Diese Hausarbeit befasst sich mit der Entstehung des Holocausts. Historiker debattieren hierzu seit Ende der 1960er Jahre und wählen dabei entweder strukturalistische oder intentionalistische Erklärungsmodelle. Während der Strukturalismus von einer Dynamik ausgeht, die sich während des Krieges entwickelt habe und eine steigende Radikalisierung zur Folge hatte, geht der Intentionalismus davon aus, dass Hitler den Holocaust schon sehr früh plante und dieser durch seinen Willen erst zustande kommen konnte. In dieser Arbeit werden beide "Schulen" besprochen, indem Werke ihrer wichtigsten Vertreter dargestellt werden. Abschließend verfolgt die Hausarbeit allerdings den Versuch, von der einseitigen Positionierung, sprich entweder Strukturalismus oder Intentionalismus, wegzukommen und eine Verbindung aus beiden, einen synthetisierenden Ansatz, zu finden.
Zuerst werden die intentionalistischen Interpretationsansätze von Lucy Dawidowicz und Eberhard Jäckel dargelegt. Anschließend werden Unterschiede sowie Übereinstimmungen ausgemacht und die Ansätze kritisch bewertet. Die genauere Betrachtung ihrer Monographien ist für die Beantwortung der Fragestellung essenziell, da diese Hitlers Rolle am Holocaust, anhand seiner eigenen Zitate, teils überzeugend einzuordnen wissen. Im darauffolgenden Kapitel werden Texte von Martin Broszat und Hans Mommsen, zweier strukturalistischer Vertreter, nach denselben Kriterien bewertet wie die von Dawidowicz und Jäckel. Ihre Texte sind von zentraler Bedeutung für den Diskurs, da Mommsen zu Lebzeiten als Hauptverfechter des Strukturalismus galt und Broszats Thesen später von Christopher Browning aufgegriffen wurden, um eine synthetisierende Interpretation zum Entscheidungsprozess des Holocausts vorzulegen. Eben dieser synthetisierende Ansatz wird nach der strukturalistischen und intentionalistischen Deutung genauer betrachtet und alle drei einer abschließenden Evaluation unterzogen. Dabei soll die Hauptfragestellung final beantwortet werden und die Ergiebigkeit von eindeutigen Positionierungen bzw. von synthetisierenden Interpretationsansätzen bewertet werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der „Schulenstreit“: Intentionalismus vs. Strukturalismus
2.1 Entstehungsgeschichte des Diskurses
2.2 Ansichten der intentionalistischen Vertreter
2.3. Ansichten der strukturalistischen Vertreter
2.4 Christopher Brownings synthetisierender Interpretationsansatz
2.5 Errungenschaften des „Schulenstreits“
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum innerhalb und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“1
„Kein Volk entfernt diese Faust (des unerbittlichen Weltjuden) anders von seiner Gurgel als durch das Schwert. Nur die gesammelte, konzentrierte Stärke einer kraftvoll sich aufbäumenden nationalen Leidenschaft vermag der internationalen Völkerversklavung zu trotzen. Ein solcher Vorgang ist und bleibt ein blutiger.“2
Zitate wie diese, wie sie Adolf Hitler in einer Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 oder sogar schon in „Mein Kampf“ von 1925 tätigte, könnten den Anschein erwecken als sei die Frage nach der Entstehung der „Endlösung“ bzw. des Holocausts eindeutig zu beantworten. Zu explizit spricht Hitler seine eliminatorischen Vorstellungen im Umgang mit den Juden an, um ihn nicht für den Urheber des Holocausts zu halten. Nichtsdestotrotz führten Historiker ab den späten 1960er Jahren einen Diskurs über den Entscheidungsprozess der „Endlösung“. Zwar herrscht in der Geschichtswissenschaft mittlerweile ein relativer Konsens darüber, dass ab dem Jahre 1941, im Zuge des gescheiterten „Unternehmen Barbarossas“, wegweisende Entscheidungen zum Holocaust getroffen wurden, jedoch konnte sich nie endgültig darauf geeinigt werden wie genau Hitlers Rolle in diesem Prozess gewertet werden solle.3
