Um dem komplexen Thema des Gedächtnisses gerecht werden zu können, wende ich mich in der vorliegenden Hausarbeit zunächst den Funktionsweisen des Gedächtnisses hinsichtlich zeitlicher und inhaltlicher Dimensionen sowie den Prozessen des Abrufs und Vergessens zu. Anschließend wird die Frage gestellt, wie sich diese Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung in der schulischen Ausbildung umsetzen lassen, um Schülern einen idealen Umgang mit dem Lernen neuer Informationen gewährleisten zu können und ihnen Methoden an die Hand zu geben, wie diese Informationen langfristig vor dem Vergessen zu bewahren. Anhand welcher Techniken und Modelle können grundlegende Strategien zur Verbesserung der Informationsaufnahme abgeleitet werden? Welche Bedingungen fördern eine langfristige Speicherung von Informationen? Und wie lassen sich Prinzipien zur Gestaltung von Schulungen und Seminaren praktisch umsetzen?
Ziel dieser Arbeit ist es, eine maximale Nutzung des Gedächtnisses beim Lernen neuer Informationen durch die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung herauszuarbeiten.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Gedächtnis
2.1 Zeitliche und inhaltliche Dimensionen des Gedächtnisses
2.2 Abruf von Gedächtnisinhalten
2.3 Vergessen
3. Erkenntnisse der Gedächtnisforschung und deren Anwendung in der schulischen Ausbildung
3.1 Voraussetzungen
3.2 Strategien und Methoden
3.3 Motivation und Emotion
3.4 Modelle
3.5 Konkrete Anwendung an einem Beispiel
4. Kritische Diskussion
5. Fazit und Ausblick
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Arbeitsgedächtnismodell nach Baddeley und Hitch
Abbildung 2 Klassifikation der Gedächtnisprozesse
Abbildung 3 Modell der Verarbeitungstiefen nach Craik und Lockhart
Abbildung 4 Die Vergessenskurve nach Hermann Ebbinghaus
Abbildung 5 Illustration zur Loci-Methode
Abbildung 6 INVO-Modell
1.Einleitung
Im Dokumentarfilm „Auf der Suche nach dem Gedächtnis” reist der 79-jährige Nobelpreisträger Eric Kandel zurück in seine Geburtsstadt Wien. Im Alter von neun Jahren floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten nach Amerika und wurde Jahrzehnte später einer der renommiertesten Hirnforscher unserer Zeit. Das Intro beginnt mit Kandels Worten: „Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Gehirn, weil jeder etwas anderes gelernt hat. Wir sind, wer wir sind, auf Grund dessen, was wir lernen und woran wir uns erinnern. Das Gedächtnis ist das Bindemittel, dass unser geistiges Leben zusammenhält. Es verleiht unserem Leben Kontinuität. Ohne Gedächtnis wären wir nichts.”
Im Laufe der Entwicklung erlernt der Mensch mit seiner Umwelt zu agieren und interagieren, vorausschauend zu planen und seine Verhaltensweisen anzupassen. Dies ist nur möglich, weil der Mensch in der Lage ist, Reize und Informationen zu verarbeiten, diese zu speichern und wieder abzurufen. All diese Aufgaben übernimmt unser Gedächtnis. Es stellt eine mentale Repräsentation der Welt dar, wie sie von jedem Einzelnen erkannt und erlebt wird, und lässt uns Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, in der Gegenwart nutzen.
Um dem komplexen Thema des Gedächtnisses gerecht werden zu können, wende ich mich in der vorliegenden Hausarbeit zunächst den Funktionsweisen des Gedächtnisses hinsichtlich zeitlicher und inhaltlicher Dimensionen sowie den Prozessen des Abrufs und Vergessens zu. Anschließend wird die Frage gestellt, wie sich diese Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung in der schulischen Ausbildung umsetzen lassen, um Schülern einen idealen Umgang mit dem Lernen neuer Informationen gewährleisten zu können und ihnen Methoden an die Hand zu geben, wie diese Informationen langfristig vor dem Vergessen zu bewahren. Anhand welcher Techniken und Modelle können grundlegende Strategien zur Verbesserung der Informationsaufnahme abgeleitet werden? Welche Bedingungen fördern eine langfristige Speicherung von Informationen?
