In der Arbeit wird das organisationstheoretische Konzept der Machttaktiken sowie ihre Anwendung anhand eines Beispiels aus der wirtschaftlichen Praxis erläutert. Dazu wird zunächst das Phänomen der Macht untersucht und "Macht" begrifflich definiert. Ferner wird der machttheoretische Ansatz als Ganzes betrachtet, wobei die Grundlagen von Macht eine zentrale Rolle spielen werden.
Anschließend soll auf die Machttaktiken eingegangen werden, indem diese abgegrenzt und dann systematisiert werden. Im zweiten Teil der Arbeit wird der Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn AG 2007 untersucht. Nach einer Darstellung der Grundlagen und Machtverhältnisse in diesem Streit erfolgt die Untersuchung hinsichtlich der zuvor aufgezeigten Machttaktiken.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2 Machttaktiken und ihre Einbettung in den Machttheoretischen Ansatz
2.1 Der Machttheoretische Ansatz
2.1.1 Das Phänomen der Macht
2.1.2 Machtbasen
2.1.3 Relevanz von Machttaktiken
2.2 Machttaktiken
2.2.1 Abgrenzungen von Machttaktiken
2.2.2 Einteilung und Ordnung der Machttaktiken
2.2.3 Der Begriff „Mikropolitik“
3. Der Tarifstreit bei der Deutschen Bahn AG als Praxisbeispiel
3.1 Grundlagen des Konflikts
3.2 Machtverhältnisse
3.3 Analyse der Machttaktiken im Tarifstreit
3.3.1 Zwang und Druck
3.3.2 Belohnung
3.3.3 Einschaltung höherer Autoritäten
3.3.4 Rationales Argumentieren
3.3.5 Koalitionsbildung
3.3.6 Persönliche Anziehungskraft
3.3.7 Idealisierung und Ideologisierung
3.3.8 Weitere Taktiken und Mischtaktiken
4. Abschließende Betrachtung
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
In der vorliegenden Seminararbeit sollen das organisationstheoretische Konzept der Machttaktiken sowie ihre Anwendung anhand eines Beispieles aus der wirtschaftlichen Praxis erläutert werden. Dazu wird im ersten Teil das Phänomen der Macht untersucht und „Macht“ begrifflich definiert. Ferner wird der machttheoretische Ansatz als Ganzes betrachtet, wobei die Grundlagen von Macht eine zentrale Rolle spielen werden. Anschließend soll auf die Machttaktiken eingegangen werden, indem diese abgegrenzt und dann systematisiert werden. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird der Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn AG untersucht. Nach einer Darstellung der Grundlagen und Machtverhältnisse in diesem Streit, erfolgt die Untersuchung hinsichtlich der im ersten Teil aufgezeigten Machttaktiken. Die Arbeit endet mit einer kurzen, abschließenden Betrachtung.
