Diese exegetische Hausarbeit aus dem Bereich alttestamentliche Theologie befasst sich mit dem Berufungsbericht von Jeremia 1,4-10. Zunächst wird auf ein Übersetzungsvergleich von Jeremia 1,4-10 eingegangen. Anschließend werden Untersuchungen der Entstehungsgeschichte und zur Botschaft von Jeremia 1,4-10 unternommen. Darüber hinaus wird die Gesamtinterpretation von Jeremia sowie das Verhältnis von Berufungsbericht und Gesamtbotschaft analysiert. Die Arbeit enthält ein Quellenverzeichnis und endet mit einem Übersetzungsvergleich der Lutherbibel (2017) und der Elberfelder Bibel (2006).
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
1. EINDRUCK UND VORVERSTÄNDNIS
2. ÜBERSETZUNGSVERGLEICH VON JEREMIA 1,4-10
3. UNTERSUCHUNG DER ENTSTEHUNGSGESCHICHTE VON JEREMIA 1,4-10
3.1 ABGRENZUNG DES ABSCHNITTS
3.1.1 ÄußereAbgrenzung
3.1.2 InnereAbgrenzung
3.2 LITERARISCHE EINHEITLICHKEIT/UNEINHEITLICHKEIT
3.3 REDAKTIONSKRITIK
3.4 DIE FRAGE NACH ZEIT, ORT UND VERFASSERSCHAFT
3.4.1 Entstehungszeit
3.4.2 Entstehungsort
3.4.3 Verfasser
4. UNTERSUCHUNGEN ZUR BOTSCHAFT VON JEREMIA 1,4-10
4.1 FORM- UND GATTUNGSKRITIK
4.2 ÜBERLIEFERUNGSKRITIK
4.3 MOTIV- UND TRADITIONSKRITIK
5. DIE GESAMTINTERPRETATION VON JEREMIA 1,4-10
5.1 ZUSAMMENFASSENDE EXEGESE
5.1.1 Entstehungsgeschichte von Jeremia 1,4-10
5.1.2 Botschaft von Jeremia 1,4-10
5.2 VERSWEISE EINZELAUSLEGUNG
5.3 THEOLOGISCHER ERTRAG
6. VERHÄLTNIS VON BERUFUNGSBERICHT UND GESAMTBOTSCHAFT
7. QUELLENVERZEICHNIS
7.1 Literaturquellen
7.2 Internetquelle
8. MATERIALTEIL
8.1 ÜBERSETZUNGSVERGLEICH DER LUTHERBIBEL (2017) UND DER ELBERFELDER BIBEL (2006)
VORWORT
Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.“
Jeremia 31,33 ElberfelderBibel
Dieser Vers aus dem berühmten Prophetenbuch des Alten Testaments bringt das Werk Jahwes auf Punkt. Durch den Propheten Jeremia unternimmt Gott den letzten Versuch, sein Volk doch noch zur Buße zu rufen. Er verkündigt die Gerichtsbotschaft, in der auch der Ruf zur Umkehr steckt. Jeremias Kampf richtet sich zunächst gegen den falschen Kult und gegen die Sicherheit, die dieser verspricht. Jeremia sagte dem „Baalismus“, der meistgenannte Fremdkult der Königszeit, den Kampf an. Das Wort Gottes enthüllt den tiefen Ungehorsam des Volkes. Ihr sündiges Verhalten ist zur festen Gewohnheit geworden.
Obwohl das Volk unfähig zum Gehorsam ist, gibt Gott sein Volk nicht auf. Der alte Bund ist zerbrochen. Doch es erscheinen leuchtende Verheißungsworte vom Neuen Bund (Jer 31,31-34). Der alte Sinaibund brachte die Offenbarung des Gottesgesetzes: Erwählung. Doch dieser wurde gebrochen, weshalb Jahwe seinen Bund erneuert, eher sogar „revolutioniert“.
Jahwe wird dem Volk seinen Willen ins Herz legen, welcher ausschließlich den Weg zum Leben eröffnet. Er befähigt den Menschen zu einem vollkommenen Gehorsam. Schöpferische Einpflanzung des Willen Gottes in das menschliche Herz. Die Umkehr ist ein Werk Jahwes, denn das Volk kann von sich aus niemals das Verhältnis wieder ordnen.
Dieses wirkungsvolle Auftreten, von der Endphase des Staates Juda bis zum Tod des Propheten Jeremia, möchte uns auch heute mitten ins Herz treffen. Wir sollen ermutigt werden, den Weg Jahwes immer wieder weiter zu suchen und auf diesem beständig zu wandeln. Denn durch seine Gnade ermöglicht er eine neue Ausrichtung des Herzens.
1. EINDRUCK UND VORVERSTÄNDNIS
Während meiner Zeit an der Bibelschule habe ich den Propheten Jeremia gelesen und in der ein oder anderen Unterrichtseinheit wurden die Thematiken der Prophetenbücher behandelt. Beim erneuten Lesen der Perikope springt mir sofort Vers 4 ins Auge und erinnert mich an den Psalm 139 wo es auch in Vers 13 heißt, dass der HERR - in diesem Fall - David, im Leibe seiner Mutter bildete. Weiter erinnert mich die Beschreibung der Absonderung an die Auserwählung Gottes der großen Glaubensväter aus dem Pentateuch, wie z.B. Abraham (Gen 12), Jakob (Gen 27) und Mose (Ex 3). Nach der Gegenüberstellung stelle ich fest, dass auf inhaltlicher und struktureller Ebene die größte Parallelität zu Moses Berufungsgeschichte vorliegt. Die Bedeutung seines Namens lautet „Jahwe erhört\ was ich dahingegen interpretiere, dass durch die Berufung des Propheten, Gott sich erneut seinem Volk zuwendet - es erhört. Im weiteren Verlauf des Prophetenbuches liegt in seiner Verkündigung neben den Gerichtsbotschaften der Ruf zur Umkehr, womit er auch leidensbereit Protest gegen die unterschiedlichsten Religionsmischungen ausübt.
Der Zuspruch des HERRN und seine Ankündigung, Jeremia als Propheten einzusetzen, sto- ßenjedoch seinerseits auf Verunsicherung und Angst. Er hält sich nicht für den Dienst tauglich und legitimiert dies mit seinem Alter. Dieser Problematik begegne ich oft in Gesprächen mit anderen Gläubigen. Die Herausforderungen des alltäglichen Lebens wachsen einem über den Kopf und inmitten dieses Chaos soll auch noch ein Leben zur Ehre Gottes gelebt werden. Ich kann Jeremias Reaktion aufjeden Fall nachvollziehen, obwohl ich tendenziell eher wie Jesaja auf Gottes Anrede geantwortet hätte. Dieser fühlt sich nicht würdig in der Herrlichkeit bzw. Gegenwart Gottes zu bestehen, da er durch und durch ein sündiger Mensch ist (Jer 6,5). Die beiden Berufungsgeschichten divergieren außerdem dahingegen, dass Jeremia Gottes Ruf deutlichen Widerstand leistet.
Aus meinem persönlichen Glaubensleben und Studieren der Schrift habe ich den HERRN auf die Weise kennengelemt, dass er stets unsere Gegenargumentation entkräftet:
Sage nicht: Ich bin zu jung. Denn zu allen, zu denen ich dich sende, sollst du gehen, und alles, was ich dir gebiete, sollst du reden.“
Jeremia 1,7 ElberfelderBibel
Selbst wenn wir persönlich viele Gründe gegen Gottes Anordnungen finden, ruft er weiter und verspricht uns seinen Beistand, seinen Schutz und seine Hilfe (Jer 1,8). Ich schätze Gottes liebevolle als auch herausfordernde Art, wie es auch die Berufung Jeremias veranschaulicht. Bevor ihn der HERR losschickt, rüstet er ihn mit allem Notwendigen aus. Neben den Worten, die Jeremia in den Mund gelegt werden (Jer 1,9), bestellt er ihn über Nationen und Königreiche (Jer 1,10).
In erster Linie ist der Textabschnitt für mich persönlich eine Ermutigung. Erstaunt bin ich immer wieder über die Vorstellung, dass der HERR mich im Bauch meiner Mutter bildete und wusste, was meine Stärken und Schwächen sind (Jer 1,5). Auch die Überlegung, dass Gott seine eigenen Worte in Jeremias Mund legt, fasziniert mich. In vielen Gesprächen über den Glauben wünschte ich mir einfach die Gedanken, wie sie der HERR in mich gegeben hat, weitergeben zu können. Gleichzeitig frage ich mich, wie sich diese Prozedur, die Berührung des Mundes, abgespielt haben muss. Hat Jeremia tatsächlich die Hand Jahwes an seinen Lippen gespürt (Jer 1,9) und seine Worte (Jer 1,5.7-10) tatsächlich gehört? Ist Jeremias Einwand nur ein Vorwand oder ist er wirklich kein Redetalent (Jer 1,6)? Ich freue darauf, mich intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und besonders die Intention und Bedeutung von Vers 10 aufzuspüren.
