk. Demnach wird das EP nicht nur als überflüssig betrachtet, es stellt zudem eine Einschränkung dar: „Wo die nationalen Parlamente eine Pforte zur Selbstbestimmung ermöglichen, öffnet das EP den Weg zur Fremdbestimmung durch andere Völker.“14
Vertreter dieser Position sprechen sich stark für den Erhalt der nationalen Souveränität aus und betonen, daß die EU kein Staat ist, sondern auf völkerrechtlichen Verträgen beruht, deren „Herren“ die Mitgliedsstaaten sind.
4. Die Qualität der Legitimation
Beide Positionen haben sicherlich ihre Berechtigung. Wenn man jedoch die Frage nach dem Demokratiegehalt der EU stellt, ist zu überprüfen, welche der beiden stärkere demokratische Elemente enthält. Eine hinreichende demokratische Legitimation der EU setzt voraus, daß die personellen Legitimationsketten (siehe oben) auch dazu führen, daß die Unionsbürger an dem Entscheidungsprozeß beteiligt sind. Im Folgenden soll überprüft werden, ob die Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen Organe der EU in Bezug auf Funktion, Zusammensetzung und Verfahrensweise dem Demokratieanspruch gerecht werden.
4.1 Legitimation durch das Europäische Parlament
Beim Versuch die demokratische Legitimation anhand der Kompetenzverteilung in der EG zu untersuchen, so taucht verständlicherweise der Streit um das EP erneut auf. Die Vertreter der Legitimation über die europäische Eben fordern eine Stärkung des EP, die Gegenseite sieht vielfältige Gründe, weshalb das EP nicht gestärkt werden darf. Um die Rolle des EP im System der EU richtig einordnen zu können, ist es sinnvoll, sich mit seinen Kompetenzen auseinanderzusetzen. Vergleicht man das EP mit einem Parlament eines parlamentarischen Verfassungsstaates, etwa dem Deutschen Bundestag, so werden die Unterschiede schnell deutlich. Im Folgenden möchte ich nun die Kompetenzen des EP im Vergleich zum Deutschen Bundestag herausarbeiten. Dabei möchte ich die Kompetenzen zur Wahl exekutiver Organe, die Kontrollfunktion sowie die Rechtsetzungsbefugnis des EP genauer untersuchen.
4.1.1 Wahl exekutiver Organe
Der Bundestag ist nach Art. 63 Abs.1 GG berechtigt, den Bundeskanzler zu wählen. Somit wirkt der Bundestag bei der Ernennung exekutiver Organe mit. Auf europäischer Ebene obliegt die Auswahl der politischen Führung den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Die Mitgliedsschaft im Ministerrat wird kraft nationalen Amtes vergeben, die Minister der Mitgliedsstaaten sind gleichzeitig im Rat vertreten und sind nicht gesondert auf EU-Ebene legitimiert. Auch bei der Ernennung der Kommission hat das EP keine Möglichkeit der Wahl. Seit dem Vertrag von Amsterdam darf das EP jedoch die Kommission in ihrem Amt bestätigen oder ein Mißtrauensvotum stellen15. Einzelne Kommissare jedoch kann sie nicht abwählen, nur die ganze Kommission. Somit hat das EP im Vergleich zum Bundestag ein Kompetenzdefizit: Das EP wirkt bei der Ernennung exekutiver Organe nicht mit.
