Diese Arbeit beschäftigt sich mit Scham und ihrer Bewältigung am Beispiel von A. L. Kennedys Roman "Serious Sweet". Es wird auf psychologische und philosophische Ansätze von Silvan Tomkins, Léon Wurmser, Hilge Landweer, Ullaliina Lehtinen und Michael Lewis Bezug genommen. Es wird insbesondere auf die möglichen Unterschiede unter einem gendersensiblen Aspekt eingegangen, die zum Erfolg oder Misserfolg von Schambewältigung beitragen können.
Die Scham schwingt in A. L. Kennedys Roman "Serious Sweet" ununterbrochen mit. Darüber hinaus liefert er zahlreiche Beispiele für die Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit von Schamsituationen. Die beiden Hauptcharaktere Margaret Williams (Meg) und Jon Sigurdsson (Jon) sitzen einerseits im selben Boot und haben andererseits doch gänzlich unterschiedliche Ausgangssituationen sowie Arten des Umgangs mit ihrer Lage.
Da der Text von Schamsituationen durchzogen ist, ist es nicht einfach, deren Ursprung auszumachen. Die Leserschaft begleitet Meg und Jon an einem Freitag im April über einen Zeitraum von 24 Stunden und erlebt deren Gedankenwelt sowie den Höhepunkt ihrer gemeinsamen Bemühungen, sich einander anzunähern. Dabei müssen sie viele Male ihre Komfortzone aufs Spiel setzen, mit ganz unterschiedlichem Erfolg. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Sowohl Unterschiede im Sozialisierungsprozess als auch lebenslaufbedingt unterschiedliche Auslöser von Schamgefühlen führen zur Herausbildung von Instrumenten der Schambewältigung – oder auch nicht.
Unterschiedliche Konzepte von Individualität sind in der modernen Welt zwar erwünscht, können offenbar aber auch zum Stellenwert der Scham im Leben eines Großstadtmenschen beitragen: Serious Sweet wird in diesem Kontext auch als eine groß angelegte Analyse von Scham als strukturell angelegtes soziales Element gelesen, das ein Einzelgänger-Dasein in der postmodernen Weltstadt verstärken kann.
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung / Serious Sweet als ein Minenfeld vielschichtiger Scham
II. Das Verhältnis der Erzählebenen als Spiegel des Innersten der Hauptfiguren
III. Scham: eine Eingrenzung
IV. Umgang mit und Bewältigung von Scham bei Jon und Meg
a) Jon: Scham als Chaosfaktor
b) Meg: von der Kunst, mit Scham zu leben
V. Schambewältigung und Gender, oder: was Meg so anders macht als Jon
VI. Schluss - was bleibt am Ende?
VII. Literatur- und Quellenverzeichnis
Einleitung / Serious Sweet als ein Minenfeld vielschichtiger Scham
Die Scham schwingt in A. L. Kennedys Roman ununterbrochen mit. Darüber hinaus liefert er zahlreiche Beispiele für die Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit von Schamsituationen. Die beiden Hauptcharaktere Margaret Williams (Meg) und Jon Sigurdsson (Jon) sitzen einerseits im selben Boot und haben andererseits doch gänzlich unterschiedliche Ausgangssituationen sowie Arten des Umgangs mit ihrer Lage. Da der Text von Schamsituationen durchzogen ist, ist es nicht einfach, deren Ursprung auszumachen. Die Leserschaft begleitet Meg und Jon an einem Freitag im April über einen Zeitraum von 24 Stunden und erlebt deren Gedankenwelt sowie den Höhepunkt ihrer gemeinsamen Bemühungen, sich einander anzunähern. Dabei müssen sie viele Male ihre Komfortzone aufs Spiel setzen, mit ganz unterschiedlichem Erfolg. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: sowohl Unterschiede im Sozialisierungsprozess als auch lebenslaufbedingt unterschiedliche Auslöser von Schamgefühlen führen zur Herausbildung von Instrumenten der Schambewältigung - oder auch nicht.
