Die Arbeit beginnt mit einem Überblick zu den Geschehnissen der Ukrainekrise. Hierfür wurden die wohl wichtigsten Daten und Ereignissen dargelegt, um ein Gesamtbild der politischen Lage zwischen Russland, der Ukraine und den beteiligten westlichen Staaten herzustellen. Folgend widme ich mich der Theorie des Neorealismus. Diese nimmt eine enorme Bedeutung in der vergangenen Geschichte der Politik ein und besitzt vor allem auch in heutigen Geschehnissen eine hohe Erklärungskraft. Entsprechende Akteure und Strukturen werden erläutert, um anschließend mithilfe dessen den Verlauf und Hintergrund der Ukrainekrise zu analysieren. Die wohl zentralsten Motive der Auseinandersetzungen der Ukrainekrise sind unter anderem das Streben nach Sicherheit und Macht, weswegen die Theorie des Neorealismus für den Konflikt der Ukrainekrise passend erscheint. Im Fazit angekommen werden alle grundlegenden Informationen darlegt und der vorgestellten Fragestellung nachgegangen.
Die Ukrainekrise erweckte internationale Besorgnis. Viele waren vor allem zu den Hochzeiten des Konflikts verängstigt über den Gedanken des Erwachens eines zweiten Kalten Krieges. Gerade durch solche hoch aktuellen internationalen Konflikte kommt immer wieder zum Vorschein, wie Staatenmächte im internationalen Geschehen einander gegenübertreten, miteinander agieren oder auch konkurrieren können. Inwiefern Machtstreben und Sicherheitsbedenken in den Entscheidungen der jeweiligen Akteure miteinwirken, was das zwischenstaatliche Verhältnis schließlich bestimmt und was die Welt im Innersten zusammenhält können durch die Theorien der internationalen Beziehungen und deren Vertreter erklärt werden. Dabei verwenden die zentralen Großtheorien der internationalen Beziehungen unterschiedliche Kategorien, formulieren allgemeine Annahmen und machen Aussagen über die entscheidenden Akteure und ihre Ziele oder Präferenzen. Darüber hinaus erklären sie die Struktur des Handlungsumfeldes, deren grundlegende Probleme und Entwicklungsperspektiven.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Die Ukrainekrise - Eine angespannte Situation zwischen Russland und dem Westen
2. Die Theorie des Neorealismus: Ein Kampf um Macht- und Sicherheitsstreben
3. Analyse der Ukrainekrise aus neorealistischer Sichtweise: Annäherung an einen neuen Ost-West Konflikt?
4. Fazit: Die Erklärungkraft Internationaler Theorien hinsichtlich der Ukrainekrise
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Die Ukrainekrise - Eine angespannte Situation zwischen Russland und dem Westen
Nicht selten kommt es vor, dass wir aus der Geschichte politischer Geschehnisse lernen können. Ein wichtiges Ereignis, das uns immer noch viel lehrt, ist der Kalte Krieg zwischen dem Osten und Westen im Jahr 1945. Nach den fatalen Auseinandersetzungen und dem letztlichen Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 schien die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen dem Osten und Westen ein für alle Mal beendet zu sein. Die Hoffnung zukünftige Konflikte kooperativ und jenseits von machtpolitischen Kalkülen auszuhandeln war groß. Dennoch tauchten mit der Unabhängigkeit der Ukraine schließlich erneute Spannungsverhältnisse zwischen den Idealen und Interessen des Westens und Ostens auf (Csitkovits 2017: S.11).
Im Jahr 2014, an dem die Welt dem Beginn des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren gedachte, kam es zu der Rückkehr des Antagonismus und einem schließlich „neuen“ Ost-West-Konflikts (Rotter 2015: S.12). Dieser Zustand äußert sich hauptsächlich zwischen Russland als Akteur im Osten und anderen Staatsakteuren wie den USA und den Ländern der EU im Westen - resultierend die „Ukrainekrise“. Nicht vergleichbar mit den Auseinandersetzungen des Kalten Kriegs, ist dieser Konflikt heute ebenfalls von extrem hoher Relevanz. Der andauernde Konflikt forderte bereits zahlreiche Opfer und immer noch wüten die Auseinandersetzungen entlang den Grenzen der Ukraine.
Um die Ursachen und Gründe hinter dem Konflikt voll und ganz verstehen zu können, muss die postsowjetische Geschichte in Betracht gezogen werden (Stykow 2014: S. 41). Seit dem Ende der Sowjetunion schienen Überlegungen zur Sicherheit auf eine gänzliche Partnerschaft zwischen Europa, Russland und die postsowjetische Nachfolgestaaten zu beruhen (Naumann 2015: S. 16 f.). Bereits während des Ost-West-Konflikts selbst kam es im Zuge der Entspannungsphase zu anfänglichen Zusammenarbeiten. Im Jahr 1975 einigten sich insgesamt 35 Staaten, darunter die Sowjetunion, die USA und die europäischen Staaten, durch blockübergreifende Konferenzen über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sowie auf gemeinsame Prinzipien wie die Achtung von Menschenrechten und der Unverletzlichkeit europäischer Grenzen (Kalb 2015: S. 11). Ebenso wichtig für die Friedensherstellung waren zahlreichen andere Vereinbarungen, die Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs 1991 mit dem Westen einging. Zu nennen sind hier vor allem die Vereinbarungen von Paris, bei dem alle OSZE-Staaten sich verpflichteten friedliche Konfliktlösungen zu betreiben, die Grenzen in- nerhalb Europas niemals mit Gewalt zu verändern und das Selbstbestimmungsrecht jedes Staates über Bündniszugehörigkeiten (Naumann 2015: S. 17). Letzteres entwickelte sich zu einer der Schritte, die den „neuen“ Ost-West-Konflikt schließlich in die Wege leitete. Mit dieser Vereinbarung kam vor allem die North Atlantic Treaty Organization (NATO) für Russland als gefährlicher Gegner mit ins Spiel. Schon immer wurde die Expansionskraft der NATO für Russland als direkte Bedrohung empfunden. Im Grunde stellte diese eine westliche militärische Allianz dar, die ursprünglich als Gegenmacht der Sowjetunion geschaffen wurde. Im Laufe der Geschichte und während der Hochzeit des Kalten Kriegs nahm die internationale Organisation stetig an Mitgliedern zu. Mit dem Zerfall der Sowjetunion kam es schließlich zur weiteren Expansion und der Aufnahme von zwölf ehemaligen Alliierten der Sowjetunion. Russland war zu dieser Zeit zu schwach und nicht mehr in der Lage bei einer direkten Bedrohung gegen den Westen zu agieren. Als die NATO immer weiter Richtung Osten nach Alliierten schaute und Russland mit der Zeit wieder an Macht gewann, schien die Situation schließlich zu kippen (Kalb 2015: S. 5 ff.). Überlegungen des Westens die unabhängigen Staaten Georgien und die Ukraine als neue Mitgliedsstaaten in die NATO aufzunehmen, wurden von Russland stark abgelehnt. Die Verhandlungen der Ukraine mit der EU über eine engere politische Zusammenarbeit stellten ebenfalls eine große Gefahr für Russland dar (Naumann 2015: S.19). Die Ukraine spielte schon immer eine wichtige Rolle für den Osten. Bereits Jahrhunderte lang galt sie als Teil des russischen Reichs, mit dem eine durchaus freundschaftliche Beziehung gepflegt wurde. Ob unabhängig oder nicht - für Russland war klar, dass das Land auch weiterhin unter russischem Einfluss bleiben sollte (Kalb 2015: S. 7). Durch Druckausübungen und Drohungen seitens Russlands wurde diese Kontrolle schließlich auch aufrecht erhalten. Das Assoziierungsabkommen mit der EU wurde aufgrund des Drucks letztendlich nicht unterzeichnet. In den darauffolgenden Tagen kam es zu gewaltsamen Demonstrationen, in denen Menschen für und gegen einen proeuropäischen Kurs kämpften (Kalb 2015: S.158). Die Situation drohte zu eskalieren. Mitte Februar wurden erste Versuche unternommen Kompromisse durch gemeinsame Abkommen zu finden. Noch vor den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurde der damalige Präsident der Ukraine Janukowitsch gestürzt (Naumann 2015: S. 18 ff.). Daraufhin bildete sich in der Hauptstadt Kiev eine Übergangsregierung, welche durchaus prowestlich gestimmt war. Der Sturz Janukowitsch wurde seitens Russlands als illegitim gewertet (Allison 2014: S. 1261). Das einst freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Ländern begann sich massiv zu verändern.
Der gesamte Westen schaute besorgt auf die Geschehnisse in der Ukraine und befürchtete eine verheerende Eskalation. Um dieser entgegenzuwirken kam es zu der Entscheidung: Sollte der Konflikt weiter andauern und Russlands Militär in die Krim einmarschieren, drohen schwere Sanktionen. Anfang März 2014 kam es schließlich trotz Warnungen zur militärischen Besatzung der ukrainischen Halbinsel Krim. Erst später gibt Putin allerdings zu, dass es sich bei den uniformierten Kämpfern um russische Soldaten handelte. Zunächst wurde lediglich von „einheimischen Selbstverteidigungskräften“ gesprochen (Bilger 2015: Vgl ard.de). Begründet wurde der Einmarsch unter anderem dadurch, dass es Russlands Recht sei, die Interessen der russischen Bevölkerung der Krim zu schützen (Kalb 2015: S. 158 ff.). Russland ging mit dem Regierungswechsel von einer Bedrohung der Menschenrechte dieser Bevölkerungsgruppe aus (Allison 2014: S. 1262). Die Bevölkerung sollte über ein Referendum darüber abstimmen, ob sie weiter der Ukraine angehören oder ein Teil Russlands werden wollten. Die Ergebnisse zeigten eine über 90 prozentige Abstimmung für die Annexion durch Russland. Am 18. März 2014 wurde die Krim schließlich offiziell durch Russland annektiert. International sammelte das Referendum viel Kritik. Russlands Besetzung der Krim wurde als klarer Bruch internationaler Normen und Rechte angesehen (Böller 2016: S. 2). Westliche Länder wie die USA weigerten sich die Annexion anzuerkennen und machten mit weiteren Sanktionen, wie Reiseverbote und sogenannten „Asset Freezes“, das Einfrieren von Vermögenswerten, gegen zahlreiche russische Offiziere, Druck auf Russland (Kalb 2015: S. 162). In den darauffolgenden Monaten kam es immer wieder zu Rebellenaktionen prorussischer Separatisten. Die Übergangsregierung der Ukraine leitete daraufhin „Anti-Terror-Aktionen“ ein, bei denen es zu zahlreichen weiteren Toten und Verletzten kam (Vgl. tagesschau.de 2015). Infolge der neuen Präsidentschaftswahl der Ukraine im Mai wurde das Assoziierungsabkommen mit der EU durch den neuen Präsidenten Petro Poroschenko entgegen der anfänglichen Drohungen Russlands schließlich doch unterzeichnet (Allison 2014: S. 1272).
Am 17. Juli 2014 kam es erneut zu einem internationalem Aufsehen innerhalb der wütenden Situation zwischen Russland und der westlichen Welt. Flug MH17, eine Boeing 777, stürzte östlich von Donezk, eine Stadt der östlichen Ukraine, ab. Zahlreiche Passagiere kamen ums Leben. Experten sind überzeugt, dass das Flugzeug von einer russischen Boden-Luft-Rakete getroffen wurde. Daraufhin kam es durch den Westen zu erheblichen Wirtschaftssanktionen für Russland. (Bilger 2015: Vgl. ard.de)
Um dem Konflikt ein Ende zu bereiten und weitere Eskalationen endgültig zu vermeiden, tra- fen sich die Vertreter der Regierung Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs und einigten sich auf eine Waffenruhe ab dem 15. Februar 2015 (Vgl. tagesschau.de 2015). Schwere Waffen sollten entzogen und eine entmilitarisierte Pufferzone eingerichtet werden. Trotz dessen kam es allerdings innerhalb des Ostens der Ukraine immer wieder zu heftigen Kämpfen und Konflikten. Am 26. August einigten sich die Konfliktparteien gemeinsam auf einen neuen Waffenstillstand ab dem 1. September 2015 (Bilger 2015: Vgl. Ard.de). Obwohl die Waffenruhe nicht konsequent durchgehalten wurde, führte dieser Schritt zu einer anfänglichen Beruhigung der Lage. Bis Anfang November wurde der Waffenstillstand weitgehend eingehalten. Danach nahmen die Opferzahlen erneut weiter zu.
Nach drei Jahren Stille trafen sich schließlich die Regierung Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs im Dezember 2019 zum Ukrainegipfel in Paris, um über die Zukunft der Krise zu sprechen. Der mehrmals durchbrochene Waffenstillstand wurde erneut bekräftigt, die Pläne für den Truppenrückzug fortgeführt und ein Gefangenenaustausch bis Ende des Jahres angestrebt (Esch 2019: Vgl. spiegel.de). Ende Dezember wurden erstmals knapp 200 Gefangene zwischen der ukrainischen Regierung in Kiew und den prorussischen Separatisten ausgetauscht. Im April 2020 wurde die international beachtete Aktion fortgeführt. Nach UNSchätzungen wurden seit dem Beginn der Kämpfe 2014 rund 13200 Menschen getötet (Vgl. rnd.de 2020) und immer noch gilt der Konflikt als einer der aktuellsten Themen unserer Zeit.
Die Ukrainekrise erweckte einen internationalen Besorgnis. Viele waren vorallem zu den Hochzeiten des Konflikts verängstigt über den Gedanken des Erwachens eines zweiten Kalten Krieges. Gerade durch solche hoch aktuelle internationale Konflikte, kommt immer wieder zum Vorschein, wie Staatenmächte im internationalen Geschehen einander gegenübertreten, miteinander agieren oder auch konkurrieren können. Inwiefern Machtstreben und Sicherheitsbedenken in den Entscheidungen der jeweiligen Akteure miteinwirken, was das zwischenstaatliche Verhältnis schließlich bestimmt und was die Welt im Innersten zusammenhält können durch die Theorien der Internationalen Beziehungen und deren Vertreter erklärt werden (Staak 2012: S.35). Dabei verwenden die zentralen Großtheorien der Internationalen Beziehungen unterschiedliche Kategorien, formulieren allgemeine Annahmen und machen Aussagen über die entscheidenden Akteure und ihre Ziele oder Präferenzen. Darüber hinaus erklären sie die Struktur des Handlungsumfeldes, deren grundlegende Probleme und Entwicklungsperspektiven (Staak 2012: S. 35).
Im Folgenden soll eine der Großtheorien untersucht werden. Beginnend mit einem Überblick zu den Geschehnissen der Ukrainekrise wurden die wohl wichtigsten Daten und Ereignissen dargelegt, um ein Gesamtbild der politischen Lage zwischen Russland, der Ukraine und den beteiligten westlichen Staaten herzustellen. Folgend widme ich mich der Theorie des Neorealismus. Diese nimmt eine enorme Bedeutung in der vergangenen Geschichte der Politik ein und besitzt vor allem auch in heutigen Geschehnissen eine hohe Erklärungskraft. Entsprechende Akteure und Strukturen werden erläutert, um anschließend mithilfe dessen den Verlauf und Hintergrund der Ukrainekrise zu analysieren. Die wohl zentralsten Motive der Auseinandersetzungen der Ukrainekrise sind unter anderem das Streben nach Sicherheit und Macht, weswegen die Theorie des Neorealismus für den Konflikt der Ukrainekrise passend erscheint. Im Fazit angekommen werden alle grundlegenden Informationen darlegt und der vorgestellten Fragestellung nachgegangen.
2. Die Theorie des Neorealismus: Ein Kampf um Macht- und Sicherheitsstreben
Kein Weltbild ist so stark prägend, wie das des Neorealismus (Schörnig 2010: S. 65). Um diesen vollständig nachvollziehen zu können lohnt es sich dennoch einen Blick auf die am weitesten verbreitete Großtheorie der Internationalen Beziehungen, den Realismus im Allgemeinen, zu werfen. Vertreter dieses Weltbilds sind unter anderem Max Weber und Thomas Hobbes. Stark geprägt von der Zwischenkriegsperiode, dem Aufkommen des Stalinismus, des Faschismus, dem Zweiten Weltkrieg und schließlich auch dem Kalten Krieg, ist die zentrale Kategorie des Realismus die „Macht“ (Schörnig 2010: S.65). Das Streben nach dieser Macht gilt als grundlegender Trieb. Dieser lässt sich in der Theorie unterschiedlich begründen. Unterschieden wird hierbei zwischen dem klassischen und dem hier angewandten Neorealismus. (Staack 2012: S. 38)
Im klassischen Realismus wird die Ursache von Krieg in der Natur des Menschen gesucht. Vertreter dieses Weltbilds gehen davon aus, dass dieser unabhängig von Zeit und Ort, und nicht nur durch Selbsterhaltung, bestimmt ist (Staack 2012: S. 38 ff.). Der Neorealismus interessiert sich hingegen weniger für den anthropologischen Ansatz und geht mit seiner Begründung darüber hinaus (Schörnig 2010: S. 65). Einer der wichtigsten Vertreter dieses Weltbilds ist Kenneth Waltz. Mit seinem Buch „Theory of International Politics“ nimmt er einen deutlich prägenden Einfluss auf die internationale Politik und wie sie erklärt werden kann. Statt der Natur des Menschen ist es im Neorealismus die Struktur des internationalen Systems, die die Staaten als zentrale und einheitliche Akteure dazu anregt nach Macht zu streben und ihr Überleben zu sichern (Mearsheimer 2007: S. 72). Demnach ist die Konkurrenz kein anthropologisches, sondern ein soziales Problem (Staack 2012: S. 39). Bei der Betrachtung des internationalen Systems als Ganzes ist es im neorealistischen Weltbild irrelevant wie die politische Situation innerhalb der Staaten aussieht. Es ist nicht ausreichend auf Charakteristika, Absichten oder ähnliches zu achten, um politische Outcomes vorherzusagen, wenn es die gänzliche Organisation der Einheiten ist, die deren Verhalten beeinflusst: „a systems approach is needed.“ (Waltz 1979a: S. 39). Wenn wir uns Staaten vereinzelt anschauen, sehen wir nur eine „Black Box“, die in der Theorie des Neorealismus stets ungeöffnet bleibt. Alle Staaten werden in ihrem Kern als identische „like units“ (Waltz 1979a: S.107) und uniform betrachtet. Ob autokratisch, monarchisch oder diktatorisch spielt daher keine Rolle in der Erklärung der internationalen Politik. Was im Neorealismus jedoch eine wesentliche Rolle spielt, sind allgemeine Tendenzen und Zwänge, die bei allen Staaten zu beobachten sind. (Schörnig 2010: S. 71)
An Kenneth Waltz orientiert, gibt es insgesamt drei wesentliche Kernannahmen, die Neorealisten bei den Verhaltensweisen von Staaten in Betracht ziehen (Schörnig 2010: S. 72): (1) Trotz der vorhandenen Black Box und dem Unwissen über innerstaatliche Interessen existiert ein zentrales Bedürfnis: Jeder Staat möchte überleben und dabei seine Machtposition in verschiedenen Hinsichten beibehalten (Schörnig 2010: S. 72). Staaten können auch andere Ziele verfolgen. Diese können stark variieren, allerdings ist das Überleben eine Voraussetzung für das Erreichen jeglicher anderen Ziele (Waltz 1979a: S.91). Wie gehen die Staaten in einem internationalen System dabei vor? (2) Im Neorealismus orientieren sich Akteure an einer Zweck-Mittel-Rationalität. Die Staaten handeln stets rational, sind sich ihrer Umwelt bewusst und überlegen strategisch wie sie darin überleben können. Da es zwischen den Staaten wenig Platz für Vertrauen gibt, sind sie auf mögliche Intentionen des Gegenübers stark fixiert. Großmächte fürchten einander, weswegen eine gewisse Unsicherheit innerhalb des internationalen Systems unvermeidbar ist (Mearsheimer 2001: S.31). (3) Die dritte neorealistische Kernannahme stellt fest, dass die Staaten lediglich an der Fülle ihrer Machtmittel unterscheidbar sind. Da der Begriff der Macht jedoch sehr abstrakt ist, ist dieser auf unterschiedlichster Weise messbar. Hierbei spielen neben ökonomischen und militärischen, auch soziale Konzepte eine Rolle (Schörnig 2010: S.72).
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass im Neorealismus nicht die vereinzelte innerstaatlichen Präferenzen, sondern beobachtbare Tendenzen und vor allem die Struktur des internationalen Systems, wesentlich ist. Nach Waltz werden drei Elemente, die zur Bestimmung der Struktur des internationalen Systems herangezogen werden, definiert. Erstens ist das Ordnungsprinzip zu nennen (Schörnig 2010: S. 73). Ein internationales System kann entweder hierarchisch oder anarchisch geordnet sein. Im Allgemeinen geht es bei einer hierarchischen Anordnung um die Anwesenheit-, und bei der anarchischen Anordnung um die Abwesenheit einer übergeordneten Instanz. Aus neorealistischer Sicht gibt es im internationalen System keinen „ultimate arbiter that stands above state“ (Mearsheimer 2007: S.73). Das was die internationale Politik ausmacht, ist das Fehlen einer zentralen Ordnungsinstanz oder Organisation (Waltz 1979a: S. 89). Demnach geht die Theorie des Neorealismus von einer klaren Anarchie des Systems aus: „Sovereignty, in other words, inheres in states because there is no higher ruling body in the international system.“ (Mearsheimer 2001: S.30). Alle Staatenakteure sind auf sich selbst gestellt und sorgen für ihr eigenes Überleben. Das zweite Element, das die Struktur des internationalen Systems bestimmt ist die Funktionsspezifizierung. Hinsichtlich der funktionalen Differenzierung ist in der neorealistischen Theorie davon auszugehen, dass die „like units“ (Waltz 1979a: S.107) durch die vorhandene anarchische Struktur gezwungen sind stets ein Maß an Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten und keine Hilfe von außen zu wagen (Schörnig 2010: S. 74). Nach Waltz heißt es: „The international imperative is: „take care of yourself.“ (Waltz 1979a: S.107). Hierfür wird die zentrale Bezeichnung eines „Selbsthilfesystems“ benutzt (Schörnig 2010: S.74), indem „providing the means of protecting itself against others“ (Waltz 1979a: S. 105) im Zentrum steht. Ein drittes Element zur Bestimmung der Struktur des internationalen Systems ist die jeweilige Machtverteilung bzw. Machtrelation zwischen den Akteuren. Insgesamt gibt es drei Machtverteilungsoptionen. Das System kann entweder unipolar, bipolar oder multipolar strukturiert sein (Schörnig 2010: S. 74). Im Falle der Unipolarität existiert lediglich ein mächtiger Staat als zentraler Hegemon. Eine große Debatte unter den Neorealisten beschäftigt sich mit der Frage, welche Wirkung die anarchische Struktur hat und welche Polarität des Systems eine größere Gefahr darstellt: die bipolare (zwei konkurrierende mächtige Staaten) oder die multipolare (mehr als zwei konkurrierende mächtige Staaten) Struktur des internationalen Systems (Mearsheimer 2007: S.78). In Anbetracht der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, als in der ersten Hälfte eine Multipo- liarität und gleichzeitig zwei Weltkriege herrschten, ist es möglich davon auszugehen, dass diese eine größere Gefahr darstellt (Mearsheimer 2007: S.78). Theoretisch gesehen lässt sich diese Annahme durch verschiedene Argumente stützen. In einer Multipolarität, dem Vorhandensein von mehreren mächtigen Staaten, existieren mehr Gelegenheiten, in denen Großmächte sich bekämpfen könnten. Bei einer Bipolarität hingegen gibt es nur die Möglichkeit, dass der eine mächtige Staat den anderen bekämpft. Ebenso gut kann man bei der Differenzierung der größten Gefahr auf die Perspektive der Ungleichheit eingehen. Im Falle eines bipolaren Systems ist von einer wesentlich faireren Verteilung auszugehen. Bestehen mehrere mächtige Staaten im internationalen System, äußert sich die Gefahr darin, dass Wohlhaben, Population und Militärmacht in größerer Ungleichheit verteilt sind. Als Folge ist es von höherer Wahrscheinlichkeit, dass Staaten sich gegenseitig ausnutzen oder sich gemeinsam gegen andere Staatenmächte verbünden und verfeinden. Ist das internationale System bipolar können sich die zwei Staaten jedoch viel intensiver mit den eigentlichen Intentionen des Gegners befassen. Ein bipolares System erweist sich somit als übersichtlicher und langfristig stabiler, da die Gefahr von Fehleinschätzungen geringer ist (Schörnig 2010: S.76). Angst scheint in einer bipolaren Weltmachtordnung weniger akut zu sein (Mearsheimer 2001: S. 45). Die Differenzierung zwischen Freund und Feind ist in einem multipolaren System wesentlich problematischer, da jeder Staat mehreren Bedrohungen ausgesetzt ist (Mearsheimer 2007: S.79). Allerdings ist es bei der Multipolarität ebenso möglich von einer kriegsaversen Struktur auszugehen. Staaten können sich als Balancing-Partner zusammenschließen, um als gemeinsame Allianz gegen aggressive Großmächte vorzugehen. Trotz allen Argumenten der Polaritäten, die für eine größere und kleinere Gefahr sprechen, lässt sich nie endgültig festlegen welche Polarität von größerer Gefahr ist. Die Situationen innerhalb des internationalen Systems müssen jedes Mal aufs Neue einzeln analysiert werden.
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