In Derridas Text "Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion", dem Nachwort zu seinem Buch "Limited Inc" beschäftigt sich der Philosoph unter anderem auch mit der Gewalt und wie diese das Miteinander in Politik und Wissenschaft, aber im Grunde auch in jeder Form der Unterhaltung und Kommunikation beeinflusst. Diese Seminararbeit soll sich damit beschäftigten wie in dem Text "Gewalt" und "gewalttätig" verwendet werden, was der Skopus des Gewaltbegriffs dort ist und welche Formen die Gewalt dort annimmt.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Gewalt
3. Formen von Gewalt
3.1 Aufrichtige Form oder guten Gewissens
3.2 Scheinheilige Form oder schlechten Gewissens
3.3 Offensichtliche Form
3.4 Verschleierte Form
3.5 Institutionelle Form
3.5.1 Polizei
3.5.2 Kontext
3.5.3 Gewalt und Institutionen
3.6 Individuelle Form
3.7 Wörtliche Form
3.8 Metaphorische Form
4. Gewaltlose Kommunikation
5. Wie sollte kommuniziert werden?
Quellenverzeichnis
Primärquelle:
Sekundärquellen:
Onlinequellen:
1. Einleitung
Was ist Gewalt eigentlich und was kann sie sein, welche Formen von Gewalt gibt es und wo finden wir diese? Es handelt sich hierbei um ein komplexes Gebiet, in dem sich diese Fragen bewegen und sicherlich können die Fragen nicht abschließend beantwortet, das Gebiet nicht abschließend abgesteckt werden. Ein „Abschluss“ als solcher könnte dazu bereits als eine Art von Gewalt gesehen werden, nämlich eine solche, die alles Nachfolgende wegnimmt, verbietet. In Richtung dieser Gedanken soll sich auch die Seminararbeit bewegen. Hier wird nach den Mustern der Gewalt gefragt werden, die sich im menschlichen Miteinander und in den Formen der Kommunikation zeigen können.
Vorweg stellt sich dabei zunächst immer folgende Frage: Was ist Gewalt überhaupt, wie weit fasst die Gewalt? Also was gehört zu ihr, in welchem Rahmen existiert sie und wird sie gedacht, und besonders in welcher Form existiert sie. Schon Adorno macht auf Ansätze zur Gewalt in der Kommunikation aufmerksam. Bei Adorno ist Sprache, die bezeichnet, gewalttätig.1 Eine nicht gewaltvolle Kommunikation ist aus dieser Sicht wohl überhaupt nicht denkbar, da im Grunde mit jedem Wort auch eine Gewaltausübung verbunden ist. Jeder Form der Kommunikation hängt so gesehen eine Form von Gewalt an. Diese beginnt nicht erst bei der Art, wie wir miteinander kommunizieren oder über was wir kommunizieren. Sie beginnt schon bei der Wahl der Sprache und der Form der Kommunikation. Man könnte also behaupten, dass bereits Gewalt entsteht, wenn die Gewalt mit eben jenem Begriff der „Gewalt“ versehen wird. Das greift natürlich noch viel weiter als die Kommunikation untereinander, egal in welcher Form, weil es schon die Substanz der Kommunikation betrifft (d.h. die Sprache, die bennenden Worte). Oder wie Hermann und Kuch in der Einleitung zu ihrem Buch Verletzende Worte zu der Ansicht über Sprache und Gewalt bei Adorno und Derrida sagen: „So sehr sich die Ansätze auch unterscheiden, gemeinsam ist ihnen doch, dass sie die Sprache von einer Gewalt durchzogen sehen, noch bevor überhaupt ein Wort gefallen ist.“2
In Derridas Text „Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion“, dem Nachwort zu seinem Buch Limited Inc, beschäftigt sich der Philosoph unter anderem auch mit der Gewalt und wie diese das Miteinander in Politik und Wissenschaft, aber im Grunde auch in jeder Form der Unterhaltung und Kommunikation beeinflusst. Diese Seminararbeit soll sich damit beschäftigten wie in dem Text ‚Gewalt‘ und ‚gewalttätig‘ verwendet werden, was der Skopus der Gewaltbegriffs dort ist und welche Formen die Gewalt dort annimmt.
2. Gewalt
Beginnen wir zunächst mit einem Einstieg mit etymologischen Hinweisen zum Begriff der Gewalt. Gewalt ist ein hartes Wort und lässt direkt an eine Ungerechtigkeit denken.