Und wie lassen sich Prinzipien zur Gestaltung von Schulungen und Seminaren praktisch umsetzen?
Ziel dieser Arbeit ist es, eine maximale Nutzung des Gedächtnisses beim Lernen neuer Informationen durch die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung herauszuarbeiten.
2. Das Gedächtnis
Gedächtnis wird als die Fähigkeit des Nervensystems zum Aufnehmen, Ordnen, Speichern und Abrufen von Informationen verstanden.1 Sämtliche im Gedächtnis gespeicherten Informationen basieren auf bewussten und unbewussten Lernprozessen. Als hypothetisches Konstrukt entzieht es sich unserer direkten Beobachtung und muss aus seinen Effekten erschlossen werden.2
2.1 Zeitliche und inhaltliche Dimension des Gedächtnisses
In der Psychologie werden zeitliche und inhaltliche Dimensionen des Gedächtnisses unterschieden. Zeitliche Dimensionen lassen sich nach Dauer der Informationsspeicherung in verschiedene Subsysteme einteilen.
Informationen werden zunächst über die Sinnesorgane an das Gehirn weitergeleitet und im sensorischen Gedächtnis zwischengespeichert. Als perzeptuelles System nimmt das sensorische Gedächtnis, sensorische Informationen über verschiedene Rezeptoren auf, enkodiert diese und wandelt sie in perzeptuelle Repräsentationen um, welche im weiteren Verlauf im Arbeitsgedächtnis transferiert, bearbeitet oder auch gespeichert werden.3 Dieses Gedächtnissystem wird unterteilt in ein ikonisches Gedächtnis, das visuelle Informationen speichert, und ein echoisches Gedächtnis, dass auditiv Reize aufnimmt. Die Kapazität des sensorischen Gedächtnisses ist relativ groß, die gespeicherte Kapazität zerfällt allerdings innerhalb von 4 Sekunden im ikonischen und innerhalb 20 Sekunden im echoischen Gedächtnis.4 Sensorische Speicher behalten immer nur den letzten Reiz, da neue Reize vorherige löschen und ersetzen.5
Das Kurzzeitgedächtnis bzw. Arbeitsgedächtnis ist dem sensorischen Gedächtnis nachgeschaltet und wird durch Wiederholung des Erinnerten für das Langzeitgedächtnis und einen späteren Abruf enkodiert.6 Da beide Begrifflichkeiten grundsätzlich das gleiche beschreiben, sich jedoch entweder an Atkinson und Shiffrins oder Baddeley und Hitchs Modell orientieren, ist hinzuzufügen, dass Letztere das Modell des Kurzzeitgedächtnisses durch ihr Arbeitsgedächtnis erweitert haben. Das Arbeitsgedächtnismodell umfasst die Prozesse von kurzzeitiger Informationsspeicherung bis hin zur Informationsbearbeitung. Phonologische Schleifen dienen zur Aufrechterhaltung verbaler und akustischer Informationen; der visuell-räumliche Notizblock ist Speicher für visuelle bzw. räumliche Informationen. Der episodische Puffer verbindet Informationen zu integrierten Einheiten, speichert diese in einer Art Code mit visuellen, räumlichen und verbalen Aspekten und stellt eine Verbindung zwischen Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis her. Eine übergeordnete zentrale Exekutive koordiniert alle modalitätsunspezifischen Arbeitsgedächtnisprozesse, legt Informationen in den Slave-Systemen ab oder liest sie heraus, transformiert Informationen, steuert Aufmerksamkeitsprozesse und stellt eine Verbindung zum Langzeitgedächtnis her. Durch die Einbettung des Kurzzeitgedächtnisses in den größeren Kontext des Arbeitsgedächtnisses sollte das Kurzzeitgedächtnis nicht als Ort, sondern als Prozess verstanden werden.7 Da die Speicherdauer des Kurzzeitgedächtnisses mit 20 bis 30 Sekunden sehr gering ist, müssen Informationen wiederholt oder nach aktuellen Forschungen in 4 bedeutungshaltige Inhalte (Chunks) komprimiert werden, um diese behalten zu können.8 Die Gedächtnisspanne im Arbeitsgedächtnis kann mittels einer gleichzeitigen Belastung der phonologischen Schleife gemessen werden und fällt im Vergleich zum Kurzzeitgedächtnis mit zwei bis vier Informationseinheiten geringer aus.9
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Arbeitsgedächtnis nach Baddeley und Hitch.10
Das Langzeitgedächtnis dient als unbegrenzter, überdauernder Speicher und enthält das Wissen eines Menschen über sich selbst und seine Umwelt.10 11 Sämtliche Informationen und Fertigkeiten, die wir uns im Laufe des Lebens angeeignet haben, sind hier gespeichert. Durch den seriellen Positionseffekt, welcher aus Primacy- und Regency-Effekt besteht, wurde das Langzeitgedächtnis als separates System definiert.
