Die vorliegende Seminararbeit soll diese vielschichtigen Transformationsprozesse in der besagten Region nachvollziehbar darlegen. Hierzu wird zunächst auf die mittelalterliche Stadt zu Beginn der Reformation unter besonderer Berücksichtigung der stadtspezifischen Voraussetzungen für die Transformation der Konfessionstopografie eingegangen. Als konkrete Vergleichsgröße wird die Reformationsgeschichte der ersten Jahrzehnte in der Hansestadt Riga herangezogen, um bestimmbare Gemeinsamkeiten, die als typisch für diese Zeit gelten können, und ortsspezifische Unterschiede herauszuarbeiten und zu veranschaulichen. Letzteres folgt im abschließenden Kapitel dieser Arbeit.
Als der Augustinermönch Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen an die Eingangspforte der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, hätte er sich die Tragweite seiner neuartigen Theologie zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit wohl nur schwer vorstellen können. Die Reformation ist seit ihrem Beginn zu einer der einflussreichsten Ideen des zweiten Jahrtausends geworden und veränderte nicht nur das Gesicht Europas dauerhaft, sondern den weiteren Verlauf der Geschichte nachhaltig. Kaum zu überschätzen ist daher die Bedeutung der unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen der Reformationsbewegung auf den weiteren Verlauf der Weltgeschichte.
Zwar ist der Beginn der Reformation freilich nicht erst mit dem berühmten Thesenanschlag Luthers zu datieren, so stellt dieses Ereignis dennoch eine wichtige und entsprechend populäre Zäsur in der Reformationsgeschichte und überhaupt der Geschichte auf der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit dar. Es durchaus berechtigt, den prozessualen Übergang vom Mittelalter in die nächste Epoche maßgeblich an der historischen Entwicklung der Reformation samt all ihrer Zeitlichkeit und ihren mannigfaltigen theologischen Strömungen auszurichten. So war die Reformation in ihren Ergebnissen, ohne die damaligen Möglichkeiten des Buchdrucks, nicht zu denken. Zeitliche Räume veränderten sich durch diese massenmediale Revolution radikal; sie verkürzten und verkleinerten sich durch die neue Technologie in bisher ungekannter Weise. Das 16. Jahrhundert und die Kommunikation zwischen seinen Menschen war zeitlich demnach um ein Wesentliches dichter, als noch das vorangegangene Jahrhundert.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die mittelalterliche Stadt zu Beginn der Reformation
2. Rechtliche Voraussetzungen
3. Einführung der Reformation und Konfessionalisierungsprozess in Riga, Reval und Dorpat
3.1. Riga
3.2. Reval und Dorpat
Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Internetquellen
Einleitung
Als der Augustinermönch Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen an die Eingangspforte der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte,1 hätte er sich die Tragweite seiner neuartigen Theologie zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit wohl nur schwer vorstellen können. Die Reformation ist seit ihrem Beginn zu einer der einflussreichsten Ideen des zweiten Jahrtausends geworden und veränderte nicht nur das Gesicht Europas dauerhaft, sondern den weiteren Verlauf der Geschichte nachhaltig. Kaum zu überschätzen ist daher die Bedeutung der unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen der Reformationsbewegung auf den weiteren Verlauf der Weltgeschichte.
Zwar ist der Beginn der Reformation freilich nicht erst mit dem berühmten Thesenanschlag Luthers zu datieren, so stellt dieses Ereignis dennoch eine wichtige und entsprechend populäre Zäsur in der Reformationsgeschichte und überhaupt der Geschichte auf der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit dar. Es durchaus berechtigt, den prozessualen Übergang vom Mittelalter in die nächste Epoche maßgeblich an der historischen Entwicklung der Reformation samt all ihrer Zeitlichkeit und ihren mannigfaltigen theologischen Strömungen auszurichten.
So war die Reformation in ihren Ergebnissen, ohne die damaligen Möglichkeiten des Buchdrucks, nicht zu denken. Zeitliche Räume veränderten sich durch diese massenmediale Revolution radikal; sie verkürzten und verkleinerten sich durch die neue Technologie in bisher ungekannter Weise. Das 16. Jahrhundert und die Kommunikation zwischen seinen Menschen war zeitlich demnach um ein Wesentliches dichter, als noch das vorangegangene Jahrhundert.