Unterschiedliche Konzepte von Individualität sind in der modernen Welt zwar erwünscht, können offenbar aber auch zum Stellenwert der Scham im Leben eines Großstadtmenschen beitragen: Serious Sweet wird in diesem Kontext auch gelesen als eine groß angelegte Analyse von Scham als strukturell angelegtes soziales Element, das ein Einzelgänger-Dasein in der postmodernen Weltstadt verstärken kann.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse von Scham und ihrer Bewältigung unter Bezugnahme auf psychologische und philosophische Erklärungen insbesondere von Silvan Tomkins, Hilge Landweer, Ullaliina Lehtinen und Michael Lewis. Es soll besonders auf die möglichen Unterschiede unter einem gendersensiblen Aspekt eingegangen werden, die zum Erfolg oder Misserfolg von Versuchen der Schambewältigung beitragen können.
Das Verhältnis der Erzählebenen als Spiegel des Innersten der Hauptfiguren
In Serious Sweet wechseln sich verschiedene Erzählebenen ab, ohne deutlich voneinander getrennt zu bleiben: kursive Stellen zeichnen sich durch die Ich-Perspektive aus und wir wohnen entweder Jon oder Meg bei ihren Monologen bei. Es wird hier kein Handlungsstrang verfolgt. In ihren Monologen fällt auf, dass sie auf das Erhalten oder Wiedererlangen von Sicherheit und Beständigkeit ausgerichtet sind, wenngleich diese Strategie groteske Züge annehmen kann:
„Meg was, this morning, choosing to ignore the wider world. She was additionally trying to ignore her body while it resented ist earlier loss of dignity.
And I feel his weight on me - that's the thing. After all this time, I can still feel how it was when he was there and it was starting. He can still ruin my breath.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
There were two ways to cure oncoming depression: to be glad of something worse that wasn't happening and to be amused. Meg was trying both. And there was also anger. Bastard. Although anger in the absence of the object was unwise, because it turned inward and led you straight back to despair. Which I do not want. I want Hector. But not quite as constantly as he wants me. Hector was not allowed into the ladies', because he was a dog and a boy dog at that, and therefore it would be weird to have him loitering. Joke. Sort of. Being amused. Not angry. [...] Basically whatever anyone was doing in the bathroom, they'd want privacy, rather than a spaniel peering at them, or licking the soap off their knees, or being ridiculous in other canine ways that didn't bear thinking about. Nothing bears thinking about. My running scheme. I should have it painted on the bathroom mirror, back at home. I'll open a wrist and do it this evening in fresh blood. Joke. Not a very good one.1
Das Fortlaufen der Handlung wird in die nicht-kursiven Passagen verschoben. Hier zeigt sich mehr Anspannung, da Unvorhergesehenes grundsätzlich eintreten kann. Oft findet ein Wechsel in ein generisches Du/man statt, insbesondere bei aufreibenden Themen oder bei der Beschreibung von emotional heiklen Situationen, wie etwa während Caroles Anruf nach Megs Untersuchung im Krankenhaus:
„Carole was known to offer verbal hugs when no others were available, and it was easily foreseen that she would pitch in with the usual if she were phoning after you'd been prodded at, invaded, and also threatened - a bit threatened - with cancer, which was to say precancer, which was to say predeath, which was to say pretty much where we all had to operate every day, but that didn't imply we'd be happy to be interfered with and then forced to remember different threats.“2
Dass die verschiedenen Erzählebenen nicht voneinander getrennt bleiben zeigt das Verschwimmen der äußeren und inneren Perspektiven. Sie greifen stark ineinander, sodass die Erzählerperspektive (nicht-kursiv) die Monologe spiegelt oder beide Seiten einander ergänzen:
Meg:
„When I got in the room the first day, I knew it would be no use and that if I weren't careful it would make me feel no use, too, and so I didn't give the pack of them the satisfaction of hearing my specific version of then he did this and then he did that and then on that occasion I did worry I wouldn't make it - I did think that I might die and not mind too much about it - and, by the way, the idea of kissing anyone, trusting anyone, will these days tend to catch me from a number of nasty angles and I think I'll never do it again. I think that I would surely, really die if I genuinely tried, and how can I live like that, exist as this person?
To which there is no answer. "3
Zusätzlich wird an dieser Stelle erneut deutlich, dass Inhalte, die Meg zu sehr aufwühlen - hier ihre traumatische Übergriffserfahrung - aus ihrem direkten Monolog ausgelagert werden als Versuch einer schützenden Distanzierung. Die fortlaufende Ich-Erzählung macht jedoch deutlich, dass eine Trennung nicht möglich und das Trauma ein fester Teil von Meg ist.
Jon:
[...] -tsseuw, tsseuw, tsseuw. They made a noise like wives. No, I withdraw the remark. They sound like the fear of wives, the fear of one wife, my fear of one wife, of my wife, my fear of my wife, of that wife. Tsseuw, tsseuw, tsseuw.4
Hier greifen Jons Gedanken explizit in den Erzählstrang ein und beziehen sich auf eine nicht ganz treffende Aussage, um sie dann zu präzisieren: die wahre Bedeutung des Vogelgesangs ist für ihn noch weitreichender.
Insgesamt ist verschiedenen Kritiken zur deutschen Ausgabe nicht zuzustimmen, wenn sie bemängeln, dass der Roman immer wieder zu konstruiert wirkt und dies auch in der Textform offen zutage tritt.5 Vielmehr werden die verschwimmenden Perspektiven als ein gezielter Hinweis darauf gelesen, dass man sich von gewissen Erlebnissen und Gefühlen nicht abtrennen kann, so sehr man es sich vielleicht wünscht. Schamgefühle gehören zu diesen nicht abstreifbaren Elementen der eigenen Person.
III. Scham: eine Eingrenzung
Wenn wir uns schämen, „möchten [wir] vor unserem Spiegelbild zurückschrecken, uns verachten und uns für die Schande, die wir in uns fühlen, entwerten“6 - es handelt sich also definitiv um ein Gefühl, dass man verständlicherweise möglichst vermeiden möchte. Das Empfinden von Scham zeigt eine Spannung zwischen Ich und Ideal an - zwischen der Person, die man im Moment glaubt zu sein und derjenigen, die man sich zu sein wünscht7 und die „die gesellschaftlichen Normen und Werte ,internalisiert‘ hat“.8 Scham9 betrifft immer die gesamte Person und kann nicht auf einen kleinen Aspekt abgegrenzt werden, darüber hinaus gilt: „Es ist ein Affekt, der mit Selbstverachtung und Integrität zu tun hat, [...] [e]r ist selbstbezogen.“10 Allerdings wird Scham auch als Instrument verstanden, das eigene „Selbstbild in Balance mit dem Bild zu bringen, das andere von [Einem Selbst] haben“11 und trägt somit einen potentiell für das Individuum gesunden Aspekt.
Wenn dieses Potenzial allerdings gänzlich verloren geht und das Gewissen intensive Demütigung gegen das Selbst benutzt, ist von einer Schamdepression auszugehen.12
Die Art der Kommunikation zwischen Meg und Jon über Briefe ist des Weiteren bezeichnend für Personen, die Scham vermeiden möchten, denn Silvan Tomkins beschreibt den Vorgang des Empfindens von Scham als Bewusstwerdung des eigenen Gesichts in dessen Verlust:
„[...] [T]he self lives in the face, and within the face the self burns brightest in the eyes. Shame turns the attention of the self and others away from other objects to this most visible residence of self, increases its visibility, and thereby generates the torment of self-consciousness. Since shame is primarily a response of facial communication reduction, awareness of the face by the self is an integral part of the experience of shame.“13
Sollte es also zwischen Meg und Jon zu einem wie auch immer gewarteten Gesichtsverlust kommen, so können Beide diesem zumindest alleine gegenübertreten und müssen sich nicht noch zusätzlich mit den vermeintlich demütigenden Blicken des Anderen belasten.
IV. Umgang mit und Bewältigung von Scham bei Jon und Meg
Jon und Meg sind beide gleichermaßen, in ihren ganz unterschiedlichen Lebenslagen, mit einer Vielzahl von verfestigten und akuten Schamsituationen konfrontiert. Während wir sie auf ihrem über weite Teile holprigen Weg durch den Tag begleiten, wird deutlich, dass sie ganz unterschiedlich mit diesen Situationen umgehen und sich ihre Bewältigungsstrategien, falls vorhanden, stark voneinander unterscheiden. Nachfolgend wird sich zeigen, dass Jons Tagesablauf stark von Scham durchzogen ist und er häufig keine geeignete Antwort auf die von ihm erlebte Scham hat. Meg wiederum scheint sich mit genau diesem Problem umfassend beschäftigt zu haben, und hat ihre Art gefunden, wie sie mit der allgegenwärtigen Scham in ihrem Leben, zumindest häufig, zurechtkommen kann.
a) Jon: Scham als Chaosfaktor
Jon Sigurdsson ist geschieden, seitdem seine Frau Valérie ihn betrogen hat. Er hat eine Tochter, zu der zwar Kontakt besteht, welcher er aber in wichtigen Momenten ihres Lebens nicht beizustehen vermag. Wir lernen ihn am Freitagvormittag kennen, als er unter Zeitdruck zur Arbeit möchte, jedoch aufgehalten wird, weil er einem Vogel helfen möchte. Bereits in dieser Anfangsszene zeigt sich, dass Jon durchzogen ist von tiefgreifenden Schamgefühlen und diese zu seinem alltäglichen Leben, seiner Persönlichkeit gehören: diese Szene zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass Jon gestresst ist und nicht zu spät zur Arbeit kommen möchte, weil er dort eine wichtige Aufgabe zu erledigen hat. Trotzdem will er den Vogel nicht zurücklassen. Somit beginnt für Jon ein Dilemma, eine herausfordernde Situation, welcher er im Folgenden nicht mehr gerecht wird: er nimmt eine Unzulänglichkeit seiner eigenen Person wahr, weil er Pünktlichkeit und Vogelhilfe nicht miteinander vereinbaren kann; er ist beschämt, weil der Vogel, den er in seinen Händen hält, nicht von ihm beruhigen lässt, als er ihn von Plastikteilen befreit. Trotzdem umgibt ihn Friedlichkeit, während in ein Gefühl von Sicherheit erfüllt („safety was happening“14 ). Als er dann jedoch blinzelt, wird sein Innehalten unterbrochen und Jon schämt sich durch das Davonfliegen des Vogels. Er hatte darauf gehofft, durch sein Bleiben das friedliche Gefühl noch etwas verlängern zu können. Stattdessen kehrt sein gewöhnlicher, angespannter Gemütszustand zurück („his usual tensions reasserted themselves“15 ).
Insgesamt ist Jon eine außerordentlich frustrierte Person, was darin begründet zu sein scheint, dass neben seinem Privatleben auch sein beruflicher Alltag nicht zufriedenstellend verläuft: er ist ein gehobener Regierungsbeamter und versucht stets vergeblich, mit seiner Arbeit die Situation von bedürftigen Menschen zu verbessern. Die finanziellen Mittel werden jedoch gesenkt und er verbringt die meiste Zeit damit, Regierungsmitglieder in einem besseren Licht darzustellen oder sie aus unangenehmen Lagen zu befreien - eine Tätigkeit, die zwar dringend gebraucht, aber von Jon selbst nicht gewollt wird:
„I'm the man who takes away the buts. I'm known for it - slightly. I can remove them from any public statement, press release, précis, report, discussion document, Green Paper, White Paper, any note on the back of an envelope, if you insist that you need me to help you and are having a delicate day, well, I'll do what I can ... I can, in theory, make having cancer be, well ... still having cancer, but also, somehow, a favorable outcome if I'm having enough time. I do have that skill. I don't want that skill[.] [...] If you feel that you can't quite like some part of reality, I'll step in and rephrase it for you. "16
Wir erfahren darüber hinaus, dass er sich von seiner Ex-Frau stets auf seine Unzulänglichkeiten und Verfehlungen aufmerksam gemacht fühlte, und er unterstellt ihr gedanklich einen gewissen Vorsatz: „she was good in asserting failure.“17
Was zuvor in seiner Gedankenwelt nur kurz Platz eingenommen hatte, kehrt mit einschlagender Kraft zurück, als eine Gruppe von Sittichen über ihm vorbeifliegt:
[...] -tsseuw, tsseuw, tsseuw. They made a noise like wives. No, I withdraw the remark. They sound like the fear of wives, the fear of one wife, my fear of one wife, of my wife, my fear of my wife, oft hat wife. Tsseuw, tsseuw, tsseuw.
And now I am late, really. And I've got to make time, because then I'll be able to. There are things that I need to finish and they shouldn't be rushed.
But I think I'll manage. Truly. I swear. I'm going to punch a hole clear through my schedule and everything so that I can breathe and operate as I should, and I'll make it possible to see and see and see what I do next.
Tsseuw, tsseuw, tsseuw.
The sound of being laughed at.
Here it is.
Tsseuw, tsseuw, tsseuw.
Yes, here it is.18
Die Erinnerung an seine Frau, von der er sich ausgelacht fühlte, und seine Furcht, die er davor verspürt, kommt durch den Klang der Sittiche wieder zum Vorschein. Er assoziiert die Vögel mit dem negativen Affekt der Demütigung durch seine Frau und hat diesen so stark verinnerlicht, dass er ihn sogar empfinden kann, obwohl die Situation aus dem betreffenden Kontext enthoben ist. Das Gefühl der Wehrlosigkeit gegen die über ihn hereinbrechenden Sittiche und somit seine tiefe Angst versucht er zu überkommen, indem er sich auf seine heutige Aufgabe konzentriert und sich Gedanken darüber macht, wie er die nun verlorene Zeit bei der Arbeit wieder aufholen kann. Solange die Vögel allerdings hörbar sind, saugt ihr Klang Jon wieder ein in einen Zustand, den er nur zu gut wiedererkennt.
Léon Wurmser argumentiert, dass Schamangst nur dann erlebt wird, wenn eine Demütigung lediglich befürchtet wird, aber noch nicht erfolgt ist. Insbesondere bei bereits geschehenen, traumatischen Bloßstellungen und anderen Beschämungen, wie sie bei Jon durch seine ExFrau vorliegen,
„folgt gewöhnlich ein sehr viel komplexeres affektives und kognitives Reaktionsmuster als bloße Schamangst. Es umfaßt i.allg. [sic] sogar noch tiefere Schamangst - sowie noch tiefer liegende Ängste. Aber es hat auch Selbstverachtung zur Folge sowie Versuche, die erlittene Schande irgendwie wiedergutzumachen, um sowohl den Makel auszulöschen als auch weitere Erniedrigung zu verhindern.“19
Da die gescheiterte Beziehung zu Valérie ihm keinen solchen Raum mehr für Wiedergutmachung gibt und für ihn vermutlich nur Quelle weiterer Erniedrigungen wäre, versucht Jon, sich auf seine unentbehrlichen Fähigkeiten als Regierungsrat zu konzentrieren und wenigstens dort etwas zu gelten. Trotzdem sitzen die Erfahrungen so tief, dass sie ihn auch an unverhofften Stellen wieder einholen können.