Doch woher kommt der Begriff „Gewalt“? Das Wort Gewalt stammt in der Wortherkunft vom althochdeutschen „(gi)walt“ oder „zu waltan“ ab, was „stark sein“ oder „herrschen“ bedeutet und im Brockhaus bezeichnet wird als „die Anwendung von physischem und psychischem Zwang gegenüber Menschen“.3 Im Brockhaus steht zum Begriff „Gewalt“ weiterhin:
„Gewalt umfasst 1) die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen (lateinisch violentia), 2) das Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen (lateinisch potestas). Während z. B. das Englische (violence/power) und das Französische (violence/pouvoir) der sprachlichen Unterscheidung des Lateinischen folgen, vereinigt das Deutsche beide Aspekte. Die Schwierigkeiten im deutschen Sprachgebrauch liegen besonders in der vielfältigen Möglichkeit von Wortzusammensetzungen mit dem Begriff Gewalt; dadurch werden grundlegende Unterschiede zwischen staatlicher Machtbefugnis und Amtsausübung einerseits und über sie hinausgehender Gewaltherrschaft und individueller Gewalttätigkeit andererseits verwischt.“ 4
Bereits im Begriff der Gewalt sind also ganz unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten vorhanden, jedenfalls in der deutschen Sprache. Noch schwieriger ist dies, wenn man bedenkt, dass es sich bei dem Text um eine Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche handelt5, und dort wiederum andere Konnotationen oder gar Deutungen möglich sind. Dies ist an sich bereits schwierig, da jede Sprache andere Worte, Bedeutungen und damit eingehend auch eine andere Auslegung und ein anderes Verständnis von Begriffen hat. Noch weiter gefasst findet sich das wahrscheinlich nicht nur bei den Sprachen, sondern auch bei den Übersetzern. Gibt man zwei Übersetzern den gleichen Text, würden sicherlich zwei unterschiedliche Übersetzungen hervorkommen. Gemeint ist, dass das nicht nur von der Sprache, sondern auch von den einzelnen Individuen abhängt, die eine Sprache nutzen.
Allerdings wird hier in der Arbeit ausschließlich mit dem deutschen Text gearbeitet werden. Die Wahl der Sprache eines Textes determiniert den Verständigungsraum, steckt etwas ab, begrenzt etwas und würde so wohl auch Gewalt ausüben.
Bereits aus der Brockhaus-Definition wird ersichtlich, dass Gewalt nicht nur eine physische Dimension hat. So wird von staatlicher Machtbefugnis, Gewaltherrschaft und individueller Gewalttätigkeit gesprochen. An sich bereits drei sehr unterschiedliche Formen und Arten Gewalt auszuüben. Die erste und wichtigste Erkenntnis ist zunächst, dass sich Gewalt keineswegs auf einen physischen Akt beschränkt. Denn wäre Gewalt nur ein physischer Akt, so könnte das gesprochene Worte gar nicht verletzen. Steffen Hermann und Hannes Kuch formulieren passend, dass auch mit der Sprache Gewalt nicht nur beschrieben, angekündigt oder angedroht, sondern diese auch zugefügt werden kann, auch, wenn diese Gewalt vielleicht zunächst nicht direkt sichtbar wie eine Wunde ist.6 Dabei ist sprachliche Gewalt vielschichtig: sie kann sich nicht nur in Beleidigungen zeigen, sondern auch in „kreativen Formen“, und dabei auch Ironie, Witz oder Anspielungen mit einschließen.7 Problematisch ist hier einiges, meinen Hermann und Kuch: Die Unterscheidung zwischen einem Witz und einer Beleidigung kann fließend sein, und die Schuldzuweisung nie ganz eindeutig, kann sich doch auf eine „Empfindlichkeit des adressierten Subjekts“ berufen werden und Missachtung kann auch ohne direkte Worte zwischen den Zeilen ausgedrückt werden.8 Eine Steigerung dessen wäre wohl auch das schlichte Leugnen oder Übergehen der Gewalt, und das nicht nur im Alltag, denn diese wird nach Hermann und Kuch „auch in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften weitgehend vernachlässigt“9.
Gewalt dabei auf die „schiere physische Materialität“ zu reduzieren, wie es viele Theorien zur Gewaltforschung tun10, ist einschränkend. Das setzt jedoch vor allem ein bestimmtes Verständnis von Gewalt und Sprache voraus, nämlich ein performatives Verständnis. „Sprachliche Gewalt entfaltet sich nicht einfach durch ihre Semantik, sondern ebenso durch die Kraft, die mit ihr kommuniziert wird. Es ist beispielsweise entscheidend, ob ich jemanden als Individuum missachte oder im Namen einer gesellschaftlich legitimierten Instanz.“11
Auch Derrida spricht von Instanzen, aber auch von Gesetzen, Polizeien. Inwiefern diese gewalttätig sind, wird sich genauer zeigen müssen. Dabei wird neben dem Text von Derrida immer wieder auf Verletztende Worte rekurriert werden, um die einzelnen Aspekte und Formen der Gewalt besser umreißen zu können. Es geht in dieser Seminararbeit also um einen vielschichtigen Gewaltbegriff, einen Gewaltbegriff mit mehreren Gesichtern oder Formen. Die Frage lautet primär: Was ist im Text überhaupt Gewalt und wie zeigt sich diese Gewalt?
3. Formen von Gewalt
Bevor die Gewalt analysiert werden kann, stellt sich die Frage: Wie zeigt sich die Gewalt. Oder anders gefragt: Welche Formen von Gewalt gibt es? Die Möglichkeiten, diese einzuteilen, sind zahlreich – hier wird vor allem die Perspektive der performativen Gewalt eingenommen.
Hermann und Kuch unterscheiden dabei drei verschiedene Ansätze zum Verhältnis von Sprache und Gewalt, die da wären „Sprache und Gewalt“, „Gewalt der Sprache“ und „Gewalt durch Sprache“. Bei „Sprache und Gewalt“ geht es um das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander, doch bleibt der Sprache hier vor allem eine beschreibende oder kommentierende Funktion. Bei „Gewalt der Sprache“ geht es „um eine Gewalt, die der Sprache unvermeidlich und schon immer innewohnt“12. Im letzten Ansatz zur „Gewalt durch Sprache“ ist es eben genau die Sprache und das Sprechen, welche den Gewaltakt hervorruft.13
Derrida spricht gleich zu Beginn des Nachworts in einer Aufzählung ebenfalls von möglichen Formen:
„Ich verlange zunächst, daß man versucht, sie so gut wie möglich zu erkennen und zu analysieren, unter den offensichtlichen und verschleierten, institutionellen oder individuellen, wörtlichen oder metaphorischen, aufrichtigen oder scheinheiligen Formen, mit gutem oder schlechtem Gewissen.“14
Die Aufzählung zeigt, in welchem Umfang und welches Ausmaß Derrida dem Begriff der Gewalt zugesteht. Dabei bildet Derrida hier fünf „und“-Konstellationen, die ganz unterschiedliche Aspekte thematisieren, und, teils, wohl auch als Gegensatzpaare verstanden werden können15.
Es soll versucht werden, sich bei der Analyse des Gewaltbegriffs an diese Aufzählung zu halten und die Verwendung von Gewalt oder gewalttätig, die Derrida in seinem Text anspricht, nah am Text zu analysieren und in diese Formen zu sortieren.
3.1 Aufrichtige Form oder guten Gewissens
Dafür halte ich mich im Folgenden nicht ganz an die Reihenfolge von Derridas Aufzählung. Stattdessen wird zunächst mit der aufrichtigen Form begonnen, in der sich die Gewalt zeigen kann. Denn genau um diese Form geht es Derrida in dem Absatz, in welchem das Zitat zu finden ist.
‚Aufrichtige Gewalt‘ mag zunächst etwas fragwürdig anmuten. Ist das überhaupt möglich, aufrichtig Gewalt ausüben? Mit vollem Wissen oder gar (guten) Gewissens? Derrida geht es hierbei wohl nicht darum, mit Absicht Gewalt, egal ob physikalisch oder symbolisch, auszuüben. Vielmehr gilt es für ihn zu erkennen, dass auch akademische Kurse gewaltvoll sind. Wie man an folgendem Zitat erkennen kann: „Man muß die Gewalt, sei sie politischer oder anderer Art, eingestehen, die in den akademischen oder intellektuellen Diskussionen im allgemeinen [sic] am Werk ist.“16 Und gleich im nächsten Satz nimmt Derrida vom reinen Akzeptieren, also dem unreflektierten Hinnehmen der Gewalt wieder Abstand: „Indem ich das sage, befürworte ich nicht die Entfesselung oder das einfache Akzeptieren dieser Gewalt.“17
Zunächst geht es also vor allem erst einmal darum, die Gewalt als solche zu erkennen, anzuerkennen und sichtbar zu machen. Denn erst, wenn man die Gewalt sieht und ihre Existenz und Strukturen anerkennt, kann begonnen werden über eine Verminderung eben dieser nachzudenken.
Die Gewalt in all ihren unterschiedlichen Formen (unter-)sucht Derrida im akademischen Austausch. Genauer gesagt an einem bestimmten Beispiel aus seinem eigenen wissenschaftlichen Austausch unter Philosophen. So nimmt er immer wieder die sehr ausgeuferte Diskussion mit John Rigers Searle als Beispiel.18 Zum einen, weil er dort selbst Erfahrungen mit der Gewalt in akademischen Diskussionen gesammelt hat, aber sicher auch, weil der akademische Austausch gern in öffentlichen Diskursen, also außerhalb der Wissenschaften selbst, als besonders objektiv und neutral angesehen wird.19 Ganz im Gegenteil, meint Derrida, als er über die Diskussionen zwischen ihm und Searle spricht. Er nennt die Gewalt allgegenwärtig und in akademischen Kreisen sogar „[…] auf eine fast unmittelbare Art in der Weise“20 in den Diskussionen vorhanden.
Dies betrifft jeden Diskurs, auch seinen eigenen, vielleicht besonders seinen eigenen, da dieser die Gewalt sichtbar machen möchte: „[…] das war mir immer bewußt, dass (?) der Text von Limited Inc … nicht nur gewalttätig erscheinen mußte (selbst wenn er die Antwort auf eine Form blinder Aggression darstellte, die ich nach wie vor viel schlimmer beurteile), sondern als schwierige Lektüre“.21
Doch sollten auch die Absichten aufrichtig sein. Von aufrichtig spricht Derrida, als er über die Intention seiner Kommunikation mit Searle spricht. „Dieser Wunsch war also sehr aufrichtig“, heißt es dort.22 Dies heißt nicht, dass die Kommunikation dann nicht in irgendeiner Weise fehlschlagen kann, so auch „mit den besten Absichten der (?) Welt“23.
Aufrichtig oder mit gutem Gewissen heißt also mit Wissen über die Gewalt. Weiß man um die Gewalt, kann über Arten nachgedacht werden, diese zu mindern.
3.2 Scheinheilige Form oder schlechten Gewissens
Die gegenteilige Form der Aufrichtigen scheint die scheinheilige Form oder schlechten Gewissens zu sein. Daher werden wir uns nun dieser Form zuwenden.
Geht die aufrichtige Form mit einem Akzeptieren der Existenz der Gewalt einher, so ist die scheinheilige Form wohl das Herunterspielen und Leugnen der Gewalt.
Zunächst bezeichnet Derrida die scheinheilige Form nicht so wortwörtlich in seinem Text und nennt sie also auch nicht explizit gewalttätig. Doch kann Gewalt, wie bereits angesprochen, unterschiedliche Ausformungen haben. Es kommt immer darauf an, wie weit die Gewalt gefasst wird.
Hermann und Kuch teilen die Gewalt in zwei Schwerpunkte ein. Der erste wäre die „symbolische Verletzbarkeit“, welche hinterfragt „warum Menschen durch Worte verwundbar sind“24. Dabei bildet die Sprache eine Art „soziales Band“ zwischen den Menschen, welches die Bedingung für die Verletzbarkeit ist. Der zweite Schwerpunkt ist die „Grammatik sprachlicher Gewalt“, welche sich mit der Gewaltausübung der/durch (?) Sprache auseinandersetzt. Wichtig ist hierbei, dass die Gewalt nicht in der Wahrnehmung des Subjekts liegt, „sondern Effekte einer sozialen Praxis und von gesellschaftlichen Asymmetrien“ sind.25
Wie diese Gewalt schließlich umgesetzt wird und was als solche Umsetzung denkbar ist, wäre die nächste Frage. Hier wäre beispielsweise die Gewalt der Rhetorik nennbar, die Hermann und Kuch als eine „sanfte Form der Machtausübung“ beschreiben, welche „von den adressierten Subjekten gar nicht unbedingt als solche erfahren“26 wird.. Und dann kommt es natürlich wieder auf die Absichten an. Die jeweiligen Formen von Gewalt können mit gutem, aber natürlich auch mit schlechtem Gewissen eingesetzt werden.