In diesem Diskurs der als „Schulenstreit“4 bekannt wurde, standen sich weitestgehend zwei Lager gegenüber. Tim Mason, ein britischer Historiker, benannte die Vertreter der beiden Lager erstmals als Intentionalisten und Funktionalisten5. Ihre Positionen waren gänzlich gegensätzlich. So gehen die Intentionalisten davon aus, dass Hitler den Holocaust schon sehr früh plante und dieser durch seinen Willen erst zustande kommen konnte. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen steht meist die Frage nach der Existenz eines sogenannten „Führerbefehls“, die die meisten von ihnen bejahen. Für ihren Ansatz ist „Mein Kampf“ als ein Art Manifest zu betrachten, da sie dies häufig heranziehen um Hitlers frühe Pläne und Vorstellungen im Umgang mit den Juden zu belegen. Die Strukturalisten hingegen gehen davon aus, dass sich im Verlauf des Krieges eine Dynamik entwickelte und Strukturen entstanden, die eine sich steigernde Radikalisierung zur Folge hatten. Der Holocaust wird hierbei eher als ein spontaner Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation gesehen, anstatt als die Realisierung einer langer Planung.6
Da der „Schulenstreit“ bei weitem nicht den einzigen geschichtstheoretischen Diskurs darstellt, ist es wichtig diese Debatten zu analysieren und auf ihren Mehrwert hin zu überprüfen. Aufgrund der stark gegensätzlichen Argumentationslinien der beiden Fraktionen ist die Hauptfrage die folglich gestellt werden muss die folgende: Bis zu welchem Maß ist eine eindeutige Positionierung in geschichtlichen Diskursen von Nöten oder lassen sich andere Herangehensweisen als ergiebiger bewerten? Um diese Frage zufriedenstellend beantworten zu können und den Untersuchungsschwerpunkt ausreichend zu kontextualisieren, ergeben sich außerdem einige weitere kleine Fragen. Diese lassen sich wie folgt formulieren: Wer sind die wichtigsten Vertreter der beiden Fraktionen? Gibt es interne Unterschiede in den Ansätzen der jeweiligen Fraktionen? Lassen sich Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze ausmachen? Welchen Mehrwert hatte/hat die Debatte für die damalige und heutige Forschung?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden zuerst die intentionalistischen Interpretationsansätze von Lucy Dawidowicz und Eberhard Jäckel dargelegt. Anschließend werden Unterschiede sowie Übereinstimmungen ausgemacht und die Ansätze kritisch bewertet. Die Ansätze der beiden Vertreter lassen sich hauptsächlich in ihren Werken, „Der Krieg gegen die Juden. 1933-1945“, „Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft“ sowie „Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung“, wiederfinden. Die genauere Betrachtung dieser Monographien ist für die Beantwortung der Fragestellung essenziell, da diese Hitlers Rolle am Holocaust, anhand seiner eigenen Zitate, teils überzeugend einzuordnen wissen. Im darauffolgenden Kapitel werden Texte von Martin Broszat7 und Hans Mommsen8, zweier strukturalistischer Vertreter, nach den selben Kriterien bewertet wie die von Dawidowicz und Jäckel. Ihre Texte sind von zentraler Bedeutung für den Diskurs, da Mommsen zu Lebzeiten als Hauptverfechter des Strukturalismus galt und Broszats Thesen später von Christopher Browning aufgegriffen wurden, um eine synthetisierende Interpretation zum Entscheidungsprozess des Holocausts vorzulegen. Eben dieser synthetisierende Ansatz wird nach der strukturalistischen und intentionalistischen Deutung genauer betrachtet und alle drei einer abschließenden Evaluation unterzogen. Dabei soll die Hauptfragestellung final beantwortet werden und die Ergiebigkeit von eindeutigen Positionierungen bzw. von synthetisierenden Interpretationsansätzen bewertet werden.
