In dieser Arbeit wird das von China an Deutschland verpachtete Gebiet "Kiautschou" genauer untersucht. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, ob es sich eher um eine Musterkolonie oder eine Gewalteskalation handelt.
Ausgehend von der Analyse des Handbuchs für das Schutzgebiet Kiautschou, in dem alle geltenden Verordnungen aufgeführt sind, sowie einiger überlieferter Schreiben geht diese Arbeit der Fragestellung nach, in welchem Maß das Konzept der deutschen ‚Musterkolonie‘ in China die Wahrnehmung kolonialer Gewalt beeinflusste.
Dabei wird zuerst auf den historischen Kontext eingegangen, um die Rahmenbedingungen, sprich das imperialistische Interesse der westlichen Mächte in China sowie das deutsche Vorgehen bei der Erlangung ihrer Musterkolonie, zu umreißen. Anschließend sollen wesentliche Aspekte des Handbuchs für das Schutzgebiet Kiautschou hinsichtlich der Gewaltanwendung und dessen Zweck in der ‚Musterkolonie‘ analysiert werden, bevor die Realität der kolonialen Gewalt anhand überlieferter Telegramme zwischen chinesischen Beamten und der militärischen Führung im ‚Marine-Hauptsitz‘ Qingdao dargestellt wird.
Die aus der Gegenüberstellung dieser Perspektiven gewonnenen Erkenntnisse sollen schließlich Auskunft darüber geben, inwiefern das Ziel, in Kiautschou eine ‚Musterkolonie‘ zu errichten, die Wahrnehmung kolonialer Gewalt beeinflusste. Aufgrund der Komplexität der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Thematik und des umfangreichen Literatur- und Quellenbestandes liegt der Fokus der Untersuchung auf den Anfangsjahren bis 1900, in denen das Konzept der ‚Musterkolonie‘ entstanden ist. Des Weiteren eigenen sich die ausgewählten Quellen gut für eine derartige Untersuchung, da mit dem Handbuch eine Art Überblick über die Marine-Akten, die die „Hauptquelle zur jüngsten deutschen Militärgeschichte“ sind, während die erhaltenen Telegramme den Gegenpol zu der deutschen Herrschaftsperspektive bilden. Auf diese Weise soll mit den einseitig tradierten Bildern einer ‚Musterkolonie‘ aus deutscher Sicht und eines „imperialistischen Aggressionsaktes“ aus chinesischer Perspektive gebrochen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. China im Zeitalter des Imperialismus
2.1 China als Beuteobjekt fremder Staaten
2.2 Das deutsche Pachtgebiet Kiautschou
3. Koloniale Gewalt in Kiautschou
4. Fazit - Zwischen ,Musterkolonie‘ und Gewalt
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
5.1 Quellen
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Als die „Stadt mit den roten Dächern“1 und als Herkunftsort des nach deutschen Reinheitsgebot gebrauten Qingdao-Biers ist die heutige chinesische Metropole Qingdao wohl nur noch Architekturinteressierten und Bierliebhabern ein Begriff. Vor 120 Jahren wurde jedoch hier, in der ostchinesischen Provinz Shandong an der Jiaozhou-Bucht2, die erste und einzige deutsche Kolonie im Fernen Osten errichtet. Das „der Deutschen liebstes Kolonialprojekt“3 sollte sich unter der Führung der Marine zu einer vorbildhaften Kolonie, zu einer sogenannten ,Musterkolonie‘, entwickeln; hatte allerdings trotz eines für 99 Jahre gültigen Pachtvertrages4 nur von 1897 bis 1914 Bestand. Ungeachtet der kurzen Dauer des ,deutschen Platzes an der Sonne‘ war der Begriff der ,Musterkolonie‘ nicht nur in zeitgenössischen Berichten aufzufinden, sondern war auch in den Geschichtswissenschaften bis Ende der 90er Jahre Bestandteil zahlreicher kolonialkritischer Auseinandersetzungen.5
Historisch ist dieses Ereignis der Phase des Hochimperialismus zwischen 1881 und 1914 zuzuordnen, ein Zeitalter, das durch den Übergang von einer für den Kolonialismus6 typischen formellen und beherrschenden Kontrolle eines fremden Volkes zu einer informellen auf wirtschaftliche und politische Abhängigkeit ausgerichtete Kontrolle markierte.7 Die Tatsache, dass der durch die westliche Expansion und durch den Kontakt mit fremden Gesellschaften begonnene Prozess der Globalisierung und Modernisierung auf Gewaltanwendung und aufgezwungenen Beziehungen basierte, ist nicht nur hinsichtlich diverser Aspekte untersucht worden8, sondern lässt auch die Frage aufkommen, inwiefern die deutsche ,Musterkolonie‘ mit kolonialer Gewaltanwendung in Verbindung stand. Ausgehend von der Analyse des Handbuchs für das Schutzgebiet Kiautschou9, in dem alle geltenden Verordnungen aufgeführt sind, sowie einiger überlieferter Schreiben geht diese Arbeit der Fragestellung nach, in welchem Maß das Konzept der deutschen ,Musterkolonie‘ in China die Wahrnehmung kolonialer Gewalt beeinflusste.
Dabei wird zuerst auf den historischen Kontext eingegangen, um die Rahmenbedingungen, sprich das imperialistische Interesse der westlichen Mächte in China sowie das deutsche Vorgehen bei der Erlangung ihrer Musterkolonie, zu umreißen. Anschließend sollen wesentliche Aspekte des Handbuchs für das Schutzgebiet Kiautschou hinsichtlich der Gewaltanwendung und dessen Zweck in der ,Musterkolonie‘ analysiert werden, bevor die Realität der kolonialen Gewalt anhand überlieferter Telegramme zwischen chinesischen Beamten und der militärischen Führung im ,Marine-Hauptsitz‘ Qingdao dargestellt wird. Die aus der Gegenüberstellung dieser Perspektiven gewonnenen Erkenntnisse sollen schließlich Auskunft darüber geben, inwiefern das Ziel, in Kiautschou eine ,Musterkolonie‘ zu errichten, die Wahrnehmung kolonialer Gewalt beeinflusste. Aufgrund der Komplexität der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Thematik und des umfangreichen Literatur- und Quellenbestandes liegt der Fokus der Untersuchung auf den Anfangsjahren bis 1900, in denen das Konzept der ,Musterkolonie‘ entstanden ist. Des Weiteren eigenen sich die ausgewählten Quellen gut für eine derartige Untersuchung, da mit dem Handbuch eine Art Überblick über die Marine-Akten, die die „Hauptquelle zur jüngsten deutschen Militärgeschichte“10 sind, während die erhaltenen Telegramme den Gegenpol zu der deutschen Herrschaftsperspektive bilden. Auf diese Weise soll mit den einseitig tradierten Bildern einer ,Musterkolonie‘ aus deutscher Sicht und eines „imperialistischen Aggressionsaktes“11 aus chinesischer Perspektive gebrochen werden.
2. China im Zeitalter des Imperialismus
Obwohl China unter der Qing-Dynastie während des 18. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte, während der das Reich durch eine gut funktionierende staatliche Organisation sowie einen wirtschaftlichen Aufschwung und Prosperität expandieren konnte und mit zahlreichen tributpflichtigen Gebieten die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreichte12, wurde es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem „der Objekte des Imperialismus“13. Denn im Gegensatz zu den bisherigen überseeischen Kolonien der Westmächte, die als Siedlungskolonien das Ziel einer auf formeller Herrschaft basierenden wirtschaftlichen Ausbeutung verfolgten, bot das bevölkerungsreichste aber noch nicht modernisierte Land den europäischen Großmächten ein lukrative Möglichkeit: Wie China im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem von den westlichen Mächten kontrollierten Absatzmarkt ihres Freihandelsimperialismus verwandelt und schließlich zwischen Europa und Japan ,aufgeteilt‘ worden ist, soll im Folgenden umrissen werden.14
2.1 China als Beuteobjekt fremder Staaten
Innere Unruhen wie zum Beispiel ökologische Krisen, Aufstände, aber auch Korruption erschütterten die Qing-Dynastie bereits um 1800; die wirtschaftlichen Probleme wurden jedoch vor allem durch das Eingreifen europäischer Mächte, insbesondere Großbritannien, in das Handelssystems Chinas hervorgerufen und mündeten letztendlich in kri egerischen Konflikten: China sah sich aus sinozentrischer Überzeugung als das „Reich der Mitte“15 und akzeptierte die Europäer bis ins 19. Jahrhundert lediglich als „Barbaren“16, mit denen man seit dem 16. Jahrhundert daher mittels des sogenannten ,Kanton-Systems‘17 Handel trieb, aber keine diplomatischen Kontakte pflegte. Der Fernhandel mit europäischen Kaufleuten war so auf den Hafen Kantons beschränkt und zusätzlich mussten Geschäfte mit vom Staat bestimmten Handelsfirmen abgeschlossen werden, sodass man dieses Vorgehen Chinas als eine Politik zur Wahrung des eigenen Status quos bezeichnen kann.
Der Handel mit chinesischen Luxusgütern wie Tee bedeutete für die britische East India Company, die nach der erfolgreichen Konsolidierung der englischen Herrschaft in Indien ein Handelsmonopol für den Chinahandel erhielt, aufgrund der chinesischen Außenhandelsstrategie einen erheblichen Silberverlust nach China. Um dies auszugleichen begann man, Opium in das ,Reich der Mitte‘ zu importieren - in den folgenden Jahren sollte dies die wichtigste Ware im Chinahandel werden und gleichzeitig in der sogenannten Öffnung Chinas resultieren. Obwohl die chinesische Regierung den Handel mit Opium, der über europäische Mittelmänner durchgeführt wurde, 1821 für illegal erklärt hatte, setzte sich dieser mit Hilfe korrupter chinesischer Beamter als Schmuggel fort. Als China, das so in Kombination mit anderen inneren Unruhen in eine finanzielle Notlage zu geraten drohte, europäischen Opiumvorräte zerstörte, nutzte Großbritannien dies als erste westliche Großmacht als Vorwand, auch China in wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen, indem der Erste Opiumkrieg (1839-1842) erklärt wurde. Kriegsziel war dabei die Wiedereröffnung des Chinahandels in Kanton sowie die Öffnung weiterer Hafenstädte für den Freihandelsimperialismus.18 Bereits ein halbes Jahrhundert bevor die Kiautschou-Bucht von der deutschen Marine okkupiert wurde, zeigte sich, dass die imperialistischen Wirtschaftsinteressen in China nur unter Gewaltanwendung möglich waren, da der sinozentrische Widerstand keine Souveränitätsverluste zu Gunsten der eurozentrischen Expansion akzeptierte.
Die chinesische Niederlage im Ersten und auch im Zweiten Opiumkrieg (1857-1860) hatte gravierende Folgen, da sie der Qing-Dynastie die eigenen Schwächen offenbarte und Großbritannien aber auch weiteren Westmächte Vieles ermöglichte: Die Epoche der „ungleichen Verträge“19 führte bereits 1842 zur Abtretung der Insel Hongkong an die Briten und der Öffnung fünf weiterer Häfen für den internationalen Freihandel20, bevor nach dem Ende des Zweiten Opiumkriegs elf weitere Küstenstädte ,geöffnet‘ und den Westmächten Sonderrechte gewährt wurden. Ausländische Handelsfirmen erhielten nicht nur das Mitbestimmungsrecht in der Festlegung von Zolltarifen, sondern mit den „Exterritorialitätsrechten“21 gleichzeitig die Möglichkeit in Handelsstädten autonome „urban settlements“22 oder auch nationale Konsulate zu etablieren. Diese Handelsstützpunkte23 stellten zusammen mit Grundbesitzen christlicher Missionare, die das Recht erhalten hatten, im Landesinneren Missionsstationen aufzubauen, den Grundstein der informellen Herrschaft dar. Mit Hilfe der sogenannten Kanonenbootstrategie, die bei den flottenstarken Großmächten zur Anwendung kam und bei der Kanonenboot-Flotten unter Androhung von Gewalt möglichst viele Hafenstädte anliefen, festigten die Westmächte ihre informelle Herrschaft und schränkte Chinas Souveränität weiter ein.24 Dass China der aggressiven Militärpolitik des Westens aufgrund seiner technischen und militärischen Unterlegenheit nicht standhalten konnte, hatten die Niederlagen in den Opiumkriegen verdeutlicht, sodass man, um eine weitere „Einkreisung Chinas“25 zu verhindern und mit der westlichen Wirtschaft konkurrieren zu können, bis 1895 eine Politik der Selbststärkung anstrebte. Durch dieses Vorgehen sollten militärische Konflikte mit den überlegenen Großmächten vermieden und gleichzeitig ein Modernisierungsprozess begonnen werden, um durch diplomatisches Geschick die politische und ökonomische Stabilität wiederzuerlangen. Allerdings erwies sich die chinesische Politik als gescheitert, als Japan, das ebenfalls Mitte des 18. Jahrhunderts ,geöffnet‘ worden war und sich beachtlich entwickelt hatte, 1895 das ehemalige ,Reich der Mitte‘ in einem militärischen Konflikt um die Hegemonie in Korea vernichtend besiegte. Der Sieg Japans resultierte in einer verstärkten Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten, ihre Einflusssphären im ,auseinanderbrechenden‘ China informell weiter auszubauen - dies sind die Rahmenbedingungen, die das Deutschen Reichs beim „scramble for concessions“26 erwarteten.
2.2 Das deutsche Pachtgebiet Kiautschou
„Gehen sie augenblicklich mit ganzem Geschwader Jiaozhou, besetzen Sie geeignete Punkte und Ortschaften daselbst und erzwingen Sie von dort aus in Ihnen geeignet scheinender Weise vollkommene Sühne. Größte Energie geboten. Zielpunkt Ihrer Fahrt geheimhalten [sic!]. Wilhelm Kaiser König.“27
Dieses Telegramm, das Kaiser Wilhelm II. am siebten November 1897 an Admiral Diederichs, der ein Kreuzergeschwader in den ostasiatischen Gewässern befehligte, schickte, lässt zwar nicht direkt die machtpolitische Intention der Okkupation Kiautschous erkennen, gibt aber Aufschluss darüber, dass ein gewaltsames Vorgehen im Sinne des europäischen Imperialismus nicht auszuschließen war. Die im Folgenden erläuterte Besetzung der für den Freihandel gut gelegenen Bucht in der Provinz Shandong durch die deutsche Marine wurde durch außenpolitische Aspekte bestimmt:
Einerseits bedrohte Japan nach dem Sieg im chinesisch-japanischen Krieg 1895 mit seinen Territorialansprüchen in China die imperialistischen Ansprüche der Westmächte. Andererseits verfügte das Deutsche Reich, dessen Kontakte mit China sich seit den ,ungleichen Verträgen4 primär auf Rüstungslieferungen beliefen, aufgrund der Bismarck‘schen Politik28 über keine informell beherrschte „Einflußsphäre [sic!]“29 - da eine koloniale Aufteilung Chinas nicht mehr auszuschließen war, „nahm sich das Deutsche Reich [mit der Besetzung Qingdaos] etwas, was die übrigen kolonisierenden Staaten Europas in China längst besaßen“30. Um eine weitere Expansion Japans zu verhindern und um als Westmacht ebenfalls in China ,repräsentiert‘ zu sein, erhob das Deutsche Reich gemeinsam mit Russland und Frankreich als Teil des ,Ostasiatischen Dreibundes4 Einspruch gegen die Friedensbestimmungen des chinesisch-japanischen Krieges. In Folge dessen verzichtete Japan, einen weiteren Teil Chinas in Besitz zu nehmen, sodass das Mächtegleichgewicht ausgeglichen wurde.31 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die aktive imperialistische Politik des Deutschen Reichs zu dieser beginnenden zweiten Phase des informellen Imperialismus in China, während der die Rivalität der Westmächte und Japans charakteristisch war32, mit seinem prochinesischen Eingreifen in die Friedensverhandlungen und der Stationierung einer ständigen Kreuzerdivision in ostasiatischen Gewässern begann.
Obwohl der Wunsch nach einer Marinebasis mit ökonomischer Anbindung an das chinesische Hinterland33 seit den Handelsverträgen der preußischen Ostasienexpedition34 bestand und in einigen Publikationen das Entwicklungspotential sowie die ,koloniale Eignung4 der vorindustriellen Provinz Shandong hervorgehoben worden sind35, konnte dieser Wunsch erst 1897 realisiert werden. Die Bismarck'sche Politik, in deren Fokus neben Europa vor allem die Sicherung des seit 1871 bestehenden deutschen Nationalstaates stand, beschränkte sich der deutsche Einfluss in China auf wirtschaftliche Handelskontakte und Rüstungslieferungen während der ,Selbststärkungsphase‘ Chinas. Mit dem Rücktritt Bismarcks schlug Wilhelm II. einen neuen außenpolitischen Kurs ein; während dieser „Phase der Weltpolitik“36 versuchte man zuerst, durch diplomatisches Geschick einen deutschen Marinestützpunkt in China zu erhalten. Als dies scheiterte, berief der Kaiser mit Alfred Tirpitz einen Minister, der als Staatssekretär des Reichsmarineamtes den Ausbau der Flotte durchsetzen sollte - der innenpolitische Zweck dieser deutschen Weltpolitik sei an dieser Stelle übergangen.
Da auch die zugunsten Chinas veränderten Friedensbestimmungen dem Deutschen Reich keine Einflusssphäre einbrachten, war man auf einen Vorwand angewiesen, der die deutsche Marine zu einer militärischen Besetzung der inzwischen als künftige deutsche ,Kolonie‘ deklarierten Jiaozhou-Bucht legitimierte. Trotz der Ungewissheit, wie die anderen in China vertretenen imperialistischen Mächte dieses gewaltsame Vorgehen wahrnehmen würden, und einiger Alternativvorschläge des für die deutschen Kolonien zuständigen Auswärtigen Amtes, veranlasste die Ermordung zweier deutscher Missionare, die in Shandong seit 1890 dem Schutz des Deutschen Reiches unterstanden, Anfang November 1897 die militärische Besetzung der Kiautschou-Bucht.37
Das oben zitierte Telegramm, mit dem der Kaiser Admiral Diederich den Befehl zur Okkupation gab, ist laut Mühlhahn auf eine spontane Initiative Wilhelms gesendet worden und war weder mit dem Auswärtigen Amt noch mit dem Reichsmarineamt abgesprochen - ein weiteres den Befehl revidierendes Telegramm wurde daraufhin auf Drängen der Minister gesendet. Dieses erreichte Diederich allerdings erst nach der Besetzung der Jiaozhou-Bucht, sodass es zu keiner anderen Form der Inbesitznahme kommen konnte.38
Zwar ging die Okkupation ohne eine direkte Gewaltanwendung von Statten, da dem dort zum Aufbau eines Marinehafens stationierten chinesischen Kontingent ein Ultimatum zum Abzug gestellt wurde39, aber bereits das erste aktive Handeln im Sinne der neuen imperialistischen Außenpolitik des Deutschen Reiches verdeutlicht das Verhältnis von deutschem Kolonialismus bzw. Imperialismus und Gewaltanwendung. Allerdings sollte nicht von einem deutschen imperialistischen Aggressionsakt allein gesprochen wurden - schließlich muss auch die Kanonenbootdiplomatie der anderen Großmächte und die damals übliche Machtdemonstration und Gewaltandrohung bedacht werden.
[...]
1 Bernd Martin: „ ,Gouvernement Jiaozhou‘ - Forschungsstand und Archivbestände zum Deutschen Pachtgebiet Qindao (Tsingtau) 1897-1914“, in: Kuo Heng-Yü & Mechthild Leutner (Hrsg.): Deutschland und China: Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der Deutsch-Chinesischen Beziehungen; Berlin 1991, S. 375-399, hier S. 375.
2 Die aufgeführten topographischen Bezeichnungen waren damals in eingedeutschter Schreibweise als Tsingtau, Schantung und Kiautschou üblich und werden im Folgenden synonym verwendet.
3 Martin:„ ,Gouvernement Jiaozhou‘“, S. 380.
4 Näheres dazu in Kapitel 2.2.
5 Vgl. Mechthild Leutner & Klaus Mühlhahn: „Die „Musterkolonie“: Die Perzeption des Schutzgebietes Jiaozhou in Deutschland“, in: Heng-Yü & Leutner: Deutschland und China, S. 399-429, hier S. 399-400.
6 Jürgen Osterhammel definierte Kolonialismus als eine „Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven“, Klaus Mühlhahn: Herrschaft und Widerstand in der „Musterkolonie“ Kiautschou. Interaktionen zwischen China und Deutschland 1897-1914 [Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 8], München 2000, S. 14.
7 Vgl. Fu-teh Huang: Qingdao: Chinesen unter deutscher Herrschaft 1897-1914 [Edition Cathay, Bd. 47], Bochum 1999, S. 2.
8 Vgl. Mühlhahn: Herrschaft und Widerstand, S. 16-28.
9 Handbuch für das Schutzgebiet Kiautschou, hrsg. von Friedrich Wilhelm Mohr, Tsingtau 1911.
10 Martin:„ ,Gouvernement Jiaozhou‘“, S. 383.
11 Laut Martin konzentriert sich die jüngere chinesische Forschung fast ausschließlich darauf; s. ebd., S. 382.
12 Vgl. Thoralf Klein: Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 31-34.
13 Huang: Qingdao: Chiensen unter deutscher Herrschaft, S. 4.
14 Vgl. Dietlind Wünsche: Feldpostbriefe aus China. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster deutscher Soldaten zur Zeit des Boxeraufstandes 1900/1901, Berlin 2008, S. 73-74.
15 Torsten Warner (Hrsg.): Die Planung und Entwicklung der deutschen Stadtgründung Qingdao (Tsingtau) in China. Der Umgang mit dem Fremden, Frankfurt am Main 1996, S. 62.
16 Ebd., S. 62.
17 Klein: Geschichte Chinas, S. 293.
18 Vgl. Klein: Geschichte Chinas, S. 34-36 & S. 293 und Hubert Mainzer & Herward Sieberg (Hrsg.): Der Boxerkrieg in China 1900-1901. Tagebuchaufzeichnungen des späteren Hildesheimer Polizeioffiziers Gustav Paul [Quellen und Dokumentation zur Stadtgeschichte Hildesheims, Bd. 11], Hildesheim 2001, S. 14-15.
19 Ein im Jahr 1920 aus der einseitigen Benachteiligung Chinas entstandener Begriff: Klein: Geschichte Chinas, S. 38.
20 Obwohl Großbritannien die Öffnung Chinas erzwungen hatte, schlossen bald auch andere Nationen wie die USA oder Frankreich ähnliche Verträge ab.
21 Warner: Stadtgründung Qingdao, S. 22.
22 Klaus Mühlhahn: „A New Imperial Vision. The Limits of German Colonialism in China“, in: Bradley Naranch & Eley Geoff (Hrsg.): German Colonialism in a Global Age [politics, history and culture], Durham/London 2014, S. 129-147, hier S. 130.
23 Näheres dazu s. Warner: Stadtgründung Qingdao, S. 20-27.
24 Vgl. Wünsche: Feldpostbriefe aus China, S. 76-77.
25 Mainzer/Sieberg (Hrsg.): Der Boxerkrieg in China, S. 20 ff.
26 Mechthild Leuchtner (Hrsg.): „ Musterkolonie Kiautschou Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914. Eine Quellensammlung [bearb. Klaus Mühlhahn], Berlin 1997, S. 39-41.
27 Ebd., S. 119.
28 Vgl. Mühlhahn: Herrschaft und Widerstand, S. 76; 82 ff. & Huang: Qingdao: Chiensen unter deutscher Herrschaft, S. 15-17.
29 Zhu Maoduo: „Deutsche Truppeneinsätze in Shandong nach dem Abschluss des „Jiaoao-Pachtvertrags“, in: Heng-Yü & Leutner: Deutschland und China, S. 309-333, hier S. 309.
30 Leutner & Mühlhahn: „Die „Musterkolonie“, S. 404.
31 Vgl. Leutner: „Musterkolonie Kiautschou“. Eine Quellensammlung, S. 61-63 & Mainzer/Sieberg (Hrsg.): Der Boxerkrieg in China, S. 29-31.
32 Vgl. Klein: Geschichte Chinas, S. 294.
33 Vgl. Mühlhahn: „A New Imperial Vision“, S. 129.
34 Zur preußischen Ostasienexpedition unter Graf Eulenburg vgl. Mühlhahn: Herrschaft und Widerstand, S. 7576 & Mainzer/Sieberg (Hrsg.): Der Boxerkrieg in China, S. 21-23.
35 Näheres dazu bei Mühlhahn: Herrschaft und Widerstand, S. 39-64.
36 Huang: Qingdao: Chiensen unter deutscher Herrschaft, S. 19.
37 Vgl. Mühlhahn: Herrschaft und Widerstand, S. 76-77 & 89-95.
38 Vgl. ebdn., S. 95.
39 Vgl. ebd., S. 95-97.