Als ein Beispiel von Derrida kann die Art der Kommunikation von Searle gesehen werden, oder genauer dessen Art „zu diskutieren, zu argumentieren, zu polemisieren, in seiner Rhetorik und in den Formen seiner Teilnahme am sozio-kulturellen Leben, kurz in den Modalitäten seiner Umsetzung des sogenannten theoretischen Kerns“27. Es geht in diesem Aspekt aber nicht um die Art und Kommunikation von Searle als Person, dies würde wohl eher zur individuellen Form der Gewalt zählen, sondern darum, dass Searle, wenn er polemisiert und diffamiert, eben genau das Gegenteil von einer aufrichtigen, offenen Auseinandersetzung vollzieht. Während die aufrichtige Form auf eine mit dem Wissen der Gewalt handelnde Form ist, leugnet diese Form hier eben jene.
Unter das scheinheilige Leugnen könnte sich auch das Nichtbeschäftigen mit einer Sache und das aggressive Nichtlesen zählen lassen, oder um noch weiter zu greifen auch das absichtliche Nichtverstehen wollen. Derrida gibt hier quasi ein weiteres Beispiel, wenn er einen weiteren Aspekt seiner Kommunikation mit Searle anspricht: „in Form von manchmal sehr offensichtlichem Äußeren, eher vermied, mich zu lesen und zu verstehen“28.
Zur scheinheiligen Form oder eben dem schlechten Gewissen zählt sicher auch einer der Gedanken hinter folgender Frage von Derrida: „Warum hat die Presse (meistens auf Anregung von Professoren, wenn diese nicht selbst direkt etwas dazu schrieben) die Verleugnungen [ dénégations ], die Lügen, die Diffamierungen, die Andeutungen gegen die Dekonstruktion vervielfacht, indem sie deren Texte auf stupide und ehrenhafte Weise karikierte, ohne sich jemals die Mühe zu machen, herauszufinden, was diese sogenannten dekonstruktiven Texte wirklich sagen?“29 Scheinheilig ist hier wohl das unwissende, aber offensive Verbreiten auf Anregung anderer, wie der Professoren. Das nimmt auch Einfluss auf den Kontext einer Aussage, denn so wird diese nicht von einer einzelnen Person wie einem individuellen Professor, sondern von einem Organ wie einer Zeitschrift ausgesprochen. Zum anderen könnte dies natürlich auch zur verschleierten Form gezählt werden, bedenkt man, dass eben nicht die Person selbst, sondern eine Zeitschrift oder ein Redakteur einer Zeitschrift (vielleicht sogar anonym in Form von Kurznachrichten)30 darüber berichtet.
3.3 Offensichtliche Form
Die erste von Derrida genannte Form, ist die der offensichtlichen Kommunikation. Als erstes fällt da die direkte Kommunikation ein, die immer dann stattfindet, wenn zwei Parteien miteinander auf welchem Weg auch immer kommunizieren.
Wird mündlich miteinander kommuniziert, gibt es zahlreiche Möglichkeiten das Gespräch zu führen. So sind unter anderem Tonart, Gestik und Wortwahl variabel. All diese Faktoren beeinflussen auch, wie etwas wirkt, wie der Rezipient das Gesagte auffasst. Eine vorwurfsvolle Ansprache wird weniger zu einer freundlichen Antwort und einem offenen Ohr für den Inhalt führen, als eine verständnisvollere Wortwahl. Das heißt nicht, dass nicht auch Kritik ausgesprochen werden darf, sondern dass auch diese in anderer Tonlage und weniger harscher Wortwahl vorgetragen werden kann. Ganz vorne in der offensichtlichen Form der Gewalt stehen sicher, nach den physischen, sichtbaren Gewaltformen, Beleidigungen und Diffamierungen. Derrida spricht aber auch gleich zu Beginn die wohlwollende Wortwahl des Briefschreibers und Fragenstellers Gerald Gradd an: „Sie [die Fragen von Gerald Graff] sind ohne Gefälligkeit formuliert, jedoch auch, was ziemlich selten ist und daher verdient, unterstrichen zu werden, mit einer vorsichtigen Höflichkeit.“31 In der Formulierung „ohne Gefälligkeit“, zeigt sich eine gewisse Distanz oder Differenz zwischen den (philosophischen, wissenschaftlichen) Ansichten Derridas und Graffs, doch zugleich findet sich mit der „Höflichkeit“ eine Wortwahl, die möglicherweise mehr in Richtung einer Art des Austauschs geht, welcher von Derrida angestrebt wird.
3.4 Verschleierte Form
Die verschleierte Form ist wohl das, was die offensichtliche Form nicht ist, nämlich verdeckt. Mit der verschleierten Form könnte Derrida die Fragesteller hinter dem Briefschreiber Graff meinen. „Die anonyme Gesellschaft/Aktiengesellschaft dieser Leser, wie Sie sie interpretieren/dolmetschen, umfaßt vor allem diejenigen, die nicht darauf brennen, mich zu verstehen, jedenfalls mir zuzustimmen („einige amerikanische Kritiker Ihrer Arbeit“, „diejenigen, die die Dekonstruktion angreifen“, „die gängigen Kritiker Ihrer Arbeit“, „einige Ihrer Kommentatoren“).“32 Diese verdeckte, eben nicht offene Kontaktaufnahme, könnte als Beispiel für eine verschleierte Form gesehen werden. Hier wird nicht selbst gefragt, sondern durch einen anderen.
Beispielhaft wären hier wohl auch Mobbing und Ironie oder Witze auf Kosten anderer, die eben nicht sofort als eine offensichtliche Beleidigung identifiziert werden können. Die verschleierte Form der Gewalt hat hierbei sicher in sich einige wesensgemäße Überschneidungen mit der scheinheiligen Form. Hermann und Kuch nennen hier als Beispiel ein Lob, welches gleichzeitig eine Beleidigung ist: „Sie ist sauber und ordentlich, obwohl sie Türkin ist.“33 Bei diesem Beispiel entstünde dabei für den Sprecher ein Vorteil, da er sich nämlich immer darauf berufen könnte, eigentlich ein Lob ausgesprochen zu haben. „Dieser Umstand wiegt umso schwerer, weil er oft zum Anlass dafür genommen wird, zu bestreiten, dass es sich bei diesen Handlungen überhaupt um Gewalt handelt.“34 Und da wären wir wieder beim Leugnen der Gewalt, welches in der scheinheiligen Form angesprochen wurde. Sicherlich ist die Gewalt aber auch verschleiert, da sie nicht immer direkt als solche erkannt wird/werden kann.
3.5 Institutionelle Form
Was ist institutionelle Gewalt? Derrida spricht von einer strukturellen Verfügungsgewalt, die den „Standart-Diskurs“ sowie seine „Parasiten“ regiert, und die sich in der Form von Gesetzen35, Erfindungen oder symbolischen Konventionen und Institutionen zeigt.36
Die abstrakte Bezeichnung des „Standart-Diskurses“ und seiner „Parasiten“ ist dabei im Kern eine der großen Differenzen in den Ansichten von Derrida und Searle. Und auch ein großer Scheidepunkt was die Ansicht zur Gewalt selbst betrifft.
Doch was ist eigentlich mit dem „Standart-Diskurs“ gemeint? Hier spricht Derrida, von der Diskurs-Struktur, die gern mit normal, zentral, normativ, oder ideal beschrieben wird. Der „Parasit“ ist dann die Überschreitung, etwas, dass eben nicht in die „normale Struktur“ passt. Und was Derrida damit kritisiert, ist im Kern der Ausschluss, der bei der Sprachakttheorie von Searle passiert und damit auch den Diskurs durch eben diese Strukturierung gewaltsam einschränkt. Ich beginne mit dem Ausschluss.
Sehen wir uns dafür zunächst die beiden Standpunkte oder Blickwinkel von Derrida und Searle an. Während Derrida eine/die bereits angesprochene performative Auffassung von der Sprache vertritt, die eben auch sprachliche Gewalt einschließt, sieht dies aus der Perspektive Searles anders aus. Kuch sieht den größten Unterschied zwischen den beiden sprachphilosophischen Perspektiven darin, dass die Sprechakttheorie sich dort die „Theorien des Performativen gewöhnlich an der produktiven und generativen Dimension des Tuns orientieren“37. Als Beispiel führt Kuch hier an, dass durch einen Sprechakt dem angesprochenen Subjekt ein „neuer Status“, beispielsweise in Form eines Ehrentitels verliehen werden kann. So wird hier zwischen Performativität und Gewalt unterschieden. Wo die eine ist, kann die andere nicht sein, oder anders gesagt: „Wo gesprochen wird, da »schweigen die Waffen«, und umgekehrt beginnen die Waffen scheinbar erst dort zu sprechen, wo nicht mehr miteinander gesprochen wird.“38 Und damit wiederum ist eine sprachliche Gewalt in der Dimension, wie Derrida sie anspricht, gar nicht möglich und auch, und das ist vielleicht der Kern der Missverständnisse und der ausgeuferten Diskussion, gar nicht denkbar.
Zurück zur institutionellen Form: Schließt der „Standart-Diskurs“ den „Parasiten“ per se aus, so wird dieser durch die Regeln, Gesetze und Konventionen quasi verboten und ihm damit eine strukturelle Verfügungsgewalt angetan. Nicht nur das, denn nach Derrida haben die Parasiten oder eben die Nicht-„Standart-Diskurse“ auch eine wichtige Funktion, da diese auch Aufschluss über die Struktur der Gesetze und des "Standart-Diskurses" geben.39 Und jene Regeln, Gesetze und Konventionen wiederum sind „nicht in einer Natur vorgefundene Dinge“ oder wie er es noch weiter spezifiziert: „Ich erinnere nur daran, daß dies keine „natürlichen Realitäten“ sind […].“40
Die institutionelle Form der Gewalt zeigt sich also in Form von Gesetzen und Regeln bspw. in Bezug darauf, was als wissenschaftlich gilt, aber auch in Form von Polizeien, die von Menschen selbst ins Leben gerufen wurden.
3.5.1 Polizei
Werfen wir zunächst einen Blick auf den Begriff ‚Polizei‘ und was darunter verstanden werden sollte. In meinem prinzipiellen Verständnis einer Exekutive wird die Polizei als ausführendes Organ grundsätzlich miteingeschlossen. Was Derrida meint, beschreibt er in einem kurzen Beispiel: „Aber jede zur Beachtung des Gesetzes bestimmte Institution ist eine Polizei. Eine Akademie ist eine Polizei, sei es im Sinne einer Universität oder im Sinne der Académie française, deren wesentliche Aufgabe darin besteht, die Beachtung der französischen Sprache zu bewirken und zu entscheiden, wie die französische Sprache richtig verwendet werden muss.“41 Eine Polizei sorgt also dafür, dass Regeln oder Gesetze eingehalten werden. Diese Einhaltung der Gesetze und Regeln kann auf unterschiedliche Art erfolgen: „Aber zunächst gibt es mehrere Arten, sich auf Regeln zu berufen oder sie zu spezifizieren. Es gibt „theoretische“ Grammatiker, Linguisten und Juristen, die die Norm vortragen, beschreiben, erklären, ohne ihre Anwendung, zumindest ihre sofortige Anwendung mit (physischer oder symbolischer) Gewalt [ force ] zu fordern. Andere Aufgaben bestehen darin, die Einhaltung des Gesetzes zu überwachen und über eine zu diesem Zweck als legitim erachtete Gewalt [ force ] zu verfügen.“42
Unter als „legitim erachteter Gewalt“ ist nicht nur die Exekutivgewalt und die Gewalt der Gesetzgeber gemeint, sondern auch die der kontrollierenden Instanzen wie beispielsweise die der Polizeien. Ein Beispiel: Regeln wie Rechtschreibregeln ordnen also hier beispielsweise den „Standart-Diskurs“ „französische Sprache“. Die Polizei wäre in diesem Falle die Académie française. Mögliche Überschreitungen könnten Wortneuerfindungen sein oder Anglizismen, die immer wieder gebraucht werden, wenn es neuer Erfindungen bedarf, die Namen in einer Sprache benötigen. Die Gewaltausübung dieser kontrollierenden Instanzen wiederum kann auch unterschiedlicher Art sein. Derrida spricht von „physischer oder symbolischer Gewalt“43.