4.1.2 Kontrollfunktion
Nach Art. 67 GG ist der Bundestag berechtigt, ein konstruktives Mißtrauensvotum zu stellen und somit den Bundeskanzler abwählen, wenn er gleichzeitig einen neuen Kanzler wählt. Somit hat der Bundestag dem Bundeskanzler gegenüber eine Kontrollfunktion mit Sanktionsmöglichkeiten. Dem EP sind Kontrollrechte ausdrücklich zugesprochen16. Primärer Adressat der Kontrolle ist die Kommission, gegenüber dem Rat hat das EP kaum Kontrollmöglichkeiten17. Das Fundament der Kontrollrechte ist das Mißtrauensvotum gegenüber der Kommission, die bei einer Annahme mit 2/3 Mehrheit der EP-Mitglieder zurücktreten muß18. Jedoch ist dies kein konstruktives Mißtrauensvotum, die Ernennung einer neuen Kommission bleibt das Recht der nationalen Regierungen. Zudem muß die Kommission Anfragen aus dem EP beantworten19 und das EP erteilt der Kommission die Entlastung in der Ausführung des Haushaltsplanes20. Während die Verträge Ansätze einer Parlamentskontrolle der Kommission vorsehen, fehlen analoge Vorkehrungen für den Rat. Jedoch hat sich der Rat durch einen „Ratsvermerk“ vom 16.10.1973 zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen verpflichtet21. Im Vergleich zum Bundestag sind die Kontrollbefugnisse des EP trotz des Mißtrauensvotums gegenüber der Kommission relativ schwach. Das Mißtrauensvotum ist wenig effektiv, da nicht einzelne Kommissare, sondern nur die ganze Kommission abgewählt werden kann. Diese Sanktionsmöglichkeit ist bisher noch nie zum Einsatz gekommen. Zudem ist das EP nicht berechtigt, eine neue Kommission zu ernennen, sondern kann nur hoffen, daß die von den nationalen Regierungen ernannten Kommissare fähiger sind als die gestürzte Kommission. Als äußerstes Mittel der Kontrolle gegenüber Rat und Kommission steht dem EP seit 1993 die Nichtigkeitsklage22 beim EuGH zur Verfügung, soweit es um die Wahrung der eigenen Rechte geht. Ferner kann das EP eine Untätigkeitsfeststellungsklage23 beim EuGH erheben, wenn seiner Ansicht nach Kommission und Rat es unter Verletzung des Vertrages unterlassen haben, einen Beschluß zu fassen. Der Nachweis einer solchen Situation ist in der Praxis jedoch schwierig. Alles in allem kann man sagen, daß die Kontrollbefugnisse des EP im Vergleich zum Bundestag recht schwach sind.
4.1.3 Rechtsetzungsbefugnis
Der Deutsche Bundestag ist elementar an der Rechtsetzung in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Er hat ein Gesetzesinitiativrecht und die Befugnis, „förmliche Gesetze“ zu erlassen24. Damit setzt der Bundestag die höchste Rechtsnorm. Zudem trifft das Parlament Leitentscheidungen, durch die es die politischen Zielvorstellungen realisiert. Der Bundestag hat auch das Budgetrecht25, wodurch es der Regierung einen finanziellen Rahmen stecken kann, der das Regierungsprogramm beeinflußt. Der Bundesrat ist jedoch ebenfalls maßgeblich an der Rechtsetzung beteiligt. Das EP ist am europäischen Rechtsetzungsprozeß nicht vollparlamentarisch beteiligt. Nur durch Anhörung (Abgabe einer Stellungnahme), durch die Verfahren der Zusammenarbeit oder Mitentscheidung26 sowie selten durch die Zustimmung27, ist das EP beteiligt. Der entscheidende Punkt jedoch ist, daß das EP kein Recht zur Gesetzesinitiative hat. Es kann die Kommission auffordern, einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten.28 Die Kommission orientiert sich an diesen „Initiativberichten“ des EP, sie sind aber unverbindlich. Alles in allem läßt sich sagen, daß das EP im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten kaum an der Rechtsetzung beteiligt ist. Ihm fehlen somit die zentralen Befugnisse eines Parlamentes im Sinne der demokratischen Parlamentssouveranität29. Diese Ansicht vertritt auch Marcel Kaufmann: „Die relativ schwach ausgebildeten Kompetenzen des EP im Bereich der Rechtsetzung, namentlich das fehlende Initiativrecht und die geringen Letzentscheidugsbefugnisse, gelten als Hauptargument für die These vom demokratischen Defizit.“30
4.2 Legitimation durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten
Nachdem nun die Qualität der demokratischen Legitimation über das EP untersucht worden ist, soll nun die Qualität des zweiten Legitimationsmodelles, der Legitimation über die Parlamente der Mitgliedsstaaten, untersucht werden.
Wie bereits erwähnt, können die Bürger der Mitgliedsstaaten ihre jeweiligen nationalen Parlamente wählen und tragen somit indirekt zur Regierungsbildung ihres eigenen Staates bei. Die Minister der jeweiligen Regierungen sind im Ministerrat der EU, dem Organ, das Gesetze verabschiedet oder ablehnt, vertreten. Somit sind die Bürger durch den Rat demokratisch vertreten. Diese mittelbare demokratische Legitimation weist jedoch einige Probleme auf. Im Folgenden möchte ich auf sieben Problempunkte hinweisen.