Neben der zeitlichen Dimension des Gedächtnisses gibt es in der neueren Psychologie auch inhaltsabhängige Gedächtnisformen, die sich auf die Struktur des Langzeitgedächtnisses beziehen und nicht als einheitliche Größe, sondern als Zusammenschluss aus mehreren Komponenten betrachtet werden. Die wichtigste Unterscheidung liegt zwischen dem bewussten Gedächtnis, Fakten und Ereignissen (deklaratives oder explizites Gedächtnis) und den verschiedenen Formen der unbewussten Gedächtnisprozesse (nichtdeklaratives oder implizites Gedächtnis). Zusätzlich wird innerhalb des deklarativen Gedächtnisses zwischen episodischem (das Erinnerungen und Ereignisse beinhaltet) sowie semantischem Gedächtnis (das generische Fakten enthält) unterschieden.12 Hierdurch ist es uns erlaubt, die Zeit als relativ wahrzunehmen, um Vergangenes neutral zu betrachten und wieder erleben zu können. Das Nicht-deklarative Gedächtnis umfasst Informationen, die nicht verbalisierbar sind und sich primär im Verhalten ausdrücken. So speichert es Fertigkeiten und Gewohnheiten (Skills), Erwartungen und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Priming.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Klassifikation der Gedächtnisprozesse.13
2.2 Abruf von Gedächtnisinhalten
Abrufprozesse („retrieval“) ermöglichen, gespeicherte Informationen zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufen zu können. Der Abruf von Gedächtnisinhalten lässt sich in Rekognitionen und freie bzw. erleichterte Reproduktion unterscheiden. Die freie Reproduktion beschreibt ein aktives Abrufen vorher gelernter Informationen. Eine erleichterte Reproduktion unterscheidet sich von der freien Reproduktion durch einen zusätzlichen Hinweisreiz, der einen als Priming bezeichneten Assoziationseffekt weckt. Die Rekognition wird als Prozess bezeichnet, in dem ein früher erfahrener Reiz wiedererkannt werden kann. Die Unterscheidung dieser Verfahren liegt im unterschiedlichen Erarbeitungsprozess der Abrufhilfe, der hinsichtlich der Wiedererkennungsaufgaben zu tendenziell besseren Erinnerungsleistungen führt.13 14
Abrufreize dienen uns als Hilfe, Informationen oder Gedächtnisinhalte aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen. Diese Retrieval Cues (Abrufhinweise, Abrufhilfen) sind Assoziationen, die während der Encodierungsphase gespeichert wurden. Durch einen gegebenen Abrufreiz kann ein Bereich des Assoziationsnetzes aktiviert werden, was als Priming oder Voraktivierung bezeichnet wird.15
Die Encodierspezifität bezieht sich auf den Abruf aus dem Langzeitgedächtnis und beschreibt, dass mit zunehmender Ähnlichkeit zwischen dem Kontext der Codierungssituation und der späteren Abrufsituation das Erinnern erleichtert wird. Kontextreize dienen hierbei als Abruf oder Erinnerungshilfen. Godden und Baddeley (1975) wiesen dies in einem Experiment mit Tauchern nach. Hierzu sollten die Taucher unter Wasser und an Land Wortlisten erlernen. Anschließend wurde dann ebenfalls in beiden Kontexten die Erinnerungsleistung getestet. Ergebnis: die Leistung fiel bei identischem Lern- und Abrufkontext besser aus. Auch ähnliche innere Kontexte wie Gefühle und Befindlichkeiten können beim Encodieren helfen.16
Ein äußerst wichtiger Prozess in Bezug auf das Abrufen von Informationen stellt die Verarbeitungstiefe oder auch “Levels of Processing” von Craik und Lockhart dar. Eine Grundannahme dieses Modells beinhaltet, dass die Analyse eines Stimulus auf verschiedenen, hierarchisch angeordneten Ebenen verlaufen kann, abhängig davon welche Reizdimension im Vordergrund steht. Ausschlaggebend für die Gedächtnisleistung ist, wie elaboriert ein Reiz während der Enkodierungsphase verarbeitet wird. Tiefer verarbeitete Reize können besser enkodiert werden und ermöglichen dadurch bei späterem Abruf eine bessere Gedächtnisleistung.17
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Modell der Verarbeitungstiefen nach Craik und Lockhart.18
Komplementär zum Ansatz der Verarbeitungstiefe erläutert die “Theorie der transferangemessenen Verarbeitung” nach Morris et al. (1977), dass nicht die Verarbeitungstiefe für die Gedächtnisleistung ausschlaggebend ist, sondern der Grad an Überlappung von kognitiven Prozessen bei Enkodierung und Abruf. Je größer hierbei die Überlappung ausfällt, desto besser würde die Gedächtnisleistung sein.18 19
Der serielle Positionseffekt beschreibt die Abrufqualität bezüglich der Item Position und wird als Primacy-Regency-Effekt beschrieben. Stehen diese am Anfang oder Ende einer Item-Liste, ist die Reproduktionswahrscheinlichkeit deutlich höher.20 Glanzer und Cunitz (1966) stellten Anhand dieser Effekte eine zuverlässige Evidenz der doppelten Dissoziation von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis fest. Die Pause zwischen den Wörtern einer Item-Liste wird zum Rehearsal genutzt, der den Übergang zum Langzeitgedächtnis bewirkt. Aufgrund der kurzen Pausen können jedoch nur die Anfangs-Items wiederholt werden. Der Regency-Effekt wiederum ist durch den noch aktuellen Zugriff auf die Items im Kurzzeitgedächtnis möglich.
[...]
1 Vgl. Zimbardo/ Gerrig/ Graf (2008), S. 232.
2 Vgl. Schermer (2006), S. 13.
3 Vgl. Gruber (2018), S. 15.
4 Vgl. Gruber (2018), S. 18.
5 Vgl. Horstmann (2018), S. 224.
6 Vgl. Myers (2008), S. 9.
7 Vgl. Gerrig/ Zimbardo (2018), S. 265.
8 Vgl. Gazzangia/ Heatherton/ Halpern (2017), S. 392.
9 Vgl. Horstmann (2018), S. 241.
10 Vgl. Baddeley/ Hitch (2000).
11 Vgl. Jansen (2015), S. 93f.
12 Vgl. Gruber (2018), S. 93f.
13 Vgl. Becker-Carus (2011), S. 387.
14 Vgl. Becker-Carus (2011), S. 393f.
15 Vgl. Becker-Carus (2011), S. 394f.
16 Vgl. Becker-Carus (2011), S. 390.
17 Vgl. Gruber (2018), S. 68f.
18 Vgl. Schermer (2006), S.135.
19 Vgl. Gruber (2018), S. 84.
20 Vgl. Gerrig/ Zimbardo (2008), S. 247.