Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie Scham, Schuld und Stolz definiert werden können und inwiefern von den einzelnen Generationen Scham in Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands empfunden wird.
Der 24. September 2017 ist in die Annalen der deutschen Politikgeschichte eingegangen. Denn an diesem Tag schaffte es die als rechtsextrem bekannte Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) in den deutschen Bundestag. Die letzte große politische Partei zwischen den deutschen Entscheidungsträgern, die am äußeren rechten Rand angesiedelt war, hieß NSDAP, die eine im noch größeren Maße immense und brutale Macht ausübte.
Und genau hier stellt sich die Frage, ob Deutschland nicht genügend Scham und Schuld über und für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges empfunden hat, sodass dieser leichte Rechtsruck im eigenen Land überhaupt wieder möglich geworden ist. Auf dieser Frage und dem Umgang der einzelnen Generationen mit der nationalsozialistischen Scham der Vergangenheit liegt der Fokus dieser wissenschaftlichen Arbeit.
Im ersten Kapitel werden zunächst die Begrifflichkeiten Scham, Schuld und (National-)Stolz im Zusammenhang mit der rechten Historie identifiziert. Das zweite Kapitel greift anschließend diese Definitionen wieder auf und zeigt auf, wie die Generationen mit der deutschen Scham damals umgegangen sind bzw. heute noch umgehen. So wird zunächst die Kriegsgeneration und damit die der Schuldigen und Mitläufer beleuchtet.
Im Anschluss liegt der Fokus auf den Kriegskindern. Bei diesen ist es wissenswert herauszustellen, inwiefern sie sich noch in der Verantwortung für die Taten ihrer Eltern(-Generation) fühlen/fühlten und ob dies Auswirkungen auf das familiäre Umfeld mit sich zog. Im Folgenden wird auch die Problematik mit dem Thema Scham der dritten und vierten Nachkriegsgeneration, also derer, die sich heute im frühen bis mittleren Erwachsenenalter befinden, beleuchtet.
Es stellt sich die Frage, ob das schwierige Verhältnis der Deutschen mit dem Patriotismus gegenwärtig immer noch so präsent ist oder nach nun über 70 Jahren allmählich wieder ein natürlicher Nationalstolz in unserem Lande Einzug hält. Dies wird anhand zwei relativ aktueller Beispiele aufgezeigt: zum einen mittels des Filmes "Er ist wieder da", der veranschaulicht, wie die Mitmenschen heute noch mit der Verbindung Scham und der Vergangenheit umgehen und somit einen nachdenklichen Zuschauer hinterlässt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Begriffsdefinitionen
2.1 Scham
2.2 Schuld
2.3 Stolz
3. Die Scham der Generationen
3.1 Die „Schuldigen“
3.2 Kriegskinder
3.3 Dritte und vierte Generation
3.3.1 Moderner Umgang mit Scham anhand des Filmes „Er ist wieder da“
3.3.2 Die Dialektik zwischen der Scham der Vergangenheit und des Aufstiegs der AfD
4. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der 24. September 2017 ist in die Annalen der deutschen Politikgeschichte eingegangen. Denn an diesem Tag schaffte es die als rechtsextrem bekannte Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in den deutschen Bundestag. Die letzte große politische Partei zwischen den deutschen Entscheidungsträgern, die am äußeren rechten Rand angesiedelt war, hieß NSDAP, die eine im noch größeren Maße immense und brutale Macht ausübte.
Und genau hier stellt sich die Frage, ob Deutschland nicht genügend Scham und Schuld über und für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges empfunden hat, so dass dieser leichte Rechtsruck im eigenen Land überhaupt wieder möglich geworden ist. Auf dieser Frage und dem Umgang der einzelnen Generationen mit der nationalsozialistischen Scham der Vergangenheit liegt der Fokus dieser wissenschaftlichen Arbeit. Im Kapitel 1 werden zunächst die Begrifflichkeiten Scham, Schuld und (National-)Stolz im Zusammenhang mit der rechten Historie identifiziert. Das Kapitel 2 greift anschließend diese Definitionen wieder auf und zeigt auf, wie die Generationen mit der deutschen Scham damals umgegangen sind bzw. heute noch umgehen. So wird zunächst die Kriegsgeneration und damit die der Schuldigen und Mitläufer beleuchtet. Im Anschluss liegt der Fokus auf den Kriegskindern. Bei diesen ist es wissenswert herauszustellen, inwiefern sie sich noch in der Verantwortung für die Taten ihrer Eltern(-Generation) fühlen/fühlten und ob dies Auswirkungen auf das familiäre Umfeld mit sich zog. Im Folgenden wird auch die Problematik mit dem Thema Scham der dritten und vierten Nachkriegsgeneration, also derer, die sich heute im frühen bis mittleren Erwachsenenalter befinden, beleuchtet.