4.2.1 Lange personelle Legitimationsketten
Diese personelle Legitimationskette ist in der Praxis jedoch nicht sehr demokratisch. Der einzelne Bürger hat kaum Möglichkeiten, die Entscheidungen des Ministerrates zu beeinflussen. Diese Meinung vertritt auch Claus Dieter Claassen: „Die Legitimationskette zum Ministerrat weist eine bedenkliche Länge auf.“31 Die Ebenen zwischen Ministerrat und Unionsbürgern sind zu zahlreich, als daß der Rat als ein Organ bezeichnet werden könnte, das die Unionsbürger repräsentiert. Die Partizipation der Bürger ist auf diesem Weg kaum möglich.
4.2.2 Verlust der Opposition auf EU-Ebene - Stärkung nationaler Regierungen
Entscheidend dabei ist, daß etwa die Meinung der Opposition der nationalen Parlamenten im Ministerrat nicht mehr vertreten ist. Die Regierungspartei des jeweiligen Landes bekommt dadurch einen sehr großen Einfluß: Sie kann nicht nur maßgeblich auf nationaler Ebene an den Entscheidungsprozessen mitwirken, sondern kann ihre Interessen auch auf europäischer Ebene vertreten. Das ist ein großer Vorteil gegenüber der Opposition, deren Meinung im Rat wegfällt.
4.2.3. Schleichende Entmachtung der nationalen Parlamente
Der Wegfall der Oppositionsmeinung im Rat ist problematisch, weil immer mehr Entscheidungsbefugnisse auf EU-Ebene verlagert werden, insbesondere durch das Inkrafttreten der vierten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion und dem Amsterdamer Vertrag 1999. Seither fallen sogar Teilbereiche völkerrechtlicher Vereinbarungen der intergouvermentalen zweiten und dritten Säule (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (GZIJ)) in die supranationale erste Säule und somit in die direkte Zuständigkeit der EG. Beispiele dafür sind etwa die Asylpolitik oder der freie Personenverkehr32. Es findet somit eine schleichende Entmachtung der nationalen Parlamente statt, da ein Organ wie der Rat, dem nur die Regierungen der Mitgliedsstaaten angehören, immer mehr Entscheidungskompetenz erhält, während den Parlamenten Macht entzogen wird. Im Prinzip ist es sogar ein Demokratieverlust, da nationalen Parlamenten Macht entzogen wird, diese Macht aber nicht dem EP sondern Rat und Kommission zugeführt wird.
4.2.4. Stärkung nationaler Regierungen durch die Ernennung der Kommissare
Durch das Recht, die Kommissare zu benennen, erhalten die nationalen Regierungen eine weitere Stärkung: Die Regierungen der Mitgliedsstaaten werden darauf bedacht sein, die Posten der Kommissare mit Politikern zu besetzen, die Regierungsinteressen repräsentieren oder zumindest nicht in Opposition zur Regierung stehen. Somit sind die zentralen Rechtsetzungsorgane der EU, Ministerrat und Kommission, sehr von den jeweiligen Regierungen dominiert und zur demokratischen Legitimation der EU nicht ausreichend.
4.2.5 Ministerrat und Kommission ohne Kontrolle
Zudem tritt das Problem auf, daß der Ministerrat so gut wie kontrollfrei ist. Nur der eigene Minister kann mittelbar über die nationalen Parlamente kontrolliert werden. Da aber der einzelne Minister nicht verpflichtet ist, sein Abstimmungsverhalten vor seinem nationalen Parlament offenzulegen, herrscht wenig Transparenz. Nach Christoph Gusy kann das sogar dazu führen, daß im Ministerrat jede einzelne Regierung ihren Teil der Verantwortung auf die anderen Teilnehmer abschiebt. Gusy betont: „Hier wird Kontrollfreiheit zur Verantwortungsfreiheit.“33 So lange den nationalen Parlamenten jedoch wenig Informationen vorliegen, können sie kaum kontrollieren. Kann das Parlament als Repräsentant der Bürger wenig Kontrolle ausüben, so kann es auch wenig Verantwortung übernehmen. So führt also ein kontrollfreier Ministerrat dazu, daß sich die Bürger für die dort gefällten Entscheidungen wenig verantwortlich fühlen und den Ministerrat keineswegs als seinen Repräsentanten betrachtet34. Die Kommission wird gar nicht national kontrolliert, sie kann lediglich durch das EP als Ganzes gestürzt werden. Wie problematisch die Kontrollfreiheit ist - nicht nur den nationalen Parlamenten sondern auch dem EP gegenüber - hat sich in der Krise der Kommission unter der Leitung von Jaques Santer 1998/99 gezeigt: Die Kommission hat sich so in Korruption und Vetternwirtschaft verstrickt, daß sie auf Druck des EP mehr unfreiwillig als freiwillig zurücktritt35. Hätte es mehr Transparenz und Kontrolle gegeben, wäre die Korruption in diesem Ausmaß wahrscheinlich nicht möglich geworden und es hätte frühzeitiger gegengesteuert werden können.