2. Der „Schulenstreit“: Intentionalismus vs. Strukturalismus
2.1 Entstehungsgeschichte des Diskurses
Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und seinen konkreten Verbrechen wurde im Zuge der 68er-Bewegung von Faschismus- und Totalitarismusdebatten überlagert. Diese analysierten auf politischer und theoretischer Ebene das diktatorische und wirtschaftliche System des NS-Staates. Dabei stand der Mord an den Juden jedoch nicht im Zentrum der Forschung, sondern wurde nur als Nebenerscheinung gewertet.9 Die empirische Unterfütterung dieser Debatte konnte den wissenschaftlichen Standards allerdings nicht standhalten, da keine aussagekräftigen Studien oder Fallbeispiele herangezogen wurden. Zwar wurde das NS-Regime durch den Begriff vergleichbar gemacht, jedoch konnte der Faschismusbegriff, durch seine von Mussolinis Regentschaft geprägte Bedeutung, den Vorkommnissen während der NS-Diktatur nicht gerecht werden.10
Neben der Theorie des Faschismusbegriffs existierte während den Anfängen der Holocaustforschung die verbreitete Ansicht, dass Hitler die Verkörperung des Nationalsozialismus darstelle.11 So schrieb beispielsweise Helmut Heiber 1960: „Denn es gab und gibt keinen Nationalsozialismus außer Hitler. Beides ist identisch. Hitler war der Nationalsozialismus […].“12 Diese verbreitete Ansicht umfasste allerdings noch keine genaue Analyse der Ingangsetzung des Holocausts, sondern nur Hitlers Rolle als Verkörperung der Ideologie. Erstmals 1961 legte Raul Hilberg mit seiner Monographie „Die Vernichtung der europäischen Juden“ einen Ansatz vor, der Hitler nicht als das alleinige Zentrum des Nationalsozialismus interpretierte. Laut Hilberg sei der gesamte „bürokratische Apparat“ mit all seinen „unzählige[n] Entscheidungsträger[n]“ zu betrachten.13 Im Zuge dieses neuen Interpretationsansatzes entwickelten sich ab den späten 60er Jahren neue Tendenzen der Holocaustforschung. Sie wendeten sich von Faschismus- oder Totalitarismusdebatten ab, nahmen Hitler Rolle als Verkörperung einer Ideologie aus dem Zentrum der Betrachtung, intensivierten Hilbergs Deutungen und beschäftigten sich mit dem der „Endlösung“ vorangegangen Entscheidungsprozess und Hitlers Verantwortung in diesem.14
2.2 Ansichten der intentionalistischen Vertreter
2.2.1 Lucy Dawidowicz
Die US-amerikanische Historikerin Lucy Dawidowicz veröffentlichte 1975 ihr Buch „Der Krieg gegen die Juden. 1933-1945“. Sie vertrat die Ansicht Hitler hätte den Holocaust schon spätestens seit der Landsberger Festungshaft von 1923-1924 geplant. All seine politischen Handlungen seien seitdem auf die Verwirklichung dieses Plans ausgerichtet gewesen. Hitler habe als Erster die schon seit dem 19. Jahrhundert existierenden eliminatorischen Überlegungen gegen die Juden realisiert und die Theorie in Praxis umgesetzt.15 In ihre Argumentationslinie baute sie immer wieder geschickt platzierte Zitate Hitlers ein, die keine doppelten Interpretationsmöglichkeit anboten. So nannte sie bspw. ein Zitat Hitlers von 1920 in dem er sagte, dass sein Kampf erst vorbei sei, wenn alle Juden aus dem Deutschen Reich entfernt wurden.16
Aufgrund dieser eindeutigen Zitate argumentierte Dawidowicz, dass die Mehrheit der Deutschen Bevölkerung, all diejenigen die nicht zu seinen überzeugten Anhängern gezählt werden konnten, zu naiv gewesen sei und seine Worte zum Teil als „Fieberphantasien“ abtaten.17 Allerdings bot die Historikerin in ihrem Werk einen Lösungsansatz für das vermeintliche Wegsehen der Bevölkerung. Demnach habe Hitler selten explizit von Juden gesprochen, sondern nutzte meist Codewörter wie „Wucherer“, „Schieber“, „Ausbeuter“ oder „Großkapitalist“.
Außerdem habe er alltägliche Begriffe, wie z.B. den „politischen Antisemitismus“ oder den „Anti-Bolschewismus“ so umgedeutet, dass sie für sein politisches Programm nutzbar gemacht werden konnten.18
Trotz des Anprangerns der deutschen Naivität im Umgang mit Hitlers Reden und Texten und der vermeintlich damit verbundenen Mitschuld der Bevölkerung, kam Dawidowicz zu dem Fazit, Hitler sei als der alleinige Grund für den „Holocaust“ zu sehen.19 Dawidowiczs „Der Krieg gegen die Juden. 1933-1945“ klammert damit wichtige Aspekte auf dem Weg zum und während des Holocausts aus. Unwiderlegbare Zitate Hitlers lassen zwