Die Arbeit stellt sich die Frage, wie sich das Verfassungsrecht in der immissionsschutzrechlichten Beurteilung auf das Glockenläuten und den islamischen Gebetsruf auswirkt. Der Glockenschlag von Kirchtürmen sowie der islamische Gebetsruf (Muezzinruf/Adhan) sind im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus bundesweit wieder Gegenstand lebhafter Diskussionen geworden. Auslöser dieser Diskussionen war der Entschluss der Kirchen, im Zeitalter der Pandemie, durch das Läuten der Glocken zumindest ein akustisch wahrnehmbares Zeichen der Hoffnung und Solidarität auszusenden. Dieser Idee wollten mit Blick auf den Fastenmonat Ramadan viele Moscheegemeinden mittels des lautsprecherverstärkten Adhans nachkommen.
Auf diesen verzichtete ein Großteil der Muslime in Deutschland bislang aus Rücksicht auf das Wohlbefinden der christlichen Bevölkerung. Ein weiterer Grund liegt aber darin, dass in der Vergangenheit zahlreiche Kommunen einen Antrag auf die Verkündigung per Lautsprecher ablehnten. Zwar bestätigte beispielsweise das hessische VGH (Verfassungsgerichtshof) die Entscheidung des VG Gießen, wonach eine straßenverkehrsrechtliche Genehmigung für den lautsprecherverstärkten Gebetsruf nicht erforderlich sei, wenn dieser die Lautstärke von 60 dB(A), was einer normalen Unterhaltung entspricht, nicht überschreite. Bedenkt man jedoch, dass der Umgebungslärm mit 50 dB(A) nur wenig leiser als der Gebetsruf war und dieser somit seinem Zweck, in der städtischen Geräuschkulisse nicht unterzugehen, gemeinhin nicht nachkommen kann, während das Läuten der Kirchenglocke nach Auffassung des OVG Lüneburg auch dann noch hinzunehmen sei, wenn kurzzeitig Gespräche unterbrochen oder mit verstärkter Stimme weitergeführt werden müssen und Freizeitbeschäftigungen wie der Empfang von Radio- oder Fernsehprogrammen vorübergehend gestört werden, ist die Annahme einer Ungleichbehandlung zwischen dem Muezzinruf und dem kirchlichen Glockengeläut naheliegend.
Ob diese Ungleichbehandlung mit der Verfassung in Einklang gebracht werden kann, wird unter anderem Gegenstand dieser Arbeit sein. Jedenfalls spielt das Immissionsschutzrecht im Zusammenhang mit dem kirchlichen Glockenläuten und dem islamischen Gebetsruf eine zentrale Rolle und weist zwangsläufig auch eine "verfassungsrechtliche Dimension" auf, da sich die Immissionsbetroffenen und grundrechtsberechtigten Emittenten stets auf ihre jeweiligen Grundrechte berufen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Hauptteil
1. Immissionsschutz
a. Allgemeines
b. Begriff der Immissionen
c. Geräusche
2. Glaubensfreiheit, Art. 4 I, II GG
a. Schutzbereich
aa. Glockenläuten
(1) Liturgisches Glockengeläut
(2) Zeitschlagen
bb. Islamischer Gebetsruf
b. Schranken
c. Schonender Ausgleich
3. Immissionsschutzrechtliche Beurteilung
a. Liturgisches Läuten
aa. Nicht genehmigungsbedürftige Anlage
bb. Herkömmlichkeit, Sozialadäquanz und allgemeine Akzeptanz
cc. TA Lärm
dd. Überschreitung des Spitzenpegelwertes
b. Zeitschlagen
aa. Herkömmlichkeit, Sozialadäquanz und allgemeine Akzeptanz
bb. TA Lärm
c. Muslimischer Gebetsruf
aa. Bedeutung und Vergleichbarkeit
(1) Bedeutung
(2) Vergleichbarkeit
(a) Gemeinsamkeiten
(b) Unterschiede
(c) Entscheid
(3) Zwischenergebnis
bb. Nicht genehmigungsbedürftige Anlage
cc. Herkömmlichkeit, Sozialadäquanz und allgemeine Akzeptanz
(1) Strikte Anwendung der Kriterien
(2) Kritik
(a) Herkömmlichkeit
(b) Sozialadäquanz
(c) Allgemeine Akzeptanz
(3) Zwischenergebnis
dd. TA Lärm
ee. Überschreitung des Spitzenpegelwertes
d. Zwischenergebnis
4. Ergebnis
III. Schluss
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I. Einleitung
Der Glockenschlag von Kirchtürmen sowie der islamische Gebetsruf (Muezzinruf/Adhan) sind im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus bundesweit wieder Gegenstand lebhafter Diskussionen geworden. Auslöser dieser Diskussionen war der Entschluss der Kirchen, im Zeitalter der Pandemie, durch das Läuten der Glocken zumindest ein akustisch wahrnehmbares Zeichen der Hoffnung und Solidarität auszusenden.1 Dieser Idee wollten mit Blick auf den Fastenmonat Ramadan viele Moscheegemeinden mittels des lautsprecherverstärkten Adhans nachkommen.2 Auf diesen verzichtete ein Großteil der Muslime in Deutschland bislang aus Rücksicht auf das Wohlbefinden der christlichen Bevölkerung und um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren.3 Ein weiterer Grund liegt aber darin, dass in der Vergangenheit zahlreiche Kommunen einen Antrag auf die Verkündigung per Lautsprecher ablehnten.4 Zwar bestätigte beispielsweise das hessische VGH5 die Entscheidung des VG Gießen6, wonach eine straßenverkehrsrechtliche Genehmigung für den lautsprecherverstärkten Gebetsruf nicht erforderlich sei, wenn dieser die Lautstärke von 60 dB(A), was einer normalen Unterhaltung entspricht7, nicht überschreite. Bedenkt man jedoch, dass der Umgebungslärm mit 50 dB(A)8 nur wenig leiser als der Gebetsruf war und dieser somit seinem Zweck, in der städtischen Geräuschkulisse nicht unterzugehen9, gemeinhin nicht nachkommen kann, während das Läuten der Kirchenglocke nach Auffassung des OVG Lüneburg auch dann noch hinzunehmen sei, wenn kurzzeitig Gespräche unterbrochen oder mit verstärkter Stimme weitergeführt werden müssen und Freizeitbeschäftigungen wie der Empfang von Radio- oder Fernseh- programmen vorübergehend gestört werden10, ist die Annahme einer Ungleichbehandlung zwischen dem Muezzinruf und dem kirchlichen Glockengeläut naheliegend.
Ob diese Ungleichbehandlung mit der Verfassung in Einklang gebracht werden kann, wird unter anderem Gegenstand dieser Arbeit sein. Jedenfalls spielt das Immissionsschutzrecht im Zusammenhang mit dem kirchlichen Glockenläuten und dem islamischen Gebetsruf eine zentrale Rolle und weist zwangsläufig auch eine „verfassungsrechtliche Dimension“ auf, da sich die Immissionsbetroffenen und grundrechtsberechtigten Emittenten stets auf ihre jeweiligen Grundrechte berufen.11 In der vorliegenden Schwerpunktarbeit wird daher untersucht, wie der kirchliche Glockenschlag und der lautsprecherverstärkte Gebetsruf immissionsschutzrechtlich zu beurteilen sind und wie sich das Verfassungsrecht auf diese Beurteilungen auswirkt.
II. Hauptteil
Um dieser Aufgabe nachgehen zu können, wird zunächst das Immissionsschutzrecht näher ausgeleuchtet (1). Sodann wird ausgearbeitet, inwieweit das kirchliche Glockengeläut und der islamische Gebetsruf verfassungsrechtlich geschützt sind (2). Im Anschluss daran folgt die immissionsschutzrechtliche Beurteilung, wobei insbesondere auch die Auswirkungen des Verfassungsrechts maßgeblich sein werden (3).
1. Immissionsschutz
a. Allgemeines
Das Immissionsschutzrecht gehört zum Kernbereich des Umweltrechts und zielt auf die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung ab12 ; lediglich letzteres ist für diese Schwerpunktarbeit von Bedeutung. Freilich sind in den zurückliegenden Jahren für den Lärmschutz Erfolge zu verzeichnen. Beispielsweise wurden im Bereich des aktiven und passiven Schallschutzes Mittel entwickelt, mit denen die Lärmbelastung effizienter reduziert werden kann.13 Nichtsdestotrotz ist die Lärmbelastung in den letzten Jahrzehnten immer weiter angestiegen.14 Grund dafür ist unter anderem die mit dem Anstieg des Verkehrsaufkommens zusammenhängende Lärmimmission.15 So geht aus dem diesjährigen Umweltgutachten des Umweltrates hervor, dass sich in Deutschland rund 8,5 Millionen Menschen, tagsüber, abends und nachts einem durch Straßenverkehrslärm bedingtem Belastungspegel ausgesetzt sehen, der sich nachteilig auf ihre Gesundheit auswirke.16 Als Stressfaktor begünstigt Lärm nämlich nicht nur Schlafstörungen und Depressionen, sondern auch die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.17
b. Begriff der Immissionen
Immissionen sind nach der Legaldefinition des § 3 II BImSchG auf Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter einwirkende Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen, Licht, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwirkungen. Begrenzt wird der Immissionsbegriff auf die Zuführung unwägbarer Stoffe (sog. Imponderabilien).18 Zu den unwägbaren Stoffen gehören wiederum alle Gegenstände, die in der Luft nicht augenblicklich vollständig zu Boden sinken.19 Aus der Formulierung „ähnlicher Umwelteinwirkungen“ aus § 3 II BImSchG kann geschlussfolgert werden, dass die darin aufgeführte Aufzählung nicht abschließend und der Immissionsbegriff dem Grunde nach technisch-naturwissenschaftlich „entwicklungsoffen“ ist, also abhängig vom Stand der technischen Entwicklungen und Erkenntnisse immer einem Wandel unterliegen wird.20 Im Vergleich zu den Emissionen i.S.d. § 3 III BImSchG, die schon dem Wortlaut nach anlagenbezogen i.S.v. § 3 V BImSchG sind und mittelbar oder unmittelbar auf menschliche Handlungen zurückzuführen sein müssen21, umfassen Immissionen „quellenneutral“ alle Umwelteinwirkungen auf das geschützte Objekt oder Umweltmedium22. Voraussetzung ist bloß, dass die physische Einwirkung zuvor emittiert wurde.23
c. Geräusche
Geräusche i.S.d. § 3 II BImSchG sind wiederum hörbare Einwirkungen, die durch Schallwellen verbreitet werden.24 Hörbar sind Schallwellen für den Menschen im Schwingungsbereich zwischen 16 und 20.000 Hz.25 Wahrgenommen werden sie in Form von Druckschwankungen am Trommelfell.26 Für die Bestimmung der Stärke der Schallschwingungen ist der Schalldruckpegel maßgeblich, der in Dezibel (dB) ausgewiesen wird.27 Erfasst werden sollen aber nur solche Geräusche, die von Menschen als lästig empfunden werden, sog. Lärm.28 Problematisch ist hieran in erster Linie, dass Lärm nicht nur ein „bloßes Schallphänomen“ ist, sondern erheblich von der subjektiven Wahrnehmung abhängt.29 Prinzipiell wird der von einer Geräuschquelle ausgehende Lärm als umso weniger störend empfunden, je sympathischer die besagte Quelle einer Person ist.30 So können beispielsweise auch Kirchenglocken oder der Muezzinruf für den einen Wohlklang, Heimat und Geborgenheit bedeuten, während sie für andere überflüssig, lästig, aufdringlich und ärgerlich sind.31
2. Glaubensfreiheit, Art. 4 I, II GG
Als verfassungsrechtliche Grundlage kommt die Glaubensfreiheit nach Art. 4 I, II GG in Betracht.
a. Schutzbereich
Geschützt wird nach Art. 4 I GG die Freiheit des Glaubens sowie des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Art. 4 II GG hebt mit der ungestörten Religionsausübung nur eine Gewährleistung hervor, die an sich schon im ersten Absatz enthalten ist.32 Daher gewährleistet Art. 4 I, II GG, anders als der Wortlaut vermuten lässt, ein „umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit“33. Glaube ist hierbei als ein System von Anschauungen religiöser Prägung zu verstehen34, wobei er als Rechtsbegriff in einer Glaubensfreiheit gewährenden Rechtsnorm vom Inhalt her neutral sein muss35. Entscheidend ist, dass es sich nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild um eine Religion, Weltanschauung oder entsprechende Gemeinschaft handelt, wobei das Selbstverständnis des Betroffenen36 bzw. der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft37 nicht unbeachtet bleiben darf.38 Geschützt wird letztlich die Freiheit, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu haben, zu bilden und zu äußern, aber auch entsprechend dieser Auffassung sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens oder seiner Weltanschauung auszurichten und seiner inneren Überzeugung gemäß zu handeln.39 Neben dieser positiven Glaubensfreiheit wird die negative Glaubensfreiheit geschützt, worunter die Freiheit fällt, eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung nicht haben und ausüben zu müssen.40
aa. Glockenläuten
Der Gebrauch von Kirchenglocken müsste nach der extensiven Auslegung der Religionsfreiheit im Sinne einer „religiöse(n) Handlungsfreiheit“41 in den Schutzbereich des Art. 4 I, II GG fallen. Allerdings wurden die Kirchenglocken nie ausschließlich zu kirchlichen Zwecken eingesetzt. Insbesondere im Spätmittelalter kamen ihnen vielfältige weltliche Funktionen zu. So diente beispielsweise das mittägliche Angelusläuten dazu, an die „Türkengefahr“ zu erinnern (sog. „Türkenläuten“).42 Zudem wurde unter anderem bei Gewittern und Sturm („Sturmglocke“ und „Gewitterläuten“)43, zu besonderen Anlässen wie etwa der Taufe und dem Tod44 und bei politischen Ereignissen, beispielsweise am Tag der Wiedervereinigung sowie am 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges45, geläutet. Die wichtigste Unterscheidung beim Glockenläuten sehen Rechtsprechung und Literatur aber zwischen dem liturgischen Glockengeläut und dem Schlagwerk einer Kirchturmuhr (Zeitschlagen)46, welches oft auch als profanes bzw. nichtsakrales Glockenschlagen bezeichnet wird47.
(1) Liturgisches Glockengeläut
Liturgisch ist das Glockenläuten, wenn zu einer gottesdienstlichen Versammlung zusammengerufen, ein bestimmter religiöser Anlass hervorgehoben oder zum persönlichen Gebet aufgerufen wird.48 In solchen Fällen bestehen keine Zweifel, dass das Glockenläuten dem Schutzbereich des Art. 4 I, II GG unterfällt.49
(2) Zeitschlagen
Umstritten ist aber, ob das Zeitschlagen von Art. 4 I, II GG erfasst wird. Dafür könnte sprechen, dass nach dem Selbstverständnis der Kirchen die mit dem Glockenschlag bezweckte Zeitansage gleichzeitig einen Hinweis auf die Zeitlichkeit des Menschen gebe.50 Zudem wurde der Uhrschlag damals schon nicht als reine Zeitansage, „sondern inmitten des verrinnenden Lebens als tröstlicher und zu Lob und Dank ermunternder Hinweis auf Gottes Führung in Zeit und Ewigkeit“ verstanden.51 Das BVerwG hat jedoch mit dem Urteil vom 30.04.1992 die Ansicht vertreten, dass das Glockengeläut seine Funktion als Zeitansage unter den heutigen Lebensbedingungen praktisch verloren habe und deshalb nicht mehr einem Bereich kirchlicher Tätigkeit zugeordnet werden könne.52 Zuspruch findet diese Ansicht dadurch, dass sich mittlerweile auch einige Kirchengemeinden nicht mehr auf die sakrale Aussage des Zeitschlagens berufen.53
Allerdings kann dieser Auffassung mit Verweis auf die Verpflichtung des Staates zur religiös-weltanschaulichen Neutralität, die sich aus Art. 4 I, Art. 3 III, Art. 33 III GG sowie Art. 136 I, IV und Art. 137 I WRV i.V.m. Art. 140 GG ergibt54, entgegengehalten werden, dass staatliche Organe nicht zu der Feststellung berechtigt sind, „dass der Kirchturmuhrschlag theologisch-religiös hinfällig geworden sei“55. Letztlich bleibt festzuhalten, dass das Zeitläuten sehr wohl dem Schutzbereich des Art. 4 I, II GG unterfallen kann. Entscheidend ist das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft.56
bb. Islamischer Gebetsruf
Der Islam ist eine Religion bzw. Weltanschauung im Sinne des Art. 4 I, II GG. Der Gebetsruf ist für die Gültigkeit des Gebets zwar nicht erforderlich.57 Jedoch kann es bei der von Art. 4 I, II GG gewährleisteten Glaubensfreiheit nicht darauf ankommen, was zwingend notwendig ist, weil sonst die Gefahr bestünde, dass von staatlicher Seite das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften missachtet und der Inhalt des religiösen Bekenntnisses durch seine Behörden und Gerichte bestimmt würde, was wiederum einen eklatanten Verstoß gegen das Neutralitätsgebot darstellen würde.58 Mit der Vollziehung des Adhans manifestieren die Gemeindemitglieder ihre religiöse Überzeugung nach außen.59 Insbesondere hat der Gebetsruf bekenntnishaften Charakter und wird deshalb auch vom Schutzbereich des Art. 4 I, II GG erfasst.60
b. Schranken
Dem ausdrücklichen Wortlaut nach wird die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG zwar vorbehaltlos, nicht aber schrankenlos gewährt.61 Daraus folgt, dass für das kirchliche Glockenläuten und den Muezzinruf als verfassungsrechtliche Schranke nur die Grundrechte Dritter – allen voran Art. 2 II 1, Art. 2 I, Art. 14 I 1 sowie Art. 4 I, II GG – und sonstige Güter mit Verfassungsrang in Betracht kommen.62
Lärm kann zu Gesundheitsbeeinträchtigungen und Schädigungen führen, weshalb Art. 2 II 1 GG – der als ein im Grundgesetz nicht vorhandenes Umweltgrundrecht fungiert63 – als Schranke einschlägig sein kann64. Des Weiteren kann der Nachbar beim morgendlichen Gebetsläuten und Muezzinruf nicht mehr selber bestimmen, wann er aufwacht, sodass er möglicherweise in Art. 2 I GG verletzt ist.65 Außerdem können zum Beispiel die Funktionen eines Gewerbebetriebes und die Wohnfunktion eines Nachbargrundstücks negativ beeinträchtigt werden, weshalb Art. 14 I 1 GG als verfassungsrechtliche Schranke in Frage kommt.66 Sofern die negative Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG als Schranke einschlägig ist, könnte die Auffassung vertreten werden, dass Andersgläubige mit dem Gebetsruf oder dem Glockengeläut in ähnlicher Weise konfrontiert werden wie beim Kruzifix in Klassenzimmern und Gerichtssälen, welches seinerseits aufgrund der Verletzung der negativen Religionsfreiheit teils unzulässig ist.67 Allerdings besteht der Unterschied darin, dass diese nicht von staatlicher Seite veranstaltet werden.68 In einer religiös pluralistischen Gesellschaft gibt die eigene Religionsfreiheit zudem kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben.69
c. Schonender Ausgleich
Letztlich muss zwischen den kollidierenden Grundrechten ein schonender Ausgleich im Sinne einer praktischen Konkordanz erfolgen.70 Vor dem Hintergrund, dass das relative Gewicht des Art. 4 GG hoch anzusetzen ist, ergibt sich für das Glockenläuten und den Gebetsruf grundsätzlich ein relativer Vorrang.71
Zu bedenken ist aber, dass der Gebetsruf zu fünf verschiedenen Tageszeiten – in der Morgendämmerung, mittags, nachmittags, bei Sonnenuntergang und zu einer bestimmten Zeit nach Einbruch der Nacht – erfolgt72. Mithin wird der Muezzinruf über einen bestimmten Zeitraum im Jahr während der Ruhezeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr abgehalten. Fraglich ist, wie das Verhältnis zwischen Art. 4 I, II GG und Art. 2 II 1 GG während der Ruhezeit ausfällt. Das BVerwG stellte mit dem Urteil vom 27.02.1992 fest, – es ging hier um einen Nachbarn, der gegen die Baugenehmigung zur Errichtung eines Betsaales gegenüber von seinem Grundstück klagte – dass das vor 6 Uhr stattfindende Morgengebet, welches mit Geräuschbelastung durch das Verkehrsaufkommen der Muslime einhergeht, schutzwürdiger sei als das Ruhebedürfnis des Nachbarn, mithin Art. 4 I, II GG gegenüber Art. 2 II 1 GG überwiege.73 Begründet wurde dies damit, dass das Morgengebet ungefähr nur 3 Monate im Jahr vor 6.00 Uhr abgehalten wird und einen unverzichtbaren Bestandteil der islamischen Religionsausübung darstellt. Beachtenswert ist, dass nach dieser Entscheidung bereits der Verkehrslärm vom Schutz des Art. 4 I, II GG erfasst wird. Ein umso höherer Schutz muss dann aber dem Gebetsruf, der im Vergleich zum Verkehrslärm den eigentlichen Teil der Religionsausübung darstellt, zukommen.74 Daher überwiegt auch während der Nachtzeit Art. 4 I, II GG gegenüber Art. 2 II 1 GG.75
Folglich kann das Verbot des kirchlichen Glockenläutens und des Muezzinrufs nur in absoluten Ausnahmefällen möglich sein. Anders verhält es sich mit der Verringerung der Lautstärke oder der Einschränkung der Häufigkeit.76
3. Immissionsschutzrechtliche Beurteilung
Im Folgenden wird die immissionsschutzrechtliche Beurteilung des liturgischen Läutens, des Zeitschlagens, sowie des lautsprecherverstärkten Muezzinrufs geprüft.
a. Liturgisches Läuten
aa. Nicht genehmigungsbedürftige Anlage
Zunächst einmal kann die Kirchenglocke nur dann nach dem BImSchG beurteilt werden, wenn sie dem Anlagenbegriff nach § 3 V BImSchG unterfällt. Andernfalls sind die Vorschriften des BImSchG nicht anwendbar, vgl. § 2 I BImSchG.
Kirchenglocken sind als Teile des kirchlichen Gebäudes ortsfeste Einrichtungen i.S.v. § 3 V Nr. 1 Alt. 2 BImSchG, die dem weiten Anlagenbegriff unterfallen77, trotz dass ihr Zweck gerade darin besteht „Lärm“ zu erzeugen78. Zudem ist die Kirchenglocke nicht von § 4 I 1, 3 BImSchG i.V.m. der 4. BImSchV erfasst, sodass sie nicht genehmigungsbedürftig ist.79 Mithin handelt es sich um nicht genehmigungsbedürftige Anlagen i.S.d. §§ 22 ff. BImSchG.80
Diese sind gem. § 22 I 1 Nr. 1 BImSchG so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind. Schädliche Umwelteinwirkungen sind gem. § 3 I BImSchG Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit herbeizuführen. Wann Geräusche die Schwelle schädlicher Umwelteinwirkungen überschreiten, unterliegt weitgehend tatrichterlicher Wertung und ist eine Frage der Einzelfallbeurteilung.81 Nach der Rechtsprechung des BVerwG liegt eine erhebliche Belästigung dann vor, wenn das „zumutbare Maß“ – unter Vornahme einer Güterabwägung – überschritten wird.82
bb. Herkömmlichkeit, Sozialadäquanz und allgemeine Akzeptanz
Für die Bestimmung der Zumutbarkeit sind neben der Gebietsart und der Art des Lärms83 wertende Elemente wie die Herkömmlichkeit, die Sozialadäquanz und die allgemeine Akzeptanz entscheidend84. Darunter fallen Geräusche, die auf einer längeren, von der Gesellschaft gebilligten Tradition beruhen, zum menschlichen Zusammenleben dazugehören und deren Zweck von der Gesellschaft positiv bewertet und anerkannt wird.85
So hat das BVerwG bereits am 07.10.1983 festgestellt, dass das Angelusläuten um 6.00 Uhr morgens für eine Minute während der Sommerzeit vom 15. April bis zum 15. Oktober keine erhebliche Belästigung darstelle, sondern eine zumutbare, sozialadäquate Einwirkung sei.86 Begründet wurde diese Feststellung damit, dass es sich bei dem kultischen Glockengeläut um eine jahrhundertalte kirchliche Lebensäußerung handele, die, wenn sie sich nach Zeit, Dauer und Intensität im Rahmen des Herkömmlichen halte, auch in einer säkularisierten Gesellschaft unter Würdigung der widerstreitenden Interessen hinzunehmen sei. Schließlich bezwecke das morgendliche Angelus-Läuten nach Aussage der Beklagten die Gemeindemitglieder am frühen Morgen zum Gebet aufzurufen und damit der Verkündigung der christlichen Botschaft als der zentralen Aufgabe der Kirche nachkommen zu können und gleichzeitig ein Zeichen der Präsenz der Kirche in der Gesellschaft zu setzen. Eine solche kirchliche Lebensäußerung halte sich im Rahmen des Herkömmlichen und stelle zugleich einen vom Schutz des Art. 4 II GG erfassten Akt der Religionsausübung dar. Sie überschreite nicht die Grenzen des Angemessenen und müsse daher von sich gestört fühlenden Einzelpersonen oder Personengruppen – auch unter dem Gebot gegenseitiger Toleranz – als sozialadäquat ertragen werden.87
cc. TA Lärm
Hinzu kommt der TA Lärm, an welcher sich die Rechtsprechung mit Blick auf das Vorliegen schädlicher Umwelteinwirkungen i.S.d. § 3 I BImSchG ebenfalls orientiert und die trotz ihrer Nr. 1 grundsätzlich nur für genehmigungsbedürftige Anlagen gilt, eine indizielle Bedeutung zu.88
Differenziert wird in Nr. 6.1 TA Lärm für die darin festgelegten Gebietstypen zwischen dem Mittelungspegel nach Nr. 2.7 TA Lärm und dem Maximalpegel nach Nr. 2.8 TA Lärm. Prinzipiell müssen sowohl der Mittelungspegel wie auch der Maximalpegel eingehalten werden. Wird einer der beiden Werte überschritten, liegt i.d.R. eine schädliche Umwelteinwirkung vor. Abhängig von der Art und Dauer der Geräuscheinwirkung kann beiden Werten aber ein unterschiedliches Gewicht zukommen.89
So entschied das BVerwG am 02.09.1996 – es ging hier um einen Kläger, dessen Wohnhaus nur zehn Meter vom Glockenturm entfernt liegt und welcher sich gegen das dreimal tägliche Angelusläuten um 7.00 Uhr, 12.00 Uhr und 18.00 Uhr wendete – zugunsten des Angelusläutens, dass für die Frage der Zumutbarkeit in erster Linie auf die Lautstärke und Lästigkeit des Einzelgeräuschs und damit auf den Wirkpegel abzustellen sei, während die Mittelwertbildung an Bedeutung zurücktrete.90 Im vorliegenden Fall überstieg der gemessene Beurteilungspegel mit 66,6 dB(A) den nach den Richtlinien für allgemeine Wohngebiete genannten Richtwert von 55 dB(A) gem. Nr. 6.1 S. 1 e) TA Lärm deutlich. Gleichzeitig unterschritt der gemessene Wirkpegel des Einzelgeräusches mit 80,2 dB(A) den nach den Regelwerken tagsüber als tolerierbar angesehenen Maximalpegel für Einzelgeräusche i.H.v. 85 dB(A) gem. Nr. 6.1 S. 2 TA Lärm. Sofern sich der Wirkpegel des Einzelgeräusches des Angelusläutens innerhalb des Rahmens befinde, den die Regelwerke ganz allgemein für Einzelgeräusche in einem reinen Wohngebiet als zumutbar angesehen haben, führe die Überschreitung des Mittelungspegels, der hier ohnehin nur als grober Anhalt dienen könne, nicht zur Unzumutbarkeit. Denn in der Güterabwägung sei bei der Beurteilung der Erheblichkeit von Lärm eben auch der Gesichtspunkt zu beachten, dass liturgisches Glockengeläute im herkömmlichen Rahmen regelmäßig keine erhebliche Belästigung, sondern eine zumutbare, sozialadäquate Einwirkung darstelle.91
Dafür spricht auch, dass die Immissionsrichtwerte als äquivalente Dauerschallpegel gedacht sind, die als Maßstab für über 16 Tages- bzw. acht Nachtstunden gemittelte Schallereignisse fungieren und nicht etwa für den durch das liturgische Glockenläuten kurzzeitig erklingenden Lärm.92
[...]
1 Gießener Allgemeine (19.03.2020); NDR (27.03.2020); Lokalkompass (19.03.2020).
2 Siehe Sonntagsblatt (04.05.2020); Düsseldorf (30.04.2020).
3 Siehe Bergmann, ZAR 2004, 135, 138; vgl. Welt (27.04.2020), wo die lokale CDU in Haiger durch die Erlaubnis zum Gebetsruf während der Corona-Zeit „den sozialen Frieden in Gefahr“ sah.
4 Bergmann, ZAR 2004, 135, 139.
5 Siehe VGH Kassel, Beschl. v. 21.11.2003 – Az.: 2 ZU 24/01.
6 VG Gießen, Urt. v. 27.11.2000 – Az.: 6 E 1080/96.
7 Sellner/Reidt/Ohms, 1. Teil Rn. 80.
8 Angaben können aus dem oben genannten Urt. d. VG Gießen entnommen werden.
9 Vgl. Muckel, NWVBl 1998, S. 1.
10 OVG Lüneburg, NVwZ 1991, 801, 802; vgl. Mainusch, ZevKR 38 (1993), S. 26, 83.
11 Siehe Couzinet, S. 30.
12 Vgl. Kahl/Gärditz, § 7 Rn. 1.
13 Siehe dazu Sparwasser/Engel/Voßkuhle, § 10 Rn. 48.
14 Vgl. Sparwasser/Engel/Voßkuhle, § 10 Rn. 49.
15 Kahl/Gärditz, § 7 Rn. 3; vgl. Führ/ Krohn, § 3 BImSchG Rn. 15 sowie Koch/Hofmann/ Reese, § 4 Rn. 9.
16 Siehe Umweltrat (14.05.2020), S. 266.
17 Siehe Umweltrat (14.05.2020), S. 266.
18 Giesberts/Reinhardt/ Schulte / Michalk, § 3 BImSchG Rn. 7.
19 Jarass, § 3 BImSchG Rn. 13.
20 Landmann/Rohmer/ Thiel, § 3 BImSchG Rn. 56.
21 Rehbinder/Schink/ Hansmann, § 7 Rn. 2.
22 Landmann/Rohmer/ Thiel, § 3 BImSchG Rn. 59.
23 Rehbinder/Schink/ Hansmann, § 7 Rn. 2.
24 Schlacke, § 9 Rn. 26 ; Jarass, § 3 BImSchG Rn. 7.
25 Jarass, § 3 BImSchG Rn. 7; Führ/ Krohn, § 3 BImSchG Rn. 12.
26 Giesbert/Reinhard/ Schulte/Michalk, § 3 BImSchG Rn. 22.
27 Siehe Landmann/Rohmer/ Thiel, § 3 BImSchG Rn. 63; näheres dazu in Sellner/Reidt/ Ohms, 1. Teil Rn. 78.
28 Kloepfer, § 15 Rn. 173; Hoppe/Beckmann/Kauch, § 21 Rn. 17.
29 Vgl. Hense, S. 263; Laubinger, VerwArch 83 (1992), S. 623, 625; Sparwasser/Engel/Voßkuhle, § 10 Rn. 33.
30 Laubinger, VerwArch (83) 1992, S. 623, 625; vgl. Sellner/Reidt/Ohms, Teil 1 Rn. 81.
31 Siehe Czermak/Hilgendorf, Rn. 509.
32 Siehe Hömig/ Wolff, Art. 4 GG Rn. 3; BVerfGE 24, 236 (245).
33 Sodan, Art. 4 GG Rn. 4; BVerfGE, 108, 282 (297).
34 Dreier/ Morlok, Art. 4 GG Rn. 72.
35 v. Münch/Kunig/ Mager, Art. 4 Rn. 12.