4.2.6 Wahlkampf mit nationalen Themen
Hinzu kommt, daß bei der Wahl der nationalen Parlamente mit nationalen Themen geworben wird und die Bürger die Parlamente wählen, damit sie ihre Interessen in der nationalen Politik vertreten. Vielen Bürgern ist es nicht bewußt, daß sie durch die Wahl der nationalen Parlamente auch die Europapolitik entscheidend bestimmen.
4.2.7 Einfluß nationaler Parlamente auf die Europapolitik
Bei Bieber36 taucht die These auf, daß auch die nationalen Parlamente direkt an der Legitimation der EU teilhaben würden und diese in einigen Bereichen an Entscheidungen in der EU beteiligt seien. Eine engere Zusammenarbeit zwischen nationalen Parlamenten und EP wäre somit eine ausreichende und stabile demokratische Legitimation. Diese These ist jedoch problematisch, da die Beteiligung der nationalen Parlamente an Entscheidungen auf EU-Ebene marginal ist37. Der Deutsche Bundestag etwa ist zwar beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge, zu deren Kategorie der Amsterdamer Vertrag offiziell gehört, formal eingebunden, er kann jedoch nicht über den Inhalt bestimmen. Der Bundestag kann einen Völkerrechtlichen Vertrag nur ablehnen38. Zudem werden die nationalen Parlamente, wie bereits erwähnt, vor allem in Bezug auf die Nationalpolitik gewählt.
Lange personelle Legitimationsketten, Verlust der nationalen Oppositionen auf EU-Ebene und eine damit verbundene ungerechtfertigte Stärkung der nationalen Regierungen, schleichende Entmachtung der nationalen Parlamente, eine zusätzliche Stärkung der nationalen Regierungen durch das Recht Kommissare zu ernennen, Ministerrat und Kommission ohne parlamentarische Kontrolle - zusammenfassend läßt sich sagen, daß es problematisch ist, das Handeln der EU lediglich über die nationalen Parlamente und die personellen Verkettungen zu Ministerrat und Komission demokratisch zu legitimieren.
5. Das demokratische Defizit
Aus der Organisiation der EU ergeben sich folgende Probleme hinsichtlich des Demokratieanspruches: Das EP ist zwar von den Unionsbürgern direkt gewählt, hat aber verglichen mit den Kompetenzen der Parlamente der Mitgliedsstaaten sehr wenig Rechte. Vor allem fehlt die Beteiligung an der Rechtsetzung. Rat und Kommission legitimieren sich durch die nationalen Parlamente, jedoch sind die Unionsbürger durch lange personellen Legitimationsketten durch so viele Ebenen vom Entscheidungs- zentrum entfernt, daß sie kaum Einfluß auf die Entscheidungen haben. Somit ist die EU weder durch das EP noch durch die nationalen Parlamente hinreichend demokratisch legitimiert. Nimmt die EU ihren Demokratieanspruch gemaß Art. 6, Abs. 1 EUV sowie der Prämbel des EU ernst, so kann sie sich nicht mit einer demokratischen Legitimation, die so viele Mängel aufweist, zufrieden geben. Sie wird demnach ihrem Demokratieanspruch nicht gerecht, es liegt ein demokratisches Defizit vor. Da insbesondere durch das Inkrafttreten der vierten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion und dem Amsterdamer Vertrag 1999 immer mehr Entscheidungen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden und dort immer mehr Herrschaft stattfindet, benötigt diese Herrschaft eine eigene demokratische Legitimation. Es wird also eine verstärkte, veränderte demokratische Legitimation der Europapolitik notwendig, da sonst ein schleichender Demokratieverlust eintritt.
6. Lösungsansätze für mehr Demokratie in Europa
Viele Wissenschaftler, Journalisten und Politiker haben die Probleme, die durch das Demokratiedefizit entstehen erkannt und fordern mehr Demokratie in Europa. Die Frage ist nun, wie ein demokratischeres Europa gestaltet sein könnte.
Die folgenden Überlegungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und spiegeln auch den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Diskussion nicht wieder. Sie sind der Versuch, Punkte zu finden, an denen man ansetzen könnte, um Europa demokratischer zu organisieren.
6.1 Stärkung des Europäischen Parlamentes
Das EP müßte als vorrangig zur demokratischen Legitimation anerkannt werden. Es ist das einzige Organ, das die Unionsbürger direkt repräsentiert und ihnen somit die Partizipation auf EU-Ebene ermöglicht. Mißtrauen gegenüber dem EP ist nicht gerechtfertigt, da ja nur Unionsbürger wahlberechtigt sind. Und jeder Unionsbürger besitzt die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates. Die freie Selbstbestimmung, wie die Demokratie sie fordert, ist auch dann noch gegeben, wenn mehrere Völker sich zusammenschließen, um Probleme gemeinsam zu lösen. Demnach müßte die Position des EP gestärkt werden. Dieses könnte dadurch entstehen, daß es neue bzw. erweiterte Kompetenzen erhält wie etwa die Initiative zur Gesetzgebung sowie Zustimmungsrecht und Mitentscheidungsverfahren in wesentlich mehr Bereichen. Um Korruption und Vetternwirtschaft der Kommission vorbeugen zu können wie es unter Jaques Santer der Fall war, braucht das EP bessere Kontrollmöglichkeit über die Kommission: Auch einzelne Kommissare, nicht nur die ganze Kommission, dürfen per Mißtrauensvotum abgewählt werden. Zudem ist es notwendig, daß die Kommission dem EP regelmäßig Rechenschaft ablegen muß. Auch ist es wichtig, daß das EP eine Kontrollmöglichkeit über den Ministerrat erhält. Nur so kann der Ministerrat keine Entscheidungen über den Köpfen de EU-Bürger hinweg fällen. Der Ministerrat sollte sich dem EP gegenüber verantworten und regelmäßig Rechenschaft ablegen. Um der schleichenden Entmachtung der nationalen Parlamente und dem damit verbundenen Demokratieverlust entgegenzuwirken, sollte das EP die Kompetenzen, die die nationalen Parlamente an die EU abgeben, hinzugewinnen. So würde die Qualität der parlamentarische Vertretung der Bürger gewährleistet bleiben.
6.2 Veränderte Strukturen
Die Entscheidungsstrukturen müßten verändert werden. Das EP müßte, wie bereits erwähnt, stärker in den Rechtsetzungsprozeß eingebunden werden. Parallel dazu müßte das Einstimmigkeitsprinzip im Rat in den meisten Bereichen dem Mehrstimmigkeitsprinzip weichen - Rat und Parlament müßten gleichwertig an der Rechtsetzung beteiligt sein. Es müßte eine Art Zweikammersystem entstehen.
Zudem müßte es weniger Ebenen zwischen Unionsbürgern und Rat bzw. Kommission geben. Die Kommission könnte etwa vom EP gewählt werden. Wenn das EP mehr Rechte bekäme, würde es die lange Legitimationskette zum Rat ausgleichen, da der Rat nicht mehr so bedeutend wäre.
6.3 Abbau von Bürokratie und Förderung der Transparenz
Wichtig ist auch der Abbau von Bürokratie. Daß zu viel Bürokratie dazu führt, daß Korruption begünstigt wird, wurde an der Krise der Komission unter Jaques Santer 1998/99 nur allzu deutlich. Weniger Bürokratie würde die Transparenz fördern. Das hätte zwei positive Aspekte:
Erstens ließe sich die Kontrolle über Rat und Kommission eher gewährleisten. Dazu müßten jedoch zusätzlich zum Abbau der Bürokratie alle Organe gehalten sein, ihre Beschlüsse und ihr Abstimmungsverhalten zu veröffenlichen. Zudem sollten die Beratungen in Rat und Kommission grundsätzlich öffentlich sein.
Zweitens hätte der Unionsbürger mehr Möglichkeiten, die Entscheidungen der EU nachzuvollziehen und sich mit ihnen zu identifizieren oder die Entscheidungen zu diskutieren. Eine breitere Öffentlichkeit könnte so entstehen.
6.4 Förderung einer europäischen Öffentlichkeit
Grundlage einer Demokratie ist der aktive, informierte Bürger. Wie aber soll der Unionsbürger Europa begreifen, wenn selbst der europäische Wahlkampf zum EP mit nationalen Themen ausgefochten wird? Eine europäische Öffentlichkeit ist zwingend notwendig, damit der Bürger sich mit Europa identifizieren kann und die Wahlbeteiligung bei der Europawahl steigt. Erst wenn sich mindestens 70 bis 80 Prozent der Unionsbürger an der Wahl des EP beteiligen, kann es demokratische Legitimationsgrundlage sein. Zur Förderung einer europäischen Öffentlichkeit ist es deshalb ausgesprochen wichtig, daß sowohl der Wahlkampf zu Bundestagwahl als auch zur EP-Wahl auch mit europäischen Themen ausgefochten wird. Daß europäische Themen auch bei der Bundestagswahl eine Rolle spielen erklärt sich daraus, daß über den Bundestag die Bundesregierung und so die deutschen Mitglieder des Rates und der Kommission festgelegt werden.
Zudem sollte die EU mehr Geld für internationale Bildungs- und Begegnungsprojekte innerhalb Europas bereitstellen. Gerade die jungen Leute, Auszubildende, Studenden, junge Arbeitnehmer sollten so konkret an das Thema Europa herangeführt werden. Diese Generation wird schließlich in Kürze entscheiden, wohin Europa in Zukunft steuern wird. Deshalb ist es auch wichtig, daß Europapolitik als verpflichtendes Thema im Schulunterricht eingeführt wird.
Wichtig ist außerdem eine stärkere Bürgernähe der EP-Parlamentarier. Die Parlamentarier sollten sich auf Kommunal- und Bundesebene bekanntmachen, um den Bezug der Bürger zum EP zu stärken. Erst wenn der Bürger das Gesicht der Person kennt, die sich für seine Belange auf Europaebene einsetzt, wenn Europa nicht abstrakt bleibt, kann er sich mit Europa identifizieren.
Gut wäre der Ausbau europäischer Medien. Der Bürger hätte die Möglichkeit haben, sich über die aktuelle Europapolitik zusätzlich zu den Informationen der nationalen Presse zu informieren. Außerdem könnte so ein Gemeinschaftsgfühl zwischen den Bürger der Mitgliedstaaten gefördert werden. Es könnte etwa ein europäischer Fernsehsender errichtet werden, der aktuelle Debatten überträgt und Nachrichten aus allen Mitgliedsländern überträgt. Das Sprachproblem könnte durch Untertitel in der jeweiligen Landessprache geklärt werden.
7. Zusammenfassung
Die EU übt Herrschaft aus, sie ist mehr als eine supranationale Organisation, sie besitzt mittlerweile staatsähnliche Züge. Bedingt durch die verstärkten Kompetenzen seit dem Maastrichter und Amsterdamer Vertrag ist die EU nun an einem Integrationspunkt angelangt, an dem sich diese Herrschaft nicht mehr allein durch personelle Ketten von den nationalen Parlamenten zu den EU-Organen legitimieren läßt. Die Ebenen zwischen Unionsbürgern und Ministerrat/Kommission sind zu zahlreich, als daß die Bürger hier die Möglichkeiten zur Einflußnahme hätten. Auch eine demokratische Legitimation über ein Europäisches Parlament, das keinerlei legislative Kompetenzen besitzt, reicht nicht aus. Auf die Dauer ist es für die EU ein großes Problem, wenn sie nicht ausreichend demokratisch legitimiert ist. Eine demokratische Legitimation durch die Unionsbürger ist zwingend notwendig, denn die einzelnen Länder wachsen nicht nur auf Regierungsebene zusammen. Ein Europa, das von seinen Bürgern nicht mitgetragen wird, kann auf Dauer nicht stabil sein. Deshalb muß durch mehr Transparenz, Bildung und Medien verstärkt versucht werden, eine breite Öffentlichkeit zu schaffen. Aber damit Europa auch in Zukunft als stabiles Gegengewicht zu Amerika, Rußland und Asien bestehen kann, bedarf es grundlegender Reformen, die einem klaren Bekenntnis zu Europa und zu einer europäischen Demokratie folgen. Das Votum von Ralf Dahrendorf für ein demokratischeres Europa bringt es auf den Punkt:
„Klar ist vor allem, daß das nächste Europa demokratischer sein wird, oder es hat keine Zukunft.“39