2. Machttaktiken und ihre Einbettung in den Machttheoretischen Ansatz
2.1 Der Machttheoretische Ansatz
2.1.1 Das Phänomen der Macht
Obwohl das Phänomen der Macht allgegenwärtig und die Grundlage sozialer Beziehungen ist, haben machttheoretische Sichtweisen, wegen der allgemein negativen Belegung des Begriffs „Macht“, in der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre eine weitgehend untergeordnete Stellung inne.1 2
Gleichwohl ist eine machttheoretische Organisationsbetrachtung unabdingbar, denn in jeder Organisationsstruktur existieren Freiräume, welche die einzelnen Akteure zu kontrollieren versuchen, um ihre eigene Politik durchzusetzen und innerhalb der Organisation die größt- mögliche Handlungsfreiheit zu haben. Folgerichtig beinhaltet jede Organisation auch Macht- kämpfe.3
Allerdings stellt sich die Frage einer sauberen Definition des Begriffs „Macht“: Etymologisch entspringt Macht dem Verb „vermögen“, im Sinne von „können“ und ist somit nicht aus dem Wort „machen“ entstanden.4 Daher umschreibt Macht nichts anderes als die Möglichkeit, etwas zu tun. Dahl (1959) macht die Definition abhängig vom Kontext der jeweiligen Theorie und stellt Macht grundlegend als Beziehung zwischen Menschen dar, Zajac/Astley (1991) unterscheiden zwischen Ressourcen-, System- und Prozessmacht und Neuberger (1995a) verweist auf Deskriptoren, welche „Macht“ als mehrwertigen Term darstellen.5 6 7
In den Theorien der Organisationslehre fällt immer wieder Webers Begriffsbestimmung, wonach Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“ ist. Zwar bleibt Macht trotz allem ein vager Begriff, doch als grundlegender Konsens ist Webers Definition uner- lässlich.8
Mindestens genauso wichtig wie die Definition ist eine saubere Abgrenzung gegenüber dem Begriff „Einfluss“: Einerseits wird in der bereits erwähnten Etymologie angeführt, dass Macht die Möglichkeit der Einflussnahme beschreibt. Gemäß einer anderen, gleichsam bedeutenden Abgrenzung deckt sich Einfluss stets mit den Interessen des Untergeordneten, Macht kann man jedoch zusätzlich gegen dessen Vorlieben ausüben.9
2.1.2 Machtbasen
Da betriebswirtschaftliche Machttheorien kaum existieren, ist es sinnvoll, bereits bestehende Machttheorien der Sozialwissenschaften systematisch nach betriebswirtschaftlich relevanten Ansätzen zu untersuchen. Daraus wird ersichtlich, dass die Machttheorie als solche eine Zusammensetzung vieler Bestandteile anderer Theorien ist, die selber einen Bezug zu Macht haben, so beispielsweise die Feldtheorie oder die Kontingenztheorie.10
Zentral ist im Rahmen der Machttheorie die Frage, worauf sich Macht begründet.11 12 Diese Machtquellen, -ressourcen oder -basen unterscheiden sich je nach Verfasser in ihrer Fülle und doch kann man als eine Art „roten Faden“ die Typologie von French/Raven (1959) wieder erkennen, nicht zuletzt, weil auf sie zahlreich verwiesen wird. Gemäß French/Raven besitzt der Machtausübende (O) fünf mögliche Quellen, aus denen er seine Macht gegenüber dem zu Beeinflussenden (P) schöpfen kann:
a) Belohnungsmöglichkeiten (O kann P belohnen),
b) Bestrafungsmöglichkeiten (O kann P bestrafen),
c) Legitimation (gemäß P's Werten hat O das Recht, P gegenüber Macht auszuüben),
d) Identifikation (P sieht in O ein Vorbild und/oder identifiziert sich mit O),
e) Sachkenntnis (P akzeptiert, dass O über mehr Wissen verfügt).13
Raven (1965) selbst fügt die Möglichkeit, Information zu transferieren, als weitere Machtbasis hinzu und Wolf (2005) fasst Belohnungs- und Bestrafungsmöglichkeiten zusammen.14 Crozier/Friedberg nennen, neben spezifischem Sachwissen und Spezialisierung, Kontrolle von Information sowie Kommunikation und generellen Regeln, Einfluss auf die Umweltgestaltung als mögliche Machtbasen.15
Obwohl es also Sinn machen kann, Erweiterungen vorzunehmen, soll dies hier nicht geschehen, gerade, weil die Typologie von French/Raven (1959) die am weitesten verbreitete Einordnung ist.16 Aufgrund dessen soll auch Kritik, wie beispielsweise von Sandner (1990) bezüglich Aufbau, Abgrenzung und Kausalitätsverständnis, nicht weiter verfolgt werden.17 18
2.1.3 Relevanz von Machttaktiken
Auffällig ist im Rahmen der machttheoretischen Literatur, dass es zwar viele Hinweise auf die Basen von Macht, jedoch nur verhältnismäßig wenig systematische Handlungsempfehlungen gibt. Diese werden insbesondere von Neuberger (1995a und 1995b) und Buschmeier (1995) als Machttaktiken, welche auf Grundlage der Machtbasen die Machtbeziehung vermitteln und diese Ressourcen stärken, aufgegriffen und im Folgenden erläutert.19 20
2.2 Machttaktiken
2.2.1 Abgrenzungen von Machttaktiken
Eine wichtige Abgrenzung, um sich Machttaktiken zu nähern, ist die zwischen Haltung, Strategie und Taktik, wobei erstgenannte auf den Charakter und die Persönlichkeit abzielt und die höchste Ebene einer Tat darstellt. Je nach Situation und Person werden dann einer Strategie folgend einzelne Taktiken gebündelt eingesetzt. Somit sind Strategien fundamentaler und Taktiken situationsspezifischer, allerdings ist der Unterschied eher gering.
2.2.2 Einteilung und Ordnung der Machttaktiken
In der relevanten Literatur findet sich eine Vielzahl von verschiedenen Machttaktiken, teils, weil fortwährend neue Taktiken erdacht werden und teils, weil viele Autoren gleiche Taktiken 21 anders kennzeichnen und somit den Eindruck erwecken, es handele sich um neue Taktiken.21 22 Die wohl ersten und zugleich allgemein bekanntesten Handlungsanweisungen dürften von dem italienischen Philosophen und Politikers Niccolo Machiavelli stammen; da sie jedoch eher idealtypischer Natur und nach heutiger Sichtweise unmoralisch sind, soll auf sie nicht weiter eingegangen werden. Trotzdem kann man machiavellistisches Verhalten im eigentli- 22 chen Sinne ansatzweise oft beobachten.
Neuberger (1995b) gibt eine Zusammenfassung der im Schrifttum existierenden Taktiken und ordnet sie. Ihm zufolge bestehen sieben Hauptgruppen von Machttaktiken:
a) Zwang und Druck. Seiner Machtbasis entsprechend bestraft oder bedroht der Machtausübende den Beeinflussten oder entzieht ihm einen Vorteil, wobei der Beeinflusste keine Möglichkeiten haben darf, sich dem Machtausübenden zu entziehen.
b) Belohnung. Auch hier ist der Bezug zur Machtbasis evident, doch anders als die sehr asymmetrische Tauschbeziehung im Fall a) liegt hier ein für beide günstiger Tausch vor. Der Beeinflusste leistet und erhält dafür vom Machtausübenden das Recht auf ein Gut der Begierde, vorausgesetzt, der Tausch ist ex ante garantiert.
c) Einschaltung höherer Autoritäten. Der Machtausübende wird durch Personen, Prinzipien oder Institutionen autorisiert, die sowohl der Ausübende als auch der Beeinflusste in ihrem Ordnungs- und Wertesystem als hierarchisch hochrangiger ansehen. Die Machtquellen hier sind Sachkenntnis und Legitimation.
d) Rationales Argumentieren. Diese, gemäß Umfragen in der Wirtschaftspraxis am häufigsten gebräuchliche Taktik, basiert auf Sachkenntnis. Der Beeinflusste erkennt den Machtausübenden bezüglich der Lösung von Problemen als sachlich fähiger an, vorausgesetzt, das Problem kann überhaupt rational angegangen werden.
e) Koalitionsbildung. Um individuellen Nutzen zu ziehen, wird ein kalkuliertes Zweckbündnis geschlossen, in dem die Individuen nicht gleiche Interessen haben müssen, ihren Vorteil aber rational berechnen, und welches sich damit von den sozio-emotionalen Taktiken „Persönliche Anziehungskraft“ und „Ideologisierung“ abgrenzt. Beispiele für derartige Koalitionen sind Netzwerke.
f) Persönliche Anziehungskraft. Der Beeinflusste bewundert den für ihn attraktiven und persönlich anziehenden Machtausübenden und/oder identifiziert sich mit ihm. Basierend auf der Quelle der Identifikation, tritt eine Transformationsbeziehung an die Stelle einer rationalen Tauschbeziehung - der Mächtige transformiert die Persönlichkeit des Beeinflussten.