Dabei ist klar herauszustellen, dass eine Polizei nicht immer rein repressiv sein muss: „Andererseits gibt es eben deswegen eine solche Polizei und eine solche Polizei. Es gibt eine auf brutale und eher „physische“ Weise repressive Polizei (die Polizei ist aber niemals rein physisch), und es gibt raffiniertere, „kulturellere“ oder „spirituellere“, edlere Polizeien.“44
Eine Polizei hat durch ihre Macht, die Macht der Überwachung der Gesetze einer Gesellschaft, auch eine Gewalt. Problematisch an der Polizei selbst sieht Derrida, dass diese niemals politisch neutral oder a-politisch sein könnte: „Die politische Bewertung, zum Beispiel der Verdacht, wird immer in einem gegebenen Kontext und von gegebenen Kräften oder Interessen ausgehend formuliert und wird immer gegen eine andere Weise, den Kontext zu bestimmen, formuliert sein und diese Bestimmung aufzwingen. Dieser Kontext ist nicht nur und nicht immer ein diskursiver Kontext. Man spielt immer eine Politik gegen die andere (und vielleicht virtuell eine Polizei gegen die andere).“45
Doch was genau bedeutet es, dass Gesetze und die Polizei nicht per se repressiv sind? Hier unterscheidet Derrida wieder zwischen dem eigentlichen Gesetz, also dem „Standart-Diskurs“ und der Überschreitung von diesem.46 Doch impliziert ein Gesetz eben auch immer die Möglichkeit, dieses Gesetz durch eine Instanz oder Polizei durchsetzen zu lassen, und damit auch immer die Möglichkeit einer Gewaltausübung.
[...]
1 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 16.
2 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 16.
3 https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/gewalt
4 https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/gewalt
5 In dieser Seminararbeit wird mit dem von Werner Rappl und Dagmer Travner vom Französischen ins Deutsche übersetzten Version von Limited Inc gearbeitet.
6 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 7.
7 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 8.
8 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 8.
9 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 9.
10 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 11.
11 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 12.
12 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 13-14.
13 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 13-14.
14 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 173.
15 Inwiefern und in welchem Rahmen das zutreffen kann, wird bei den einzelnen Formen genauer betrachtet.
16 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 173.
17 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 173.
18 Folgend nur für die Kürze noch mit dem Nachnamen bezeichnet.
19 Lettkemann/Wilke/Knoblauch: Knowledge in Action, S. IX: „Im öffentlichen Diskurs wird der Begriff der Wissenskommunikation in der Regel noch unreflektiert und undifferenziert verwendet.“
20 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 171.
21 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 175.
22 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 176.
23 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 214. „Mit den besten Absichten der Welt (und deshalb muß man bei der Zuweisung von Verantwortlichkeit und Schuldhaftigkeit vorsichtig sein) kann ein „ codifier “-Theoretiker diese Pflicht verfehlen.“ So Derrida, als es um die Möglichkeit des Missbrauchs von Gesetzen oder Regeln geht. Mehr zu Gesetzen und Regeln wird in dieser Seminararbeit im Kapitel 3.5 Institutionelle Form besprochen.
24 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 13.
25 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 13.
26 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 18. Wird hier als eine Form von „Gewalt durch Sprache“ gelistet.
27 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 215.
28 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 174. Inwiefern das „Nichtverstehenwollen“ (meine Formulierung) nicht auch der sprachphilosophischen Perspektive und institutionellen Form geschuldet sein kann, wird in dem Kapitel zur institutionellen Form noch einmal aufgegriffen.
29 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 237.
30 Dies ist ein fiktives Beispiel, da es diese Form von Nachrichten zum Zeitpunkt des Erscheinens des Textes noch nicht gab.
31 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 171.
32 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 174.
33 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 8.
34 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 8.
35 Dabei sagt Derrida, dass, wenn er von Gesetz spricht, nicht die Opposition von Natur und Gesetz meint, sondern es vorzieht „von der Iterabilität des Zeichens [ marque ] über die menschlichen speech acts hinaus zu sprechen. In: Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 207.
36 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 206-207.
37 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 10.
38 Hermann/Krämer/Kuch, Verletzende Worte, S. 11.
39 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 206.
40 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 207.
41 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 209.
42 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 208.
43 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 208.
44 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 208-209.
45 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 209.
46 Derrida: Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion, S. 205.