Es stellt sich die Frage, ob das schwierige Verhältnis der Deutschen mit dem Patriotismus gegenwärtig immer noch so präsent ist oder nach nun über 70 Jahren allmählich wieder ein natürlicher Nationalstolz in unserem Lande Einzug hält. Dies wird anhand zwei relativ aktueller Beispiele aufgezeigt: zum einen mittels des Filmes „Er ist wieder da“, der veranschaulicht, wie die Mitmenschen heute noch mit der Verbindung Scham und der Vergangenheit umgehen und somit einen nachdenklichen Zuschauer hinterlässt. Und zum anderen wird die aktuelle Debatte über die AfD und dem Diskurs, ob sich Deutschland moralisch noch einmal eine rechtsextreme Partei unter den politischen Entscheidungsträgern leisten kann, final aufgegriffen.
2. Begriffsdefinitionen
2.1 Scham
Die Begrifflichkeit Scham lässt sich anhand diverser Definitionen erklären. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird die Scham auch als Emotion der Verlegenheit tituliert, die sich mittels verschiedener äußerer Anzeichen bemerkbar machen kann; so z.B. durch Erröten des Gesichts oder starkes Herzklopfen. Dies kann wiederum zu einem noch größeren Schamgefühl und folglich zu einem Teufelskreis führen.
Diese wissenschaftliche Arbeit beschäftigt sich jedoch weniger mit der individuellen Scham und wie sie sich bemerkbar macht, sondern mehr mit der kollektiven und auf einem Ereignis beruhenden und deren Umgang damit.
Im Fachjargon ist eine bekannte Definition die des US-amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers Léon Wurmser. Er sieht die Scham als bipolar an. Seiner Ansicht nach gehören hierzu zum einen der Objektpol, vor dem man sich schämt, und auf der anderen Seite der Subjektpol, für den man sich schämt. Der Objektpol wird durch Strafen oder Missbilligung des Beobachtenden des Affekts symbolisiert, wohingegen der Subjektpol durch die eigentliche Tat, den Kontrollverlust und dessen Resultate gekennzeichnet ist. (vgl. Wurmser, 2013, S.58) Auch der Prozess der Introjektion ist aus Wurmsers Perspektive ein wichtiger Teilaspekt dieser Gemütsbewegung; so nimmt der Beschämte nach dem Urteil der Außenwelt seine Strafe innerlich auf. Folglich sind die die Scham begleitenden Erwartungen, Kritik und Strafe im Gewissen und somit dem „Über-Ich“, also der inneren Gefühlswelt vorzufinden. (vgl. Wurmser, 2013, S.61-62)
Auch der deutsche Psychiater und Psychoanalytiker Günter H. Seidler ist der Auffassung, dass Scham „[…] als solche überpersönlich, und durch das Zusammenwirken eines selbstreflexiven Subjekts mit einem Gegenüber, angesichts dessen Scham erlebt wird, gekennzeichnet [ist]“ (vgl. Seidler, 2014, S.827). Bezieht man dies auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands, lässt sich diese Gemütsbewegung als moralische Instanz sehen, da nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die meisten der deutschen Bürger vor der Welt und insbesondere den Millionen Toten, Verwundeten und Angehörigen dieses Grauens eine tiefe Scham empfanden.
Denn das deutsche Volk hatte sich allein für den jahrelang andauernden und Millionen Tote fordernden mörderischen Kampf zu verantworten. Somit musste es vor den Siegermächten als selbst reflektierendes Subjekt die Scham als Sanktion sehen und ihre Lehren daraus ziehen. Des Weiteren kann dies gegenüber anderer Empathie erzeugen und Einsichtigkeit eines Fehlers attestieren und letztendlich die moralische Schuld mindern. Nach Wurmser ist Scham als ein kurzlebiger oder auch anhaltender affektiver Zustand zu definieren, der bei längerem Fortbestehen zu einer affektiven Haltung mutieren kann (vgl. Wurmser, 2013, S.72). Dieser Ansatz lässt sich auch in der Entwicklung der Gemütsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland vorfinden. Die Kriegsgeneration, die sich für die Taten im Krieg als verantwortlich zeichnen musste, gab ihre Schamgefühle an die nachfolgende, die Nachkriegsgeneration weiter. Da sich die moralische Verantwortung für den Horror des 20. Jahrhunderts bis in die heutige Generation zieht, kann in diesem Fall, zurückgreifend auf die Theorie von Wurmser, von einer mittlerweile affektiven Haltung und nicht mehr bloß Zustand gesprochen werden.
Scham ist überdies eine Art der Furcht […] vor der Schande, die eintreffen könnte, vor der Bloßstellung, die bevorsteht, also Angst vor einer Gefahr […] [und] eine Art des Ehrgefühls und Wertgefühls […], eine Form des Respekts vor den Idealen und Werten der Gesellschaft. (Wurmser, 2013, S.73)
Schamangst ließe sich somit auch mit Respekt und Anerkennung gesellschaftlicher Normen und Regeln verknüpfen.
Da nach Jeanette Roos der Affekt der Scham „[…] im Zusammenhang mit der Bewertung des Tuns/Unterlassens von Personen aufgrund internalisierter Standards wie Konventionen […], moralischen Normen […] und gesetzlichen Regeln […] [auftritt]“, spielt im Falle der zum großen Teil beschämten deutschen Nachkriegsnation auch das schlechte Gewissen im Rahmen des menschlichen Urteilsvermögens eine Rolle, da der Krieg gegen unendlich und nicht aufzählbar moralisch und ethnisch universell geltende Gesetze verstoßen hat (vgl. Roos, 2009, S.650).
Allerdings kann das Gefühl der Scham erst auf das menschliche Gewissen einwirken, wenn die Person eine „bewusste Selbsterziehung“ genossen hat, infolgedessen die Moral bei dieser überhaupt erst anschlagen kann (Lotter, 2016, S.70). Eine bewusste Selbsterziehung beinhalten Gewissen, Anstand und auch Respekt vor den Werten der Gesellschaft, welche u.a. im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert sind.
Eine starke Schamempfindung kann auch toxisch wirken, indem sie jegliche Art von Beziehungen oder sogar ganze Gesellschaften verändert. Bezogen auf die Nachkriegsgeneration wird es des Öfteren zu solchen sozialen Spaltungen innerhalb der Familien gekommen sein, da einigen Nachkommen der nationalsozialistischen Anhänger sicherlich deren ideologische Überzeugungen und den damit verbundenen destruktiven Handlungen als beschämend empfunden worden sind.
2.2 Schuld
Mit dem Begriff Scham in Verbindung zu bringen, ist der, wenn auch teilweise oppositionelle Ausdruck, Schuld. Dieser wird in der Literatur primär insofern von Beschämung unterschieden, als dass bei der Schuld „der Fokus der Bewertung auf der Handlung/Unterlassung“ von Verhalten liegt und nicht „das Selbst Quelle und Ziel der Beschämung ist“ (vgl. Roos, 2009, S.654).
Durchaus kann es auch vorkommen, dass Schuldgefühle zugunsten von Schamreaktionen abgewehrt werden, um mögliche Bestrafungen zu vermeiden (vgl. Jacoby, 1991, S.16).
2.3 Stolz
Stolz ist insofern als ein Gegenpol von Scham anzusehen, als dass er „[…] die selbstreflektierte Reaktion auf einen Gewinn, eine vollbrachte Leistung, ein erreichtes Ziel [ist]“, wohingegen Scham tendenziell als Effekt einer Niederlage zu bezeichnen ist. Gemein ist Stolz und Scham, dass beide Emotionen nicht nur einen Selbstbezug haben, sondern sich auch auf Dritte beziehen können. (vgl. Roos, 2009, S.651)
Dies könnten z.B. der favorisierte Fußballclub, die Familie oder Freunde oder auch die eigene Nation sein, welches dann im Falle des Affektes Stolz auch unter Nationalstolz tituliert wird.
3. Die Scham der Generationen
Die Gemütsbewegung der Scham bezüglich der deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges ist nicht nur in der unmittelbar betroffenen Alterskohorte, die aktiv oder als Mitläufer an den Verbrechen beteiligt war, sondern auch in den folgenden Generationen bis dato zugegen. Die Kriegsgeneration an sich hatte sich noch am ehesten mit dem Aspekt der unmittelbaren Schuld auseinanderzusetzen. Doch nachdem das brutale Ausmaß dieses Vernichtungskrieges an das Tageslicht gekommen war, machten sich bei einigen die ersten Anzeichen von Schamgefühlen bemerkbar. Diese gaben sie an die Folgegeneration, die Kriegskinder, teilweise sogar in noch bedrückenderer Form bzgl. der Auseinandersetzung mit den Taten der Eltern und sich dadurch entwickelnder Identitätskrisen, weiter. Auch die heutige jüngere Generation kann diese Gefühle bislang noch nicht in Gänze abstreifen, ist aber auf dem Wege den fehlenden (National-) Stolz, wie er in anderen Ländern ganz normal ist, wiederherzustellen.
3.1 Die „Schuldigen“
Der deutsche Kriegsjahrgang, also die Generation, die den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt und zu verantworten hatte, muss oder musste sich - soweit sie noch leben - Zeit seines Lebens mit der Scham- und Schuldfrage auseinandersetzen. So empfand sicherlich der Teil der Bevölkerung, der noch immer am Faschismus festhielt, das Kriegsende und die Niederlage Deutschlands als beschämend und schändlich. Denn solche Gegebenheiten verletzen das persönliche Ehrgefühl von Personen und darüber hinaus sahen einige unweigerlich auch den Tod und Verlust von Familienmitgliedern angesichts der Kapitulation als vergebens oder umsonst an.
Andere waren ebenfalls nicht vom Schamaffekt verschont. So verweist Wolbring (2009: 340) auf Assmanns These (1999: 1142-1154), dass „die schockartige Konfrontation der Deutschen mit den Greueln der Konzentrationslager […] zu einem `Trauma der Scham` geführt [habe]“. Dieser Aussage und weiteren Ausführungen Wolbrings nach zu urteilen, lag der Ursprung dieses Gefühls bei der „Sichtbarmachung der Verbrechen (Wolbring 2009, S.340). “
Viele verschlossen vor den Verbrechen während des Krieges ihre Augen, das Ausmaß dieser menschlich herbeigeführten Katastrophe wurde den meisten erst nach Kriegsende bewusst. Diese Sichtbarmachung fand insbesondere im Rahmen der Nürnberger Prozesse statt, bei denen die Hauptkriegsverbrecher ihrer Taten angeklagt worden waren. Bei diesen Prozessen sind die Verbrecher zwar nur strafrechtlich verfolgt und verurteilt worden, jedoch waren nicht nur diese von den Alliierten konzipierten Prozesse ein deutlicher Fingerzeig Richtung Unterbindung solch grausamer Völkermorde.
Auch das Gewissen setzte nach und nach bei Teilen der deutschen Bevölkerung ein, welches der Sozialwissenschaftler Stephan Marks als „Gewissens-Scham“ bezeichnet; wenn gegen das „Über-Ich“, also das Gewissen, gehandelt wurde und zwar mittels Verstöße gegen eigene Werte oder Ideale. Des Weiteren tritt sie im Falle von nicht erfolgter Zivilcourage und anderen sträflichen Taten ein. (vgl. Marks, 2015, S.35)
Seine Definition wäre eine stringente Erklärung für die Nachkriegsscham der Täter des Nationalsozialismus. Denn mittels Scham kann, wie in Kapitel 2.1 bereits erörtert, ein selbst reflektierendes Subjekt seine Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen und diese in Zukunft vermeiden (vgl. Wurmser, 2013, S.72). Als Konsequenz daraus greift Scham in diesem Kontext mit Schuld ineinander, sie fusionieren gar miteinander, da Scham zur Einsichtigkeit und Schuld zur Bewertung des eigenen anrüchigen Verhaltens, z.B. dem als Mitläufer in der Waffen-SS, führte. Mithilfe dieser beiden Gefühlsarten als Strafe könnten in der Theorie solche Taten unterlassen werden, in der Praxis sieht sowas meistens anders aus.
Aber nicht nur Gewissen, sondern auch Machtverlust können Schamgefühle bedingen. Aufgeben bzw. Kapitulation, sowie Niederlagen, sind Wurmser zufolge beschämende Demütigungen, die zum „Gesichtsverlust“ führen können. Des Weiteren sind gewaltsame Handlungen gegen Schwächere wiederum das Zeichen für moralische Schwachpunkte des Anwenders von Gewalt. Zudem erklärt Wurmser solche Taten als „Grund für Schuld wegen des unverdienten Leidens, das sie verursacht“. (vgl. Wurmser, 2013, S.54)
Auch wenn die Verfolgten des Zweiten Weltkrieges, Juden oder Sinti und Roma, um nur einige der von Hitler geächteten Bevölkerungsschichten zu nennen, nicht als schwächere Menschen zu zählen sind, so waren sie doch gegenüber den Nationalsozialisten in der Minorität und konnten sich gegen deren perfide Pläne nicht wehren. Der zuvor ebenfalls genannte Gesichtsverlust war offenbar schließlich eine Wirkursache, welche bei den Tätern wiederum zu den des Öfteren auftretenden Schamgefühlen führte.
Nicht nur die wirklichen Täter, sondern auch Mitläufer des Krieges litten im Nachhinein unter Scham, welche man nach Marks unter dem Raster der sogenannten „Anpassungs-Schamgefühlen“ zusammenfassen könnte. Diese sind auf eine Kollektivschuld „nach der Logik: `Wenn alle mitmachen, kann es ja nichts Schlechtes sein`“ zurückzuführen, unter dessen Mantel sich viele verstecken wollten. (vgl. Marks, 2015, S.109)
Doch nicht alle Mitläufer waren sich nach dem Krieg ihrer Schuld bewusst. So gibt Marks in seinem Buch ein von ihm geführtes Interview mit der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts geborenen Helga Möller aus dem Jahr 2001 wieder, in dem sie den Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg als Normalität beschreibt. Laut Marks empfand sie während des Gesprächs noch nicht einmal Mitgefühl mit ihrer jüdischen Mitschülerin, die während der NS-Zeit von den anderen Klassenkameraden ausgegrenzt worden ist. Des Weiteren habe es laut Marks Interviewpartnerin Möller „´damals eben geheißen, man solle Abstand von Juden halten. Aber wir jungen Leute, wir Kinder, haben uns doch überhaupt gar nix dabei gedacht an der ganzen Geschichte`“. (vgl. Marks, 2015, S.111)
An dieser Stellungnahme, die an jener Position an eine Rechtfertigung für die Unwissenheit der Gräueltaten erinnert, lässt sich keine Andeutung von Scham konstatieren. Zudem äußerte sich Helga Möller im Interview positiv über ihre Zeit beim Bund Deutscher Mädel (BDM), dem weiblichen Pendant zur Hitlerjugend, indem sie Marks schilderte, dass zur Kriegszeit alle Mädchen dort beigetreten waren und in der Organisation bloß gesungen und gespielt worden ist (vgl. Marks, 2015, S.111).
An diesem Exempel lässt sich statuieren, dass bei Helga Möller keine Introjektion stattgefunden hat, da sie persönlich das Urteil und die allgemein vorherrschende Meinung über die abscheulichen Taten der Nationalsozialisten innerlich nicht aufgenommen hat und somit auch kein schlechtes Gewissen im „Über-Ich“ erzeugt wird (vgl. Wurmser, 2013, S.61-62).
Im Gegenteil: Sie sah auch über 60 Jahre nach Ende des Krieges keinen Zusammenhang mit diesem und ihrer BDM-Mitgliedschaft und infolgedessen ist bei ihr auch kein Schuldgefühl festzustellen, da aus ihrer Sicht kein Verhalten da gewesen wäre, welches sie hätte unterlassen können. Denn wie Helga Möller bereits zuvor im Interview vermerkt hatte, seien alle Mädchen bei dem BDM gewesen.
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