g) Idealisierung, Ideologisierung. Der Machtausübende schafft scheinbar uneigennützig Ziele, Visionen und Ideale, die den Beeinflussenten begeistern sollen. Da der Machtausübende jedoch selbst ideologisiert, vergrößert er seine Macht auf den Idealismus. Indem sie ohne Ressourcen auskommt, der Beeinflusste intrinsisch motiviert ist sowie das Ziel selten erreichbar und folglich die Macht unendlich ist, stellt 23 diese Taktik eine sehr wirtschaftliche Form dar.23
Diese sieben Hauptgruppen werden von Wolf (2005) um Mischformen und weitere, in der relevanten Literatur aufgezeigten Taktiken ergänzt. Dazu gehören:
a) das Schaffen vollendeter Tatsachen, sodass der Beeinflusste keine Alternative hat,
b) das Emotionalisieren und Dramatisieren,
c) das „Impression Management“, eine überhöhte Selbstdarstellung des Mächtigen,
d) das Aktivieren sozialen Drucks,
e) das Indoktrinieren und Dogmatisieren,
f) das Wirken als Vorbild, damit der Beeinflusste es nachmacht,
g) das Vormachen einer Schein-Mitbestimmung,
h) die Schmeichelei und Heuchelei,
i) das bewusste Streuen von Falschinformationen,
j) das Treffen von Absprachen im Hintergrund des Beeinflussten,
k) das Zeigen von Kompromissbereitschaft, wenn der Beeinflusste im Sinne des Mächti- gen handelt.24
Im Folgenden soll sich insbesondere auf die Hauptgruppen nach Neuberger (1995b) und ferner auf die Erweiterungen in Wolf (2005) bezogen werden.
2.2.3 Der Begriff „Mikropolitik“
Die Thematik der Machttaktiken wird in der Literatur oft als Mikropolitik behandelt.25 Mikropolitik definiert sich im Gegensatz zur Unternehmenspolitik als der Einsatz vieler Taktiken, mit denen einzelne Personen oder Personengruppen versuchen, Macht innerhalb der Organisation aufzubauen, zu erhalten und auszudehnen. Jedoch bezieht sich Mikropolitik 27 dabei nicht auf die Machtbasen, sondern lediglich auf die Techniken der Machtausübung.
3. Der Tarifstreit bei der Deutschen Bahn AG als Praxisbeispiel
3.1 Grundlagen des Konflikts
Vorab ist es wichtig, den betrachteten Zeitraum abzugrenzen, denn aufgrund der Aktualität und den fortlaufenden Entwicklungen können sich Taktiken ändern oder als wirkungslos herausgestellt haben. Im Folgenden sollen die Ereignisse untersucht werden, die bis zum 26. August 2007 eingetreten sind.
Im Tarifkonflikt der deutschen Bahn stehen sich die „Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer“ (GdL), die Gewerkschaft „Transport, Service und Netze“ (Transnet), die „Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamter und -anwärter“ (GDBA) sowie auf Arbeitgeberseite die Deutsche Bahn AG (DB) gegenüber.26 27 28 29 30
Nach eigenen Angaben vertritt Transnet 270.000 Mitglieder im Bereich des Transportsektors und arbeitet dabei in Form einer Tarifgemeinschaft eng mit der GDBA zusammen, obwohl Transnet im Dachverband „Deutscher Beamtenbund und Tarifunion“ (dbb) und die GDBA im 29 konkurrierenden „Deutschen Gewerkschaftsbund“ (DGB) organisiert sind. Die GDBA hat 30 65.000 Mitglieder, wobei die verbeamteten Mitglieder ca. die Hälfte ausmachen. Als Tarifpartner für das Fahrpersonal organisiert die GdL knapp 62 Prozent der Lokomotivführer, Zugbegleiter und andere Fahrpersonale der Deutschen Bahn AG, dies entspricht 38.900 Mitgliedern.31 Tariflich sind 134.000 von insgesamt 229.200 DB-Mitarbeitern beschäftigt.32 Zentraler Streitpunkt ist die Forderung der GdL nach einem eigenen Tarifvertrag für das Fahrpersonal, dem Fahrpersonaltarifvertrag (FPTV).33 Nach Abbruch der Tarifverhandlungen am 19. Juli 2007 entschieden sich im Rahmen einer Urabstimmung am 6. August 2007 95,8 Prozent des wahlberichtigten Fahrpersonals zugunsten eines unbefristeten Streiks, dem bereits zwei Warnstreiks Anfang Juli vorausgegangen waren.34 Verschiedene Arbeitsgerichte untersagten die ersten Streiks auf Antrag der Deutschen Bahn, als sich jedoch die Politiker Geißler und Biedenkopf als Vermittler anboten und die GdL versprach, nicht zu streiken, hob das Nürnberger Gericht sein Verbot auf.