Wir erfahren zwar, dass Valerie Jon immer auf sein Versagen hingewiesen haben soll - allerdings stellt sich hier auch die Frage nach ihrer Perspektive: hier könnte die Annahme nach Silvan Tomkins greifen, dass grundsätzlich jeder denkbare negative Affekt ein Auslöser für Scham/Demütigung sein kann, solange die beiden Interagierenden nicht vollständige Abneigung gegeneinander verspüren. Für die Situation zwischen Valerie und Jon bedeutet dies, dass Jons von Scham und Minderwertigkeitsgefühlen geprägte Persönlichkeit Valerie insofern beschämte, als dass sie als seine Ehefrau den Anspruch an sich selbst hatte, ihn glücklich zu machen: „The beaten, defeated posture of the mate is a prime source of shame in the spouse who is concerned for the welfare of the other.“20
Da wir nicht wissen, in welchem Ausmaß Jon bereits in die Beziehung eingetreten ist, können wir nicht Valerie alleine für seinen Zustand verantwortlich machen. Es ist unwahrscheinlich, dass Valerie allein mit ihren Verspottungen und Zurechtweisungen Jons Selbstwahrnehmung so tiefgreifend geprägt hat und er nicht schon zuvor oder anderweitig entsprechende Erfahrungen machen musste. Es ist ebenso gut möglich, dass sein Zustand die Beiden auseinandergetrieben und so unter Anderem zum Scheitern ihrer Beziehung geführt hat, da Jon von seiner Scham regelrecht aufgefressen wird. Seine Selbstwahrnehmung ist durch und durch von seiner Scham geprägt.
Seine Beziehungen zu Frauen sind generell von Unausgewogenheit bestimmt. Sie beschränken sich auf die entwürdigende Position gegenüber Val, die ihm aufgrund ihrer Affären vermittelt hat, dass er kein vollwertiger Ehepartner und Mann für sie sein kann. Sich dies einzugestehen, vermeidet Jon - das Anerkennen der Scham über eigene Defizite in Sachen Männlichkeit würde in Jon wahrscheinlich noch tiefere Scham auslösen, mit der er noch weniger zurechtkommen könnte. Vor diesem Hintergrund verkauft er die Briefe, die er einsamen Frauen in der Zeitung anbietet, unter Wert, weil er deren Wert selbst nicht zu erkennen vermag. Seine Tochter findet in Jon keinen vollwertigen Vater und wirft ihm vor, dass seine Arbeit ihn auffresse und er deshalb keine Zeit für sie habe. Jon weiß es jedoch besser:
The office doesn't eat me. It has eaten me. I was swallowed up long ago. But that wasn't so bad, not really, and he was coping with and moderating the challenges of his day.21
[...]
1 Kennedy 2016, 110f.
2 Ebd., 131.
3 Ebd., 128.
4 Ebd., 13.
5 Vgl. Rezension in Frankfurter Allgemeine Tageszeitung vom 22.11.2018: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/roman-suesser-ernst-von-a-l- kennedy-15902172.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
6 Wurmser 2017, 25.
7 Vgl. Hilgers 2012, 19.
8 Landweer 1999, 101. Hilge Landweer meint Internalisierung nicht in einem psychoanalytischen Sinne, sondern in Form einer sedimentierten Präsenz, die in Schamsituationen aktualisiert und zur Entstehung des Schamgefühls führt (103).
9 Scham wird hier unterschieden von Schuld, die als Abweichung von moralischen Ansprüchen an das Subjekt verstanden wird.
10 Wurmser 2017, 28.
11 Landweer 1999, 91. Vgl. hierzu auch Hilgers 2012.
12 Wurmser 2017, 317.
13 Kosofsky-Sedgwick/Frank 1995, 136.
14 Kennedy 2016, 12.
15 Ebd., 13.
16 Ebd., 6.
17 Ebd., 10.
18 Ebd., 13.
19 Wurmser, 2017, 75.
20 Kosofsky-Sedgwick/Frank 1995, 158f.
21 Kennedy 2016, 79.