Doch wie so oft in populärwissenschaftlichen Medien gilt der „großen“ Geschichte der Reformation in Mittel-, West- und Nordeuropa das Hauptaugenmerk. Weniger präsent sind im Gegensatz hierzu die Reformationsprozesse an der Peripherie Europas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Eine der periphersten Lagen am Rand der damaligen lateinischen christianitas2 nahmen zu dieser Zeit die livländischen Territorien im Baltikum, bestehend aus weltlichen und geistlichen Fürstentümern, Erzdiözesen, Diözesen und Kirchenspielen sowie Besitzungen geistlicher und im Zuge der Reformation säkularisierter Ritterorden. Gesprochen wird dort zu dieser Zeit eine frühere Form des Estnischen, des Lettischen und seit der Ostkolonisation des 12. Jahrhunderts, den Eroberungen des Schwertbrüderordens sowie des Deutschen Ordens auch Deutsch. Es handelt sich bei der Region daher um eine sehr diverse und nicht nur politisch, sondern auch kirchlich, religiös und kulturell sowie sprachlich heterogene Entität, die nur unter Berücksichtigung ebendieser Umstände in ihrer Gesamtheit historisch nachvollziehbar und verständlich wird.
Wie bereits angedeutet, brachten die Forderungen, welche die Reformatoren Mitteleuropas ins Baltikum transportierten, eine Reihe bedeutsamer und langfristiger, struktureller Veränderungen mit sich, die bis heute noch zu einem Großteil sichtbar erhalten geblieben sind und wesentlich zur weiteren Entwicklung der Region beitrugen. Auf der anderen Seite stellte die Komplexität der dort etablierten Strukturen die Reformatoren vor große Herausforderungen.
Die vorliegende Seminararbeit soll diese vielschichtigen Transformationsprozesse in der besagten Region nachvollziehbar darlegen. Hierzu wird zunächst auf die mittelalterliche Stadt zu Beginn der Reformation unter besonderer Berücksichtigung der stadtspezifischen Voraussetzungen für die Transformation der Konfessionstopografie eingegangen. Als konkrete Vergleichsgröße wird die Reformationsgeschichte der ersten Jahrzehnte in der Hansestadt Riga herangezogen, um bestimmbare Gemeinsamkeiten, die als typisch für diese Zeit gelten können, und ortsspezifische Unterschiede herauszuarbeiten und zu veranschaulichen. Letzteres folgt im abschließenden Kapitel dieser Arbeit.
Darauffolgend wird auf die Frühphase der Verlaufsgeschichte der Reformation in den estnischen Städten Reval und Dorpat in Nordlivland eingegangen und die Umstrukturierungsprozesse in Dorpat in einen größeren, regionalen und städteübergreifenden Kontext gestellt werden, der Livland seit 1522 umfassen soll, dem Jahr in dem sich die Reformation im Baltikum konkret durchzusetzen begann,3 wobei der Beginn der Reformation in Estland erst kurze Zeit später in das Jahr 1523 fällt und in Dorpat auf 1526 datiert wird.
Ferner ist zu erwähnen, dass für die verschiedenen baltischen beziehungsweise livländischen Ortsbezeichnungen, um der Einheitlichkeit und Verständlichkeit willen, die baltendeutschen Namensentsprechungen der Moderne gewählt werden. Dies entspricht ebenfalls der gegenwärtigen sowie jüngeren und jüngsten Forschungstradition deutscher Historiker. So könnte der ursprüngliche Name der heutigen estnischen Stadt Tartu auf das altestnische Tarbatu zurückzuführen sein. Es liegt demnach nahe, dass das lettische Tērbata, russische Derpt sowie das deutsche Dörpt oder eben Dorpat sowie das neolateinische Tarbatum, allesamt den ursprünglichen altestnischen Namen phonetisch zu adaptieren versuchten und es so zur linguistischen Genese dieser mehr oder weniger ähnlich klingenden Namen kam.4 Bereits die Tatsache der vielen verschiedenen und vielsprachigen Namensvariationen, ist ein aussagekräftiges Indiz, das auf eine äußerst wechselhafte Geschichte hindeutet.
Zum aktuellen Forschungsstand ist im Allgemeinen zu sagen, dass die Reformations- und Landesgeschichte unter deutschen Historikern recht kurz gekommen ist und der Fokus eindeutig auf anderen, trotz dessen bemerkenswerterweise nicht unbedingt deutschsprachigen, Regionen Europas lag. Bisher konzentrierte sich die Reformationsforschung mit dem Schwerpunkt der Stadtgeschichte vielmehr auf den oberdeutschen Raum und, historiografisch später, auf das zunehmende Phänomen der sogenannten „Fürstenreformation“5 von oben im Sinne des Prinzips des Ius reformandi, des cuius regio, eius religio. Auf der anderen Seite wird wohl ebenso die zeitgenössische Demografie Livlands eine Rolle bei der Relevanz des Forschungsthemas Stadtreformation gespielt haben, denn lediglich eine Minderheit, der rund 20 Siedlungen im Livland des ausgehenden Mittelalters verfügten über ein Stadtrecht und waren zu einem Großteil von der indigenen Bevölkerung bewohnt, während deutschsprachige Bürger nominal in der Minderheit waren.6
1. Die mittelalterliche Stadt zu Beginn der Reformation
In diesem Kapitel werden die städterechtlichen Rahmenbedingungen und kulturspezifischen sowie soziologischen Grundeigenschaften der spätmittelalterlichen Stadt skizziert, welche die Reformationsprozesse im städtehistorischen Kontext auf diese Weise erst ermöglichten. Genannt seien nachfolgend die oft aufgeführten – und unstrittig äußerst bedeutsamen – Grundvoraussetzungen der städtischen Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts: Zum einen ist das relativ hohe Maß an politischer, rechtlicher und faktischer Autonomie innerhalb des Reichsverbunds und der quasi-Status als eigener Stand sowie die überdurchschnittlich hohe Bildungskonzentration und Alphabetisierungsquote in den Städten zu erwähnen. Jedoch können diese beiden Merkmale, Autonomie und hohes Bildungsniveau, besonders im Hinblick auf die norditalienischen Städte, die diese Merkmale ebenso aufwiesen, deren Bewohner das römisch-katholische Bekenntnis allerdings nie ablegten, nicht einzig und allein die Reformation bedingt haben oder ihre hauptsächlichen Katalysatoren gewesen sein.7 Die These des Historikers Berndt Hamm hierzu lautet: „Nicht in der Autonomie der Städte an sich lag ihre spezifische Bedeutung für die Reformation, denn autonom waren auch die Fürsten und Reichsritter.“ 8 Ihr ist insofern zu widersprechen, als dass Reichsritter und viele Reichsfürsten, die ebenfalls als reichsunmittelbar galten, gerade aus diesem Grund an ihrem Bekenntnis festhielten. Sie genossen zwar weitgehende Autonomie, wie die Städte, mediate Reichs- und Landstände oder de facto souveräne Landesherren, standen jedoch trotzdem in einem unmittelbaren, gegenseitigen Treue- und Abhängigkeitsverhältnis zum Kaiser und waren der Sanktionierungs- und Maßregelungsbefugnis der Reichsinstitutionen daher direkt ausgesetzt. Ein Bruch dieses Verhältnisses hätte demnach erhebliche und empfindliche Nachteile zur Folge haben können.