Die fünf Forderungen der GdL lauten:
1. Gehaltserhöhung um 31 Prozent für das Fahrpersonal,
2. Verringerung der Wochenarbeitszeit von 41 auf 40 Stunden,
3. ein verbindlicher Jahresruhetagsplan für das Fahrpersonal,
4. veränderte Regelungen bezüglich der Arbeitszeiten,
5. Verringerung der maximalen Fahrzeit ohne Pause.35 36 37 38
Transnet und die GDBA hingegen erreichten am 9. Juli 2007 einen Kompromiss in den Tarifverhandlungen, der den von ihnen vertretenen Beschäftigten eine Einmalzahlung in Höhe von €600 sowie einen Anstieg der Löhne um 4,5 Prozent garantierte. Die Deutsche Bahn AG ist strikt gegen einen eigenen Tarifvertrag der GdL, bot aber neben den mit der Tarifgemeinschaft ausgehandelten Konditionen an, verbesserte Ausbildungs- und Berufsbedingungen zu schaffen sowie externe Sachverständige zur Bewertung der Situation zu bestellen, um mit allen Gewerkschaften ein verbessertes Vergütungssystem zu erarbeiten.
Die Situation der bei der Deutschen Bahn AG angestellten Lokomotivführer wird von der GdL und den Lokomotivführern als verhältnismäßig schlecht dargestellt. Zwar wurde bis heute keinem der 60 Prozent nicht mehr verbeamteter Lokomotivführer je gekündigt, doch das Nettoeinkommen eines Lokomotivführers mit zwei Kindern liegt bei nur ca. €1600, je nach Schichtplan. Beklagt werden auch, dass Lokomotivführer oft bis zu neun Stunden durchgängig arbeiten müssen und schichtplanbedingt mehrere Tage nacheinander nicht zuhause übernachten können. Weitere psychische Belastungen resultieren aus Unfällen und Suiziden, so hat jeder Lokomotivführer statistisch ein Unglück jährlich zu verkraften.39
Im westeuropäischen und nationalen Vergleich haben die Lokomotivführer der Deutschen Bahn eines der geringsten Gehälter, das Realeinkommen aller Angestellter der Deutschen Bahn sank von 1993 bis 2007 sogar um 9,77 Prozent.40 Parallel dazu stiegen die Vorstandsvergütungen im Jahr 2007 um 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf €16,7 Mil- lionen.41 Dem gegenüber stehen jedoch geringe Anforderungen an das Fahrpersonal: Ein Haupt- oder Realschulabschluss beispielsweise genügt, um Lokomotivführer zu werden und das Fahren der Züge erfolgt größtenteils ferngesteuert.
Ein wichtiger Nebenaspekt beim Tarifstreik ist der geplante Börsengang der Deutschen Bahn AG 2008. Während im ersten Halbjahr 2007 die Bilanz besser als in den Jahren zuvor ausfiel, könnten Umsatzeinbußen durch einen Streik der Lokführer Investoren abschrecken und die Einnahmen aus Anteilsverkäufen verringern. So bewirkten alleine die Warnstreiks einen Umsatzrückgang von schätzungsweise bis zu €50 Millionen.42 43
3.2 Machtverhältnisse
Zum einen existiert eine Machtkonstellation zwischen den Gewerkschaften und der Deutschen Bahn AG, wobei GDBA und Transnet bereits einen Tarifabschluss erzielt haben.44 Damit verbleiben auf Arbeitnehmerseite die GdL und ihr gegenüber die Deutsche Bahn AG.45 Die Macht der GdL begründet sich in der Sachkenntnis ihrer Mitglieder, Lokomotiven zu führen, ohne welche die deutsche Volkswirtschaft täglich zusätzliche Kosten in Höhe von einer halben Milliarde Euro verkraften müsste.46 47 48 49 Demgegenüber kann der Vorstand der Deutschen Bahn AG Macht durch Belohnung und Bestrafung ausüben, so beispielsweise durch die Einbehaltung der Einmalzahlung, falls das Fahrpersonal sich nicht dem mit GDBA und Transnet abgeschlossenen Tarifvertrag anschließe. French/Raven (1959) entsprechend legitimiert sind im Konflikt sowohl die Deutsche Bahn AG auf Arbeitgeberseite als auch die 48 Gewerkschaften für die Arbeitnehmer.
Zum anderen wirft die Tarifgemeinschaft aus GDBA und Transnet der Berufsstandsgewerkschaft vor, das deutsche Modell der Tarifeinheit, indem ein Unternehmen nur einen Tarifpartner hat, zu hintergehen. Somit steht die GdL sowohl der Deutschen Bahn AG als auch den beiden sehr viel mitgliedsstärkeren Gewerkschaften gegenüber. Es werden Analogien zu den Gewerkschaften der Ärzten, Fluglotsen und Piloten deutlich: Dadurch, dass sie aus ihren Dachverbänden ausgestiegen sind, konnten sie für sich profitable Einzelabschlüsse durchset Damit resultiert eine dritte Konfliktkonstellation: Sollten sich die Deutsche Bahn AG und die GdL auf einen eigenen Tarifvertrag für das Fahrpersonal einigen und die Tarifeinheit hintergehen, würde dies GDBA und Transnet dazu veranlassen, aus dem im Juli geschlossenen Tarifvertrag auszusteigen und neu zu verhandeln.50
Auch in den letztgenannten, beiden Situationen ist die Machtquelle auf Seiten der Gewerkschaften gegenüber der Deutschen Bahn AG die Sachkenntnis ihrer Mitglieder, ohne die es im Unternehmen nicht weitergehen könnte. Zwischen den einzelnen Gewerkschaften begründet sich die Macht eher allein auf Legitimation, wobei die zentrale Frage ist, ob viele spezialisierte Gewerkschaften (gemäß Tradition der GdL und des Lokomotivführertums) oder eine große Tarifgemeinschaft (gemäß deutscher Tarifeinheit) legitim sind.51
Es wird deutlich, dass jede Partei Machtquellen hat und es schwer ist, den zu Beeinflussenden und den Machtausübenden zu ermitteln. Vielmehr probieren die Deutsche Bahn AG, die GdL und die Tarifgemeinschaft, Macht aufzubauen und auszudehnen, ohne, dass eine Machtbasis einen Mächtigeren oder einen Beeinflussten bereits im Voraus identifiziert.
3.3 Analyse der Machttaktiken im Tarifstreit
Um die jeweils eigene Macht zu festigen, zu vergrößern und sich letztlich durchzusetzen, bedienen sich die Akteure im Tarifstreit einer Reihe von Machttaktiken, welche anhand des beschriebenen Schemas von Neuberger (1995b) näher erläutert werden.52 53 Ferner werden kurz 53 die von Wolf (2005) zusammengefassten Erweiterungen und Mischtaktiken geprüft.
[...]
1 Vgl. Küpper, Ortmann (1979), S. 41; vgl. Wolf (2005), S. 203.
2 Vgl. Crozier/Friedberg (1979), S. 47.
3 Vgl. Bosetzky (1977), S. 121.
4 Vgl. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (1997), S. 432.
5 Vgl. Dahl (1957), S. 202 f.; vgl. Neuberger (1995a), S. 953 f.; vgl. Zajac/Astley (1991), S. 399 ff.
6 Weber (1925), S. 28.
7 Vgl. Becker (1984), S. 234; vgl. Dahl (1957), S. 202; vgl. Wolf (2005), S. 205.
8 Vgl. Wolf (2005), S. 205.
9 Vgl. Wolf (2005), S. 205.
10 Vgl. Sandner (1990), S. 4 ff.
11 Vgl. Wolf (2005), S. 211.
12 Vgl. Neuberger (1995b), S. 134; vgl. Sandner (1990), S. 17 ff; vgl. Wolf (2005), S. 211 ff.
13 Vgl. French/Raven (1959), S. 155 ff.
14 Vgl. Raven (1965), in: Wolf (2005), S. 215; vgl. Wolf (2005), S. 212 f
15 Vgl. Crozier/Friedberg (1979), S. 50 ff.
16 Vgl. Sandner (1990), S. 17.
17 Vgl. Sandner (1990), S. 22 ff.
18 Vgl. Wolf (2005), S. 216 f
19 Vgl. Buschmeier (1995), S. 35; vgl. Neuberger (1995a), S. 956 ff. ; vgl. Neuberger (1995b), S. 138ff
20 Vgl. Neuberger (1995b), S. 109 f.; vgl. Wolf (2005), S. 216.
21 Vgl. Neuberger (1995b), S. 134.
22 Vgl. Bosetzky (1977), S. 122 f
23 Vgl. Neuberger (1995b), S. 134 ff; vgl. Wolf (2005), S. 216 ff.
24 Vgl. Wolf (2005), S. 219 f
25 Vgl. Wolf (2005), S. 220.
26 Vgl. Neuberger (1995b), S. 14 ff.
27 Vgl. Buschmeier (1995), S. 33.
28 Vgl. Gehrmann (2007), S. 21; vgl. Transnet (2005).
29 Vgl. Transnet (2005); vgl. GDBA (2007).
30 Vgl. Das Erste (2007).
31 Vgl. Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (2007a), S. 9.
32 Vgl. Das Erste (2007); vgl. Deutsche Bahn AG (2007a), S. 34.
33 Vgl. Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (2007a), S. 11.
34 Vgl. manager-magazin (2007).
35 Vgl. Darnstädt, von Hammerstein, Schmitt, Tietz (2007), S. 21 f.
36 Vgl. Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (2007a), S. 16.
37 Vgl. manager-magazin (2007).
38 Vgl. Deutsche Bahn (2007b), Financial Times Deutschland (2007).
39 Vgl. Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (2007a), S. 3 ff; vgl. Stolz (2007), S. 22; vgl. Schwarzer (2007).
40 Vgl. Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (2007a), S. 8 ff.
41 Vgl. Opitz (2007), S. 29; vgl. Gehrmann (2007), S. 21.
42 Vgl. Schiessl (2007), S. 23.
43 Vgl. Opitz (2007), S.28 f
44 Vgl. Manager-Magazin (2007).
45 Vgl. Manager-Magazin (2007).
46 Vgl. Darnstädt, v. Hammerstein, Schmitt, Tietz (2007), S. 21; vgl. French/Raven (1959), S. 163 ff.
47 Vgl. French/Raven (1959), S. 156 ff; vgl. Brychcy (2007).
48 Vgl. French/Raven (1959), S. 158 ff.
49 Vgl. Darnstädt, v. Hammerstein, Schmitt, Tietz (2007), S. 21 ff; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2007), S. 1.
50 Vgl. Gaertner (2007), S. 9.
51 Vgl. Darnstädt, v. Hammerstein, Schmitt, Tietz (2007), S. 21 ff.; vgl. French/Raven (1959), S. 163 ff.; vgl. Neuberger (1995a), S. 955; vgl. Wolf (2005), S. 216.
52 Vgl. Neuberger (1995b), S. 137 ff.
53 Vgl. Wolf (2005), S. 219 f