Literaturliste
Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung?, 4. Auflage, Frankfurt/Main 1998
Bieber, Roland: Demokratische Legitimation in Europa. Ein Spannungsverhältnis zwischen den Funktionen von Europäischem Parlament und staatlichen Parlamenten, 1999, ZeuS, 14
Classen, Claus Dieter: Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119, 1994, S. 238 - 260,
Dahrendorf, Ralph: Ein Europa für die Zukunft, in: Spiegel 1/1994, S. 29
Fritz-Vannahme, Joachim: Noch nicht der Ernstfall, in: DIE ZEIT, 3.2.2000, S. 6
Gusy, Christoph: Demokratiedefizite postnationaler Gemeinnschaften unter Berücksichtigung der EU, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3, 1998, S. 267 - 281
Grimm, Dieter, Ohne Volk keine Verfassung, in: Die Zeit, 18.3.99, S. 4
Kaufmann, Marcel: Europäische Integration und Demokratieprinzip, Baden-Baden 1997
Kowalsky, Wolfgang: Projekt Europa: Die Zukunft der europäischen Integration, Opladen 1997
Oppermann, Thomas: Europarecht: Ein Studienbuch, 2. Auflage, München 1999
Pechstein, Matthias und Koenig, Christian: Die Europäische Union, Verträge von Maastricht und Amsterdam, 2. Auflage, Tübingen 1998
Schwarze, Jürgen/ Bieber, Jürgen (Hrsg): Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 1994
Wernicke, Christian, Krise in Bonn und Brüssel, in: Die Zeit, 18.3.99, S. 1
Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt/Main 1998
Vertrag von Amsterdam
Grundgesetz der BRD
[...]
1 Vgl. Joachim Fritz-Vannahme, Noch nicht der Ernstfall, in: DIE ZEIT, 3.2.2000, S. 6.
2 Vgl. Christoph Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3, 1998, S. 267-281.
3 Siehe Art.6, Abs.1 EUV: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam.“.
4 Das Demokratiegebot findet sich sowohl in der Präambel des EUV sowie in Art.6, Abs. 1 EUV.
5 Vgl. „Erklärung des Europäischen Rates vom 8. April 1978 (Kopenhagen)“, in: Jürgen Schwarze/Jürgen Bieber (Hrsg), Eine Verfassung für Europa, Baden-Baden, 1984.
6 Ebenda.
7 Ebenda.
8 Vgl. Art. 189 bis 201 EGV.
9 Vgl. Gusy, S. 267 f.
10 Vgl. Art. 190, Abs.1 EGV.
11 Vgl. Maastricht-Urteil 1993.
12 Vgl. Solange-Urteil 1974, Maastricht-Urteil 1993, Interpretation der Urteile durch Claus Dieter Classen1994, Europäische Integration und demokratische Legigimation, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119, S. 246 f.
13 Vgl. Gusy, S. 272 f.
14 Vgl. Christoph Gusy, S. 273 ff.
15 Vgl. Art. 158 EGV.
16 Vgl. Art. 189 ff EGV.
17 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, München, 1999, S.116: „Angesichts der zentralen Entscheidungs- und Regierungsbefugnisse des Rates mag dies eine ,falsche Orientierung‘ des Vertrages sein. Ihr liegt freilich der bewußte politische Wille der Mitgliedsstaaten zugrunde, in der grundsätzlichen Ausrichtung der Gemeinschaftspolitik bis auf weiteres das letzte Wort zu behalten.“.
18 Vgl. Art.201 EGV.
19 Vgl. Art. 197 EGV.
20 Vgl. Art 276 EGV.
21 Vgl. Oppermann, S. 117.
22 Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230,3 EGV.
23 Untätigkeitsfeststellungsklage gemäß Art. 232 EGV.
24 Siehe Art. 77,1 GG sowie Art. 78 GG und Art. 82 GG.
25 Budgetrecht gemäß Art. 110 GG.
26 Vgl. Art 252 EGV und Haushalts- und Budgetrecht Art. 272 EGV.
27 Zustimmung zum Beispiel bei EU-Erweiterung gemäß Art. 49 EUV.
28 Vgl. Art 192 EGV.
29 Vgl. Oppermann, S. 111.
30 Siehe: Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, Baden-Baden 1997, S. 241.
31 Vgl. Claus Dieter Claassen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: Archiv des öffentlichen Rechts 119, 1994, S. 28 -260
32 Vgl. Teil IV EGV.
33 Vgl. Gusy, S. 273.
34 Ebenda.
35 Vgl. Christian Wernicke, Krise in Bonn und Brüssel, in: Die Zeit, 18.3.1999.
36 Roland Bieber, Demokratische Legitimation in Europa. Ein Spannungsverhältnis zwischen den Funktionen von Europäischem Parlament und staatlichen Parlamenten, 1999, ZeuS, S. 14.