36 BVerfGE 33, 23.
37 BVerfGE 24, 236 (247).
38 Siehe Sachs/ Kokott, Art. 4 Rn. 19.
39 BVerfGE 32, 98 (106).
40 Jarass /Pieroth, Art. 4 GG Rn. 13.
41 Epping, Rn. 308a.
42 Sartori, S. 48 f.
43 Hense, S. 43 f.
44 Sartori, S. 87 ff., 92 ff.
45 Hense, S. 48 f.
46 Hense, S. 228.
47 Siehe etwa OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.08.2018 – Az.: 4 U 17/18.
48 Hense, S. 228.
49 Siehe BVerfGE 24, 246; Maurer, JuS 1972, S. 330, 333; Classen, § 11 Rn. 388.
50 Siehe BVerwG, Urt. v. 30.04.1992 – Az.: 7 C 25.91.
51 Burkhardt/Swarat/ Eiselen, S. 776.
52 BVerwG, NJW 1992, 2779.
53 Näheres dazu in VGH München, NVwZ-RR 2004, 829 ff.; BVerwG, NJW 1994, 956.
54 Siehe Sachs/ Kokott, Art. 4 GG Rn. 5; BVerfGE 19, 206 (216).
55 So Hense, S. 233 f.
56 Classen, Rn. 388.
57 Siehe Mick-Schwerdtfeger, S. 172.
58 Vgl. Guntau, ZevKR 43 (1998), S. 369, 376.
59 Vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 01.02.2018 – Az.: 8 K 2964/15.
60 Guntau, ZevKR 43 (1998), S. 369, 376; Muckel, NWVBl 1998, S. 1, 3; Jarass /Pieroth, Art. 4 GG Rn. 15; Wallkamm, S. 54; Mick-Schwerdtfeger, S. 150 f.
61 VGH München, BeckRS 1994, 9099; Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann /Henneke, Art. 4 GG Rn. 7; Umbach/Clemens/ Wenckstern, Art. 4 GG Rn. 23, 76; näheres dazu, ob Art. 4 GG vorbehaltlos gewährt oder aber durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV beschränkt wird, in Epping, Rn. 316–319.
62 Muckel/Tillmanns, S. 257 sowie Unruh, § 4 Rn. 131.
63 Hufen, § 13 Rn. 3.
64 Siehe etwa VG Würzburg, NVwZ 1999, 799.
65 Siehe VG Karlsruhe, KirchE 18, S. 268, 270.
66 Siehe etwa OVG Lüneburg, NVwZ 1991, 801; vgl. Mainusch, ZevKR 38 (1993), S. 26, 81 f. sowie Muckel/Tillmanns, S. 257; Mick-Schwerdtfeger, S. 156 f.
67 Siehe BVerfGE 35, 366 (375); 93, 1 (17); kritisch dazu v. Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 4 GG Rn. 29.
68 Schmehl, Kritische Justiz 1998, S. 539 f.; Umbach/Clemens/ Wenckstern, Art. 4 GG Rn. 93.
69 BVerfGE 93, 1 (16, 23).
70 Siehe Epping, Rn. 320.
71 Siehe Hense, S. 268; näheres zum „enormen“ Gewicht des Art. 4 GG in Wallkamm, S. 49 sowie Umbach/Clemens/ Wenckstern, Art 4 GG Rn. 23; vgl. auch VG Karlsruhe KirchE 18, S. 268, 272.
72 Guntau, ZevKR 43 (1998), S. 369, 372.
73 Siehe BVerwG, NJW 1992, 2170, 2171.
74 Vgl. Wallkamm, S. 43 f.
75 Näheres dazu in Troidl, BauR, S. 183, 196 f.
76 Siehe Mainusch, ZevKR 38 (1993), S. 26, 82 sowie Mick-Schwerdtfeger, S. 174.
77 BVerwG, NJW 1984, 989, 990.
78 BVerwG, NJW 1988, 2396; anderer Auffassung Ziegler, UPR 1986, S. 170, 172.
79 Vgl. Führ/ Böhm, § 4 BImSchG Rn. 32.
80 Vgl. BVerwG, NJW 1984, 989, 990; Hense, S. 312.
81 Siehe BVerwG, NJW 1992, 2779.
82 BVerwGE 68, 62 (67); Storm, Rn. 451; Führ/ Krohn, § 3 BImSchG Rn. 46.
83 BVerwG, NVwZ 1991, 881, 883.
84 Siehe BVerwG, NJW 1988, 2396, 2397.
85 Uschkereit, NJW-Spezial 2020, S. 172.
86 BVerwG, NJW 1984, 989.
87 BVerwG, NJW 1984, 989, 990.
88 BVerwG, NJW 1988, 2396, 2397.
89 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 21.12.2005 – Az.: 2 K 580/05.
90 BVerwG, NVwZ 1997, 390.
91 BVerwG, NVwZ 1997, 390, 391.
92 Siehe Huber, JA 2005, S. 119 f.; vgl. Koch/Hofmann/ Reese, § 4 Rn. 127; Führ/ Krohn, § 3 BImSchG Rn. 161.