Um eine ungefähre und summarische Definition der mittelalterlichen Stadt im soziologischen Sinne zu geben, die dem Umfang der vorliegenden Arbeit gerecht wird, ist es ratsam sich zunächst des vielzitierten Soziologen Max Weber zu bedienen, der das komplexe und reziproke Beziehungsgeflecht der definitorischen Säulen einer Stadt kurz und prägnant wiederzugeben in der Lage ist. Demnach sind für eine Stadt unerlässlich:
„3. eigenes Gericht und mindestens teilweise eigenes Recht 4. Verbandscharakter und damit verbunden 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung der Behörden, an deren Bestellung die Bürger als solche irgendwie beteiligt waren.“ 9
Wie bereits an vorheriger Stelle erwähnt, ermöglichte es also die Rechtsumgebung einer mindestens teilweisen Autonomie und der Verbandscharakter als städtische und bürgerliche, das heißt rechtsgleiche Entität, die Reformation strukturell und organisatorisch in der Stadt auch in realiter einzuführen. Dabei war die Wahrung des innerstädtischen Friedens, neben dem Schutz der bürgerlichen Freiheiten und Rechte auf Partizipation und gleichen Status, eine der vornehmlichen Aufgaben der städtischen Autoritäten, meist in Gestalt des Stadtrates. Innere Konflikte bedeuteten immer auch nach außen hin angreifbarer zu sein, sodass der Landes- und eventuell der Stadtherr die Autonomierechte der jeweiligen Stadt ernstlich bedrohen könnte. Das Gelingen dieser ständigen Aufgabe war der Anspruch an eine legitime Ratsherrschaft, die legal durch ein kodifiziertes Ratswahlverfahren zustande gekommen sein musste, an der sie infolge auch gemessen wurde.10 Diesem Umstand, nicht nur den Rechtsfrieden, sondern damit verbunden auch den tatsächlichen physischen Friedenszustand zu wahren, kommt bei der Einführung der Reformation in Dorpat eine nicht zu unterschätzende Rolle zu.
Das Selbstverständnis der Stadtgesellschaft erstreckte sich jedoch weit über die rechtlich-politische Ebene hinaus. Der geistlich-religiöse Aspekt stellte ebenso einen wichtigen Einflussfaktor auf das Selbstbild der städtischen Gemeinschaft dar, denn die im europäischen Mittelalter ohnehin bereits äußerst bedeutsame Funktion christlicher Religiosität, die sich in mannigfaltigen sozialen Ritualen ausdrückte, war von großer Bedeutung für die städtische Gesellschaft. So nahmen zum Beispiel verschiedene Korporationen, wie Gilden, Zünfte, Bruderschaften oder der Stadtrat, ihre jeweilige Position in der Stadthierarchie repräsentierend, zu kirchlichen Feiertagen an Prozessionen durch die Stadt teil. Dadurch kam dem Glauben neben seiner persönlich-spirituellen Funktion ebenfalls die Rolle des Ausdrucksmediums genossenschaftlich-korporativer Organisation und Arbeitsteilung zu. Auch Mönchsorden wie die Benediktiner oder Dominikaner waren ursprünglich städtische Orden, die in der Stadtgemeinschaft wichtige seelsorgerische Tätigkeiten wahrnahmen.11
Der Historiker Bernd Moeller spricht daher sogar, dafür allerdings vielkritisiert, von einem sogenannten „corpus christianum im Kleinen.“ 12 Dagegen und gegen die Annahme eines partikular christlich geprägten bürgerlichen Wertekanons einer Stadt ließe sich beispielsweise die nur bedingt mögliche Integration des Klerus in den städtischen Rechtsrahmen anführen. Dieser unterstand, genau wie alle anderen mit einer Rechtsfrage der Geistlichkeit Befassten, einer eigens geschaffenen Kirchengerichtsbarkeit mit eigenen Regularien im Sinne des privilegium fori.
Auch die Stiftskirchen, Kommenden geistlicher Orden sowie die Domfreiheit standen außerhalb des städtisch-bürgerlichen Rechtssystems. Des Weiteren war der Klerus mit Beschluss des privilegium immunitatis auf dem III. Laterankonzil im Jahre 1179 von der städtischen Steuerpflicht befreit. Viele Bürger der frühneuzeitlichen Stadt nahmen diese Sonderstellungen zunehmend als unverhältnismäßige und daher unstatthafte Überprivilegierung wahr. Auch der luxuriöse und in Teilen dekadente und verschwenderische Lebensstil des zweiten Standes barg großes Potenzial für Missgunst, Neid und offen artikulierten verbalen oder sogar physisch ausgetragenen Konflikt.13
Neben dem ambivalenten Verhältnis zwischen Klerus und Stadtgemeinschaft ist, wie eingangs bereits erwähnt, die Kommunikationsstruktur und die Art und Weise des Wissenstransfers eine weitere wichtige Grundvoraussetzung für die städtische Reformation. Zum einen waren Städte aufgrund ihrer räumlichen Dichte Knotenpunkte der Kommunikation und zum anderen pflegten die geistlichen wie weltlichen Würdenträger, Orden, Universitäten und gebildete Einwohner, die von einer Stadt beherbergt wurden, regen schriftlichen Informationsaustausch mit- sowie untereinander. Die Alphabetisierungsquote zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist schwer zu ermitteln und erlaubt nur grobe Schätzungen, da lediglich die entsprechenden institutionalisierten Bildungseinrichtungen wie beispielsweise Lateinschulen oder Universitäten und ihre Besucher quellenhistorisch auswertbar sind und deshalb nur wenig Aufschluss über den Entwicklungsstand der spätmittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen Gesellschaft bieten können. Schätzungen hierzu schwanken zwischen 10% und 50%,14 aufgrund der geografischen Randlage Livlands in Europa und des vergleichsweise rudimentären Kontakts zur lateinischen oder jedweden anderen Schriftsprache, zumindest der angestammten Bevölkerung, ist aber anzunehmen, dass die Alphabetisierungsrate grundsätzlich konservativ einzuschätzen und zu kalkulieren ist. So erschien erst infolge der durch die Reformation angestoßenen Bildungsrevolution, während der es auch zu zahlreichen Schulgründungen kam, das erste Buch in estnischer Sprache.15 Es handelte ich dabei um einen lutherischen Katechismus, verfasst von Simon Wanradt (1500-1567) und Johann Koell (gestorben 1540) – nur acht Jahre nach der Perfektionierung des frühneuzeitlichen Buchdruckverfahrens.16
Allerdings ist die Bedeutung der Alphabetisierung der Bevölkerung insofern zu relativieren, als dass neben den, ohnehin meist illustrierten, Druckschriften und Flugblättern als den klassischen Informationskanälen der Zeit, das Hörensagen naturgemäß zu einer schnellen Verbreitung von Neuigkeiten und Informationen bis nach Livland beitrugen. Doch beim Lesen, besser gesagt bei der Methode des Vorlesens, handelte es sich immer auch um ein soziales Ereignis, bei welchem die reformatorischen Ideen Luthers in äußerst kurzer Zeit einer Vielzahl von Menschen, eben meist in den dichter besiedelten Städten als in ruraler Umgebung, vermittelt werden konnte. Darüber waren sich die Herausgeber solcher Schriften ebenfalls im Klaren. So heißt es auf einer Flugschrift aus dem Jahre 1524: „Lieber Leser, kannst nit lesen, so such Dir einen jungen Mann, der Dir diesen Text vorleset.“ 17
Das wichtigste, weil theologisch zentralstes, Kommunikationsmedium der Reformation, die Predigt, darf indes nicht unerwähnt bleiben. Meist handelte es sich bei den Predigern und Pastoren um sogenannte Weltgeistliche oder auch Angehörige verschiedener Orden, die auf Durchreise Städte passierten und dort je nach Resonanz der Predigt des Evangeliums im Sinne Luthers entweder verblieben oder weiterzogen, sollte die Heilsverkündung auf unfruchtbaren Boden oder Widerspruch stoßen. Neben diesen traten allerdings auch ortsansässige und sozusagen hauptamtliche Prediger wie Vikare, Prädikanten oder Pfarrherren auf den Plan, welche sich künftig auf die Lehren Luthers bezogen und das Schriftevangelium in seinem Sinne predigten. Ein weiteres Phänomen, das im Zuge des Fortschreitens des Reformationsprozesses – auch in Livland und im Baltikum überhaupt – immer häufiger auftritt, allerdings als im Grunde unlutherisch gelten muss, ist die Laienpredigt. Luther erkannte zwar das evangelische Prinzip der Priesterschaft aller Getauften als solche an, da Christus sich und seine Botschaft den Menschen als solcher offenbarte, wollte die Exegese auf der Kanzel aber weiterhin ausgebildeten Theologen, also ordinierten Pfarrern überlassen, um die Einheit der rechten Lehre zu wahren. Die Laienpredigt ist daher vielmehr als ein reformiertes Phänomen und kein per se lutherisches einzuordnen. Es sind besonders Vertreter humanistischer Zirkel, jedoch vor allem in den Hansestädten Kaufleute, die als solche Laienprediger aufgrund ihrer hohen Mobilität im intensiven interregionalen Informationsaustausch mit vielen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen standen.18 Auf diese Weise wirkten sie katalytisch auf den Reformationsprozess im Ostseeraum.
2. Rechtliche Voraussetzungen
Eine weitere wichtige Voraussetzung, welche die Reformation im Allgemeinen begünstigte, beziehungsweise gegenreformatorische Maßnahmen vorerst beschränkte, war die teilweise Relativierung des Wormser Edikts vom 8. Mai 1521 durch Beschluss des Reichsregiments vom 20. Januar 1522. Das Wormser Edikt folgte der päpstlichen Bannbulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521, die Martin Luther exkommunizierte und ihn mit dem Kirchenbann belegte. Dies zog eo ipso die Reichsacht nach sich, die jedoch auf Grundlage der Wahlkapitulation Kaiser Karls V. von 1519 in einem formal korrekten Verfahren auf einem Reichstag gesondert beschlossen werden musste. Des Weiteren verbot das Wormser Edikt die Lektüre sowie Verbreitung der Schriften Luthers im gesamten Reichsgebiet.
Das Reichsregiment auf dem Nürnberger Reichstag jedoch erließ ein Moratorium der Bestimmungen des Wormser Edikts, welches durch den Kaiser lediglich aufgrund der es beinhaltenden Reichsacht nicht ohne die Reichsstände per Dekret beschlossen werden konnte. Demgemäß heißt es im Beschluss des Reichsregiments, das zwar vorerst nur im Kurfürstentum Sachsen Geltung haben sollte, „solang durch vorsehung der gemeinen reichsstend ernstliche versamlung oder consilia solcher sachen halber ein bedechtliche, wolerwogene, gegrunte, gewisse erklerung, entorterung und derminaz furgenommen und beslossen werde.“ 19 Dies schuf zumindest die theoretische Möglichkeit, eine Lösung des Konfliktes zwischen Ketzerei und Treue zu Rom auszuhandeln.20 Der Reichstag in Nürnberg erweiterte am 9. Februar 1523 diesen Beschluss insofern, dass „das heilig evangelium nach auslegung der schriften von der christlichen kirchen approbirt und angenomen gepredigt werden dürfe“ und fortan von Sachsen auf das ganze Reich ausgeweitet wurde.21 Es war daher zwar noch immer verboten Luthers Werke zu verbreiten oder zu studieren, jedoch durfte das Evangelium vonseiten der Reichsinstitutionen von nun an „in seiner reinen Form“ 22 verbreitet werden.
Nach der Erhebung Wolter von Plettenbergs, des Landmeisters des Deutschen Ordens in Livland, in den Stand eines Reichsfürsten 1529 und damit zum Vasall Kaiser Karls V., wurde das Land zwar erst im Jahre 1530 auf dem Augsburger Reichstag zum Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches erklärt, jedoch eröffneten sich durch die Beschlüsse des Reichregimentes und des Reichstages, die das Evangelium und seine Auslegung bis zu einem gewissen Maße zur Disposition und Diskussion stellten, eine Reihe neuer Möglichkeiten für die Städte und ihre exekutiven und administrativen Institutionen.
Zwar wurde das Wormser Edikt auf dem Reichstag zu Speyer erneut bekräftigt, faktische Wirksamkeit erlangte es jedoch nur in den katholischen Territorien des Reiches. Die Städte und Fürsten des Reiches sahen sich bis 1523 einem permanenten Zustand des Mangels and Rechtssicherheit gegenüber, was die Frage nach der „schriftgemäßen Predigt“ anbelangte. Nachdem vom Reichsregiment die Einsetzung eines Konzils zur Klärung dieser Frage vorgeschlagen wurde, unterband der Kaiser ein solches mit dem sogenannten Edikt von Burgos. In einem am 30. September 1523 verfassten Schreiben räumte der Kaiser Missverständnisse über den Geltungsbereich des Edikts aus, indem Karl V. ein solches Konzil generell und nicht nur bezüglich der Causa Lutheri untersagte.23
Auf Grundlage des erweiterten Moratoriums des Reichstags zu Nürnberg begannen die Städte im Reich, um des Religionsfriedens willen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mit dem Instrument der Disputation eine Klärung des städtischen Bekenntnisses zu erreichen. An diesen Disputationen nahmen im Zeitraum von 1524, erstmals in Mühlhausen (Elsass), bis 1532, letztmalig in Lüneburg, auf Einladung des jeweiligen Stadtrates die Bürger als Gemeinde in der Stadtpfarrkirche oder im Rathaus teil. Dies ging jedoch oftmals mit einer Vielzahl an praktischen Konsequenzen einher. Wenn es einer Stadt infolge eines Übertritts zu einem protestantischen Bekenntnis nicht gelang, das kirchliche Stellenbesetzungsrecht, auch als Kollatur bekannt, als Teil der Patronatsrechte durch käuflichen Erwerb zu erlangen, dann mithilfe illegaler Usurpation und Zwang. So konnten die Patronatsherren in Person des Bischofs oder des Stiftskapitels die Auszahlung der Pfründe verweigern und die neubesetzte Stadtpfarrkirche wirtschaftlich unter Druck zu setzen, um auf diese Weise die Kollatur an sich zu bringen.24
In unmittelbarer Folge dieser Entwicklungen erließen immer mehr reformierte Städte Kirchen- und Gottesdienstordnungen (Agenden), demnach weltliche Reglements, in denen der Ritus und die Liturgie sakraler Handlungen spezifisch geregelt wurden. Diese unterschieden sich nach Region und der Art des evangelischen Bekenntnisses nach entweder reformierter, lutherischer oder anderer Lesart der Bibelexegese. Die Städte nahmen damit seitdem proaktiv am Gestaltungs- und Etablierungsprozess der Reformation teil.25
3. Einführung der Reformation und Konfessionalisierungsprozess in Riga, Reval und Dorpat
3.1. Riga
Den Ursprung der Reformation in Livland bildete die Hansestadt Riga, die größte und einflussreichste Stadt im Baltikum, die dem Epizentrum der Reformation am nächsten gelegen war. Für tumultartige und weniger friedliche Auseinandersetzungen im Zuge des Beginns der Reformationsphase wurde Riga, ebenso wie Dorpat und Reval, historisch bekannt. Als die Stadtbewohner im Jahre 1520 durch den Prediger Sylvester Tegetmeyer, der selbst aus Riga stammte, zum ersten Mal in Kontakt mit den reformatorischen Lehren Luthers gebracht wurden, sorgte dies in der Folge für erste Differenzen zwischen den Bürgern untereinander, dem ansässigen Deutschen Orden und dem Erzbischof von Riga.26 Diese Auseinandersetzungen wurden zunächst verbal und im Rahmen dessen, was zuvor als Begriff der Disputation eingeführt wurde, zum Ausdruck gebracht. Eine solche veranstaltete zum Beispiel Andreas Knöpken im Juni 1522 in der Petrikirche, wo der Priester 24 von ihm aufgestellte Thesen vorstellte.27
Die Situation eskalierte im Jahre 1524 und es kam zu Bilderstürmen auf katholische Symbole und Ikonografie. Die Rigaer Gilde der Schwarzhäupter zum Beispiel zerstörte nahezu sämtliche Objekte von Wert in ihrer eigenen Kapelle, der St. Petri Kirche, die eine römisch-katholische Konnotation der Heiligen- oder Götzenanbetung, wie der protestantische Vorwurf lautete, aufwiesen. In Reval und einigen weiteren Städten Livlands kam es zu vergleichbaren Geschehnissen.28
[...]
1 Vgl. Simon, Edith: Great Ages of Man: The Reformation. New York 1966. S. 120 f.
2 Vgl. Rimestad, Sebastian (Hrsg.): Reformation in Nordosteuropa (Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V. an der Universität Hamburg. Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 25) Lüneburg 2016. S. 5
3 Vgl. https://www.museeprotestant.org/de/notice/le-protestantisme-dans-les-pays-nordiques-2/ (letzter Zugriff: 06.02.2019, 16:47 Uhr).
4 Vgl. Selart, Anti; Thumser Matthias (Hgg.): Livland – Eine Region am Ende der Welt? Forschungen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie im späten Mittelalter. (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 27). Köln 2017. S 6.
5 Vgl. Pabst, Martin: Riga als Beispiel für Städtereformation in Nordosteuropa. In: Rimestad, Sebastian (Hrsg.): Reformation in Nordosteuropa (Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V. an der Universität Hamburg. Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 25) Lüneburg 2016. S. 21.
6 Vgl. a.a.O. f.
7 Vgl.a.a.O. S. 21.
8 Vgl. Hamm, Berndt: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation. Göttingen 1996. S. 89.
9 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Bd. 5: Die Stadt, Tübingen 1999. S. 84 f.
10 Vgl. Pabst: Städtereformation in Nordosteuropa. Lüneburg 2016. S. 23 f.
11 Vgl. a.a.O. S. 24.
12 Vgl. a.a.O. S. 24 f.
13 Vgl. a.a.O. S. 25.
14 Vgl. Endres, Rudolf: Städtische Kultur und Staat. Das Bildungswesen und die Kulturpflege in den fränkischen Städten. In: Bulst, Genet (Hrsg.): La ville, la bourgeoisie et la genèse de l’État moderne. (XII.-XVIII. Siècles). Paris 1988. S. 324.
15 Vgl. Laar, Mart: Streifzug durch die estnische Geschichte. Tallinn 2017. S. 14.
16 Vgl. Taagepera, Rein: Estonia. Return to Independence. Oxford 1993. S. 22.
17 Siehe Füssel, Stephan: Klassische Druckmedien in der Frühen Neuzeit. In: Burkhardt, Johannes; Werkstetter, Christine (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005. S. 57 und vgl. Hohenberger, Thomas: Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521-22. Tübingen 1996. S. 63.
18 Vgl. Pabst: Städtereformation in Nordosteuropa. Lüneburg 2016. S. 26 f.
19 Zit. nach Gess, Felician (Hrsg.): Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 1 1517-1524. Leipzig 1905. S. 252.
20 Vgl. Pabst: Städtereformation in Nordosteuropa. Lüneburg 2016. S. 28.
21 Zit. nach Wrede, Adolf (Hrsg.): Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe, Bd. 3. Gotha 1901. S. 448-452, S. 474 f.
22 Anm.: Das heißt ohne Modifikationen und menschlich hineininterpretierte Zusätze, wie etwa durch Beschlüsse des Heiligen Stuhls.
23 Vgl. Pabst: Städtereformation in Nordosteuropa. Lüneburg 2016. S. 29; Kohnle, Armin: Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden. Gütersloh 2001. S. 223 u. 247.
24 Vgl. Pabst: Städtereformation in Nordosteuropa. Lüneburg 2016. S. 29 f.
25 Vgl. a.a.O. S. 30 f.
26 Vgl. Spekke: History of Latvia. Riga 2006. S. 166 f.
27 Vgl. Wittram, Reinhard: Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland und Kurland 1180-1918. In: Geschichte der Völker und Staaten. München 1954. S. 60; Schmidt, Christoph: Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland. Göttingen 2000. S. 202, 168.
28 Vgl. Manning, Clarence A.: The Forgotten Republics. New York 1952. S. 61 f.