37 Vgl. Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip.
38 Die Geschäftsordnung des Bundestages verbietet Änderungsanträge zu völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 82,2.
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Demokratieanspruch der EU laut diesem Text?
Die EU hat sich dem Demokratieprinzip verpflichtet und es in die Präambel des EU-Vertrages aufgenommen sowie in Art. 6, Abs. 1 des EU-Vertrages rechtlich verankert. Eine genaue Definition des Demokratiebegriffs wird in den Gründungsverträgen jedoch nicht gegeben, wodurch unklar bleibt, ob die EU eine direkte oder repräsentative Demokratie anspricht und wie die Strukturen dieser Demokratie aussehen sollen. Die EU betont die Prinzipien der parlamentarischen, pluralistischen Demokratie, wobei die Demokratieanforderungen, die die EU an ihre Mitgliedsstaaten stellt, von der EU selbst nicht vollständig erfüllt werden können, insbesondere aufgrund der schwachen Stellung des Europäischen Parlaments (EP).
Welche Modelle der demokratischen Legitimation der EU werden in diesem Text vorgestellt?
Es werden zwei konkurrierende Auffassungen vorgestellt:
- Legitimation auf europäischer Ebene durch das Europäische Parlament (EP): Das EP wird durch allgemeine, unmittelbare Wahlen gewählt und ist somit direkt demokratisch von den EU-Bürgern legitimiert.
- Legitimation auf nationaler Ebene über die Parlamente der Mitgliedsstaaten: Die nationalen Parlamente wählen die Regierungen, die im Europäischen Rat und im Ministerrat vertreten sind. Zudem ernennen die nationalen Regierungen die Mitglieder der Kommission. Somit sind Ministerrat, Europäischer Rat und Kommission indirekt demokratisch legitimiert.
Welche Kritikpunkte werden an der Legitimation durch das Europäische Parlament geäußert?
Das EP hat im Vergleich zu nationalen Parlamenten wenig Rechte, insbesondere das fehlende Recht zur Gesetzesinitiative und geringe Letztentscheidungsbefugnisse werden als Hauptargument für das demokratische Defizit genannt. Das EP wirkt bei der Ernennung exekutiver Organe nicht mit und die Kontrollbefugnisse sind trotz des Mißtrauensvotums gegenüber der Kommission relativ schwach.
Welche Kritikpunkte werden an der Legitimation durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten geäußert?
Die mittelbare demokratische Legitimation weist einige Probleme auf:
- Lange personelle Legitimationsketten erschweren die Einflussnahme der Bürger.
- Verlust der Opposition auf EU-Ebene stärkt nationale Regierungen.
- Schleichende Entmachtung der nationalen Parlamente durch Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf EU-Ebene.
- Stärkung nationaler Regierungen durch die Ernennung der Kommissare.
- Ministerrat und Kommission agieren weitgehend ohne Kontrolle.
- Wahlkampf mit nationalen Themen verdeckt die europapolitische Bedeutung der nationalen Wahlen.
- Der Einfluss der nationalen Parlamente auf die Europapolitik ist marginal.
Was wird in diesem Text unter einem "Demokratiedefizit" in der EU verstanden?
Das Demokratiedefizit entsteht, weil das EP wenig Rechte hat und Rat/Kommission durch lange Legitimationsketten weit vom Bürger entfernt sind. Die EU ist weder durch das EP noch durch die nationalen Parlamente hinreichend demokratisch legitimiert und wird somit ihrem Demokratieanspruch nicht gerecht.
Welche Lösungsansätze werden zur Behebung des Demokratiedefizits vorgeschlagen?
Es werden folgende Lösungsansätze vorgeschlagen:
- Stärkung des Europäischen Parlamentes durch erweiterte Kompetenzen und Kontrollmöglichkeiten.
- Veränderte Entscheidungsstrukturen, insbesondere eine stärkere Einbindung des EP in den Rechtsetzungsprozess und ein Zweikammersystem.
- Abbau von Bürokratie und Förderung der Transparenz zur besseren Kontrolle und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen.
- Förderung einer europäischen Öffentlichkeit durch europäische Themen im Wahlkampf, internationale Bildungs- und Begegnungsprojekte, Europapolitik als Schulfach und Ausbau europäischer Medien.
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- Julia Sievers (Autor:in), 2000, Das demokratische Defizit der EU, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/97153