2. UBERSETZUNGSVERGLEICH VON JEREMIA 1,4-10
Im groben Vergleich der Berufungsgeschichte Jeremias aus der Lutherübersetzung 2017 (LUT) mit der Elberfelder Bibel (ELB) aus dem Jahr 2006 lässt eine wesentliche inhaltliche Übereinstimmung feststellen, was den Rückgriff auf den gleichen Textbestand - AT Biblia Hebraica - verdeutlicht.1 Luther- und Elberfelderübersetzung sind bekannt für eine möglichst grundtexttreue Modifikation. Luther war bestrebt „dem Volk aufs Maul zu schauen“, was sich freilich mit diesem Abschnitt bestätigt. Hingegen die Elberfelder Bibel eine philologisch exakte Übersetzung ist, weshalb sie sprachliche Härten im Deutschen in Kauf nimmt. Die Formulierung „Ich sondere dich aus“ (Jer 1,5 LUT) meint das Heraussuchen aus einer Gruppe mit anschließender Isolierung. Hingegen der Ausdruck „Ich habe dich geheiligt“ (Jer 1,5 ELB) konkret Gottes Wirken an Jeremia expliziert, der sich deutlich von allem Irdischen unterscheidet, da er in völliger Inanspruchnahme Gottes steht. Beidem geht die vorgeburtliche Bestimmung zum Propheten voraus, was die Befreiung aus seinem sozialen Umfeld hin zur exklusiven Bindung an Gott folgert. Menschliches Handeln ist hier völlig ausgeschaltet.
Die Substantive „Nation“ (Jer 1,5.10 ELB) und „Volk“ (Jer 1,5.10 LUT) können in der deutschen Sprache durchaus als Synonyme verwendet werden und meinen aufgrund übereinstimmender, ethnischer Merkmale den Zusammenschluss einer Gemeinschaft von Menschen. Freilich ist im biblischen Kontext „Volk“ eher auf die Blutsverwandtschaft als einigendes Element ausgerichtet: das Volk Israel. Währenddessen mit „Nation“ eine politische und territoriale Einheit bzw. meist nicht-israelitische Völker betitelt werden.
Sowohl „Ich bestellte dich zum Propheten“ (Jer 1,5 LUT) als auch „Ich habe dich (zum Propheten) eingesetzt“ (Jer 1,5 ELB) zielt darauf ab, dass der Zeitpunkt für Jeremias Erscheinen als Prophet auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist.
Im Wissen seiner Unerfahrenheit (zu jung) wendet er sich gegen Gottes Auftrag, zukünftig die Tätigkeit eines Propheten auszuüben. Wenngleich „predigen“ (Jer 1,6.7 LUT) im Vergleich zu „reden“ (Jer 1,6.7 ELB) die offensivere und eindringlichere Variante der Verkündigung darstellt, liegt in diesem Fall der Fokus auf dem Vorgang des Sprechens, wozu Jeremia seine Unfähigkeit betont. Die umgestellten Satzglieder stellen keine inhaltliche Veränderung dar, sondern rückt entweder die Ortsangabe („wohin“ = Interrrogativpronomen LUT) oder aber den Menschen („zu allen, zu denen“ ELB) in den Mittelpunkt des Geschehens. Der Ausrufesatz, „Fürchte dich nicht vor ihnen!“ (Jer 1,8 ELB) unterstreicht die vorherige Annahme.
Jeremia werden die „Worte in den Mund gelegt“ (Jer 1,9 ELB und LUT), wodurch die Frage des Inhalts geklärt und ausschließlich die Aktivität des Sprechens von Relevanz ist. In diesem Sinne verwechselt Jeremia die Berufung zum Propheten mit der Frage nach seinem Redetalent.
Auch der letzte Vers zeigt eine Vielfalt an möglichen Formulierungen. „Heute“ (Jer 1,10 LUT) impliziert, dass Jahwe Jeremia exakt ab diesem Tag, an dem Jahwe zu ihm gesprochen hat, über Völker und Königreiche setzt. „An diesem Tag“ (Jer 1,10 ELB) könnte sich hingegen auf einen Tag in der Zukunft beziehen, sollte sich der Vers vorher nicht auf den Tag des Zuspruchs Jahwes beziehen, sondern eine Prophezeiung sein. Anstelle von „ausreißen“, „niederzureißen“, „zugrundezurichten“ und „abzubrechen“ (Jer 1,10 ELB) benutzt die Lutherbibel die Worte „ausreißen“, „einreißen“, „zerstören“ und „verderben“. Außer dem letzten Verb können alle anderen als Synonym verwendet werden. Die vier einzelnen Ausdrücke können auchjeweils zu zwei Wortpaaren zusammengefasst werden, worauf „verderben“ auch als Synonym von „zerstören“ gesetzt werden kann.
Grundsätzlich favorisiert diq Elberfelder Bibel die Zeitform Perfekt, wohingegen die Lutherübersetzung mehrfach ins Präteritum übersetzt. Bleibende Fragen sind zum einen von welchen Königreichen und Völker die Rede ist (Jer 1,10) und zum anderen vor wem oder was Jeremia konkret „errettet“ werden muss (Jer 1,8). Auch der Grund für den Einwand Jeremias weckt mein Interesse, sowie das Gefühl, welches Jeremia bei der Berührung Jahwes erlebt haben muss.
3. UNTERSUCHUNG DER ENTSTEHUNGSGESCHICHTE VON JEREMIA 1,4-10
3.1 ABGRENZUNG DES ABSCHNITTS
Der zu bearbeitende Text wird mit Jeremia 1,4-10 abgesteckt. Die für die Exegese herangezogenen wissenschaftlichen Darstellungen stimmen mit dieser Abschnittsteilung konform überein.2 Die Begründung erfolgt in zwei Schritten für äußere und innere Abgrenzung.
3.1.1 ÄußereAbgrenzung
Die Berufung des Propheten Jeremia ist im ersten Kapitel zu finden, wobei die drei Verse zuvor - ähnlich wie bei anderen Prophetenbüchem - eine kurze Notiz über seine Herkunft und der zeitlichen Einordnung illustrieren.
Der einleitende Vers in das Buch enthält persönliche Angaben über die Person Jeremia, wie der Relativsatz, der seine Abstammung aus einer Priesterfamilie erläutert. Vers 2 weist auf die göttliche Quelle seiner Verkündigung hin (Jahwes Worte an Jeremia) und beschreibt gemeinsam mit Vers 3 den Offenbarungszeitraum seines Wirkens: die Regierungszeit der judäischen Könige Joschija, Jojakim und Zidkija (Jer l,2f). Diese Überschrift möchte über geschichtliche Hintergründe und Gegebenheiten aufklären, wohingegen ab Vers 4, die persönliche Begegnung mit dem HERRN einen thematisch neuen Schwerpunkt setzt, was auch der Dialogstil unterstreicht.
Die Beschreibung des Fundaments seiner Prophetenlaufbahn geschieht durch die Wortereignisformel (Jer 1,2: „Zu dem das Wort des HERRN geschah [...]“) und bereitet noetisch auf den in Vers vier beginnenden Berufungsbericht vor.3 Im Zuge dessen wechselt auch die Erzählperspektive, was das Personalpronomen „mir“ kennzeichnet, von der auktorialen Form zum Selbstbericht (Jer 1,4: „Und des HERRN Wort geschah zu mir so“). Dieser ist überwiegend im Verbalstil formuliert, hingegen die Verse 1-3 im Nominalstil gehalten sind. Außerdem sticht die zeitliche Angabe in Vers 3 ins Auge: „bis zur Wegführung Jerusalems im fünften Monat“. Datiert kann dieser frühestens in das Exil ab 587 v. Chr. werden.4 Im Gegensatz dazu gehen die ersten Schriften des „Nabi“ bereits auf 605 v.Chr. zurück.5 Daraus schließt sich, dass die Einführung in das Prophetenbuch, welches ein komplexes Satzgefüge darstellt, in sich abgeschlossen ist, worauf ein neuer Handlungsabschnitt folgt.
3.1.2 InnereAbgrenzung
Den Versen 4 bis 10 folgen die Bestätigung der Berufung (Jer 1,11-16) durch die Doppelte Vision Jeremias und die Aussendung des Propheten (Jer 1,17-19).6 Die zwei Visionsberichte, Vers llf. und Verse 13-16, stehen nach Form und Inhalt in enger Verbindung, obwohl die Wiederholung der Wortereignisformel „Und das Wort des Herrn geschah zu mir“ (Jer 1,11.13) zwei autarke Passagen vermuten lassen könnte. In jeder Hinsicht erschließen sich neue Rahmenbedingungen, sogenannte Symbolvisionen, wodurch sich eine Abgrenzung im rhetorischen Sinne zur Berufungsgeschichte vollstreckt.7 Auch die zweimalige Abfolge von einer Frage Jahwes, der Antwort Jeremias und anschließenden Auslegung Jahwes, unterscheidet sich vom Schema der Verse 4 bis 10. Die Interpretation wird von Jahwe mit der Gottesspruchformel „Und der HERR sprach zu mir“ (Jer l,12a,14a) eingeleitet.
Nachdem Vers 12 die Qualität der Verkündigung und Vers 14 den entscheidenden Inhalt - Gerichtsankündigung - nennt, wird die Unheilsansage in den Versen 15 bis 16 konkretisiert. Das Drohwort in Vers 14 „Von Norden her wird das Unglück brechen über alle Bewohner des Landes“ wird durch das Scheltwort „Und ich werde meine Urteile über sie sprechen wegen all ihrer Bosheit, dass sie mich verlassen und anderen Göttern Rauchopfer dargebracht und sich von den Werken ihre Hände niedergeworfen haben“ (Jer 1,16) begründet. Somit ist Vers 14 die Vorbedingung für die Verse 15 und 16, weshalb sie getrennt vom Berufungsbericht betrachten sind.
Mit Vers 17 ermutigt der HERR Jeremia, der Angst vor der „Bosheit“ (Jer 1,16) der Feinde keinen Raum zu geben, was mit dem Zuspruch aus Vers 19 untermalt wird. Jahwe verheißt Jeremia Halt und Rettung in all seiner kommenden Not und prophezeit, dass er den Anfeindungen trotzen wird (Jer 1,18), was für eine thematische Versverknüpfung spricht. Außerdem kann diese Gottesspruchformel (Jer 1,19) auch in direkten Zusammenhang mit Vers 15 gebracht werden, wodurch auch nach hinten eine klare Abgrenzung zur Berufungserzählung zu ziehen ist.
Ab Kapitel zwei eröffnet sich inhaltlich eine divergente Thematik, da der HERR Jeremia seine zwei drängenden Fragen beantwortet: „Werde ich meiner Aufgabe gewachsen sein und wird das Wort tatsächlich eintrejfen?“ sowie „Was wird das Schicksal des ungehorsamen Volkes sein und wie wird das vonstatten gehen?“ (Jer 1,11-19). Daraufhin trägt Jeremia Israels Anklage aufgrund seiner Sünde vor.
Obwohl das erste Kapitel als eigenständiges deklariert werden kann, erstrecken sich bis einschließlich Kapitel 25 dieDroh- und Gerichtsworte gegen das eigene 'Volk. Diese setzen sich wie folgt zusammensetzen: die Schuld des Volkes und Gottes Gericht (Jer 2-10), die Klagen des Propheten (Jer 11-20) und Worte an die Führenden (Jer 21-25). Dieser Rede aus der Frühzeit Jeremias unter den Königen Josia und Jojakim folgen die Prophetenerzählungen (Jer 26-45), die Baruchbiographie (Jer 30-33), Gerichtsworte gegen fremde 'Völker (Jer 4651) und der geschichtliche Anhang (Jer 52) nach dem Aufbau des masoretischen Überlieferungsstroms.8
3.2 LITERARISCHE EINHEITLICHKEIT/UNEINHEITLICHKEIT
Die Berufung des leidenden Propheten an der Wende ins Exil kann sachlich in fünf Einheiten gegliedert werden:
1. Einsetzung Jeremias in das Prophetenamt: V.4-5
2. Die Klage und der Widerspruch Jeremias: V.6
3. Bekräftigung des göttlichen Auftrags und Sendung: V.7-8
4. Übertragung des Gotteswortes durch ein Zeichen: V.9
5. Offenbarung des Programmes für Jeremia: V.IO
Diese Abfolge ist typisch für einen Berufungsbericht mit Einspruch des Propheten.9 Der Ich- Bericht aus der Perspektive Jeremias (Jer 1,4) zieht sich kohärent durch die sieben Verse und weist inhaltlich keine Brüche auf. Die Übersetzung des Gottesnamens wechselt nicht, sondern bleibt konstant „HERR“ (für JHWH = Jahwe). Die Worte Gottes sind in metrischer Form gestaltet (Jer 1,5.7-8.10), derverbindende Text in Prosa (Jer 1,4.6.9).10
Die Wortereignisformel (Jer 1,4) führt in die Berufungsgeschichte ein, worauf die wörtliche Rede Gottes zur ewigen Vorsehung zum Prophetenamt anknüpft (Jer 1,5). Die drei hintereinander geschalteten Zeitwörter „erkannt - geheiligt - bestimmt“ (Jer 1,5) stehen im hebräischen Perfekt. Sie charakterisieren ein Stadium, welches Jeremia längst besitzt, jedoch noch nicht realisiert hat.11 In der Einordnung der Poesie ist die Rede von einem 3-fach synthetischen Parallelismus. Das zweite Glied führt eine Äußerung des ersten Glieds fort und diese beiden vereinen sich im dritten Glied zu einer daraus schlussfolgernden Aussage. Der HERR hat Jeremia auserwählt und für die prophetische Aufgabe ausgesondert, was seine zukünftige Tätigkeit als Sprachrohr Gottes unter den Völkern erkenntlich macht.
Seiner Ablehnung des Auftrags führt er zwei Gründe an. Erstens „Ich verstehe nicht zu sprechen“ (Jer 1,6a), was seine Unerfahrenheit im Dozieren vor großen Völkern (Jer 1,5.10) widerspiegelt. Diese Äußerung erinnert an die Beauftragung Moses (Ex 4,1-17), weshalb im weiteren Sinne von einer Doppelüberlieferung die Rede ist. Zweitens „Ich bin noch zu jung“ (Jer 1,6b), worin er seiner Furcht Ausdruck verleiht, von den erfahrenen Männern des Stammes Judas nicht ernst genommen zu werden. Der Klageruf „Ach, Herr, HERR“ leitet in die beiden plausiblen Argumente ein, die für eine solch unzumutbare Aufgabe nachvollziehbar und stringent sind.
Der Einstieg und der Abschluss der Erneuerung des göttlichen Auftrages ist hervorgehoben durch den Ausspruch Gottes: „Der HERR aber sprach zu mir; spricht der HERR“ (Jer l,7a.8c). Freilich korrelieren die Verse 6 und 7, da Gott in seiner Antwort Bezug auf den Einwand Jeremias nimmt. Außerdem ist ein ähnlicher sprachlicher Stil nicht zu übersehen. Jedoch stellt sich die Frage, auf wen sich das „Fürchte dich nicht vor ihnen“ (Jer 1,8a) konkret bezogen ist. Erst wenn die Verse 18 und 19 zur Analyse herangezogen werden, kann das Personalpronomen im Plural ausgeschlüsselt werden. Ist das möglicherweise ein Anzeichen für die Zusammensetzung von unterschiedlichen literarischen Schichten?
In Vers 9 wird durch die Symbolhandlung die Erscheinung Gottes für Jeremia augenfällig und greifbar. Ins Auge fällt die Repetition zwischen Vers 9 „Siehe ich lege [...]“ und Vers 10 „Siehe, ich habe wodurch Stimmigkeit vorliegt, dies aber zugleich Nachinterpretationen vermuten lässt.12
Die Offenbarung des Programmes für den Propheten ist mit der rhetorischen Figur, dem Chiasmus, gebildet, was eine verstärkende Wirkung zum Ausdruck bringt: auszureißen - zugrundezurichten - zu pflanzen und niederzureißen - abzubrechen - zu bauen. Außerdem wird sein Verkündigungsauftrag von „für die Nationen“ (Jer 1,5) auf „die Nationen und die [...]Königreiche“ (Jer 1,10) erweitert.
3.3 REDAKTIONSKRITIK
Erstaunlich ist, dass die einleitende Berufung und Sendung den Leser umfassend auf das vorbereitet, was ihn in den folgenden 52 Kapiteln erwartet. Übereinstimmend mit den Ergebnissen der literarkritischen Analyse, deutet dies auf einen planvollen Aufbau, eine Zusammensetzung unterschiedlicher Textschichten, hin. Besonders die auftretende Stilvielfalt macht deutlich, dass dem Jeremiabuch eine mehrstufige Redaktionsgeschichte zugrunde liegen muss.13 Folgende Ansätze und Theorien haben den Versuch unternommen, die bemerkenswerte Entstehungsgeschichte samt ihrer Überarbeitungsmethodik für die Perikope Jere- mia 1,4-10 aufzuspüren:
Mit Bernhard Duhm (1901) gab es ab dem 20. Jahrhundert eine gravierende Wende in der Forschung des Buches Jeremia. In Zusammenarbeit mit Sigmund Mowinckel (1914) sollte die Problematik der verschiedensten literarischen Gattungen in Jeremias Werk gelöst werden.14 Die Zusammenstellung von poetischen und prosaischen Texten negierte scheinbar einen einzigen Verfasser. Die Idee war die Aufgliederung in unterschiedliche Quellenschichten, die als stilistische und thematische Einheiten gebündelt werden konnte und als eine Komposition zum Gesamtbuch Jeremia verknüpft wurden.15 Duhms Untersuchungen zur Komposition des Jeremiabuches ergab folgende Einteilung: 1. Die Gedichte Jeremias; 2. Das Buch des Baruch, 3. Ergänzungen zu den Schriften Jeremias und Baruchs.16
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse baut die weitverbreitete Vierquellentheorie für die Kapitel 1-45 (Jer 46-52 erweisen sich im Mowinckel als späte Anhänge). In Quelle A sind Prophetensprüche (Jer 4-6; Jer 21-23) sowiejeremianische Selbstberichte (Jer 1) zu finden. Erzählungen über Jeremia in der 3. Person sind Bestandteil der Quelle B - Fremdberichte (Jer 19-20; 26-29; 36-44). Nach Duhm sind diese Dokumentationen auf Baruch, Jeremias Freund, zurückzuführen. Prosareden in deuteronomistischer Bearbeitung (Jer 7, 1-8 (Tempelrede); 11, 1-14; 18,1 (Töpfergleichnis)) kennzeichnen die Quelle C. Die Einleitung durch die Wortereignisformel „Dies ist das Wort, das von Jahwe zu Jeremia geschah“ ist charakteristisch für diese Textauszüge. Nachexilisch einzuordnen sind die Heilsweissagungen aus Jeremia 30-31, welche sich der Quelle D zuordnen lassen.17 Für beide, Mowinckel und Duhm., stand fest, dass der Großteil des Prophetenbuches nicht auf Jeremia selbst zurückgeführt werden kann. Nach Duhm arbeiten vom 6. bis zum 1. Jahrhundert v.Chr. „Ergänzer“, welchen das Werk in seiner heutigen Form zuzuschreiben ist.18
Wilhelm Rudolph (1947) unterstützte die Vierquellentheorie, jedoch war es ihm ein großes Anliegen, erneut die Originalität der Prophetenworte aufzuzeigen. Deswegen fügte er sowohl die Fremdvölkersprüche (Jer 46,1-49,35) als auch die Kapitel 30 und 31 der Quelle A hinzu. Nach seinem Verständnis war der Verfasser der Fremdberichte in Quelle B Baruch. Außerdem seien die prosaischen Textabschnitte der Quelle C auf die authentische Rede Jeremias zurückzuführen, welche im weiteren Verlauf deuteronomistisch überschrieben wurden, weshalb sie keine Einordnung in Abschnitt A finden. Theodore H. Robinson (1924) kontingentierte die Quelle A auf die poetischen Niederschriften. Dass der Großteil des Buches Baruch, nicht Jeremia, zuzuschreiben ist, behauptet Paul Volz (1928).19
Kritische Stimmen beklagten, dass innerhalb einer Quelle eine zu große rhetorische wie inhaltliche Klaviatur vorhanden sei. Siegfried Herrmann proklamierte die These, dass der Anteil der deuteronomistischen Schultheologie weitaus größer ist, als die in Quelle C eingeordneten Schriften. Besonders diejenigen mit dem Thema „Heilserwartungen“, seien den Nacharbeiten während des Exils beizumessen.20
Winfried Thiel (1973/1981) vertiefte den Gedanken über die enge Beziehung zwischen den als deuteronomistisch anerkannten Texten der Quelle C und dem jeremianischen Material der Quellen A und B. Er kam zu dem Schluss, dass in den Kapiteln 1-45 des Jeremiabuches eine deuteronomistische Redaktionsgeschichte vorliegt. Er versteht Quelle C nicht als eigenständige Quelle, sondern als eine Redaktionsschicht, die die Quelle A und B überarbeitet. Inhaltlich und sprachlich ist die Analogie zu den „Deuteronomisten“ nicht zu leugnen.21 Die zwischen 561 und 539 v.Chr. aufgekommene deuteronomistische Redaktion revidierte, erweiterte, kommentierte und aktualisierte das Jeremiabuch. Auch Ergänzungen im Sinne von „freie Kompositionen“ wurden hinzugefügt. Nach Thiel sind die Kapitel 46-51 einem nachdeuteronomistischen Arbeitsgang als Endredaktion des Gesamtwerks zuzurechnen.22
Nach Gunther 'Wanke bildet den Kern der Jeremiaüberlieferung eine Zusammenstellung von Sprüchen aus Jeremia 2-6*; 8-10*; 21,11-23,8*; und 23,9-32. Die erste Auflage, welche in die ersten Jahrzehnte der Exilszeit einzuordnen ist, ist auf die deuteronomistische Redaktion zurückzuführen. Eine interessante Einführung für den Leser (Jer 1) - sozusagen die „Autobiographie“ - wurde den Spruchsammlungen 2-6* und 8-10* vorweggenommen. Diese wurden mit den Grundgedanken von Jeremia 11-20; 25 und den Erzählungen der Kapitel 26 und 36 ergänzt und mit den Worten des Baruchs abgeschlossen.23 Auch nach Mowinckels Vierquellentheorie ist der Auszug Jeremia 1,4-10, aufgrund seiner Nähe zu den theologischen Grundzügen des deuteronomistischen Geschichtswerks, der Quelle C zuzuschreiben.24 Weiter führt Wanke an, dass strukturell eine Parallele zwischen Berufungs- (Jer 1,4-10) und Sendungsbericht (Jer 1,17-19) besteht, welche die zwei Visionsberichte (Jer l,llf.,13-16) umgeben. Ohne Frage ist diese Textabfolge eine gewollte Komposition, die als „Jeremiapro- log“ bezeichnet wird.25 Nicht zu übersehen sind außerdem die dtr. Bearbeitungen bei den Versen 4,7 und 9-10. Die Wortereignisformel gilt als deuteronomistische Neubildung, die auch im Hesekielbuch häufig auftritt.26 Die Erwählung bzw. Aussonderung zum Propheten, wie es im Vers 5 heißt, ist ein Konzept, welches sich ab dem 7. Jahrhundert entwickelte. Basierend auf den Gedanken von Deuteronomium 18,18, wird das Versprechen Jahwes in Jeremia Realität:27
Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen. Ich will ihm meine Worte in den Mund legen, und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm auftrage.
[...]
1 vgl. Deutsche Bibelgesellschaft
2 vgl. Wanke (1995) 27ff.
3 vgl. Werner (1997) 34.
4 vgl. Schmitdt (1995) 24.
5 ebd. 23.
6 vgl. Schneider (1979) 33ff.
7 vgl. Wanke (1995) 31.
8 vgl. Schmidt (1995) 241ff.
9 vgl. Schmitt (2011) 307.
10 vgl. Rudolph (1958) 3.
11 vgl. Schneider (1979) 28.
12 vgl. Schreiner(1981) 14.
13 vgl. Werner (1997) 15.
14 vgl. Wanke (1995) 14.
15 vgl. Schreiner (1981) 6.
16 vgl. Herrmann (1993) 574.
17 vgl. Schmidt (1995) 345.
18 vgl. Wanke (1995) 14.
19 vgl. Herrmann (1993) 575.
20 vgl. Herrmann (1993) 576.
21 ebd. 567ff.
22 vgl. Schmidt (1995) 346.
23 vgl. Wanke (1995) 16f.
24 vgl. Herrmann (1993) 577ff.
25 vgl. Wanke (1995) 28.
26 vgl. Werner (1997) 39.
27 vgl. Herrmann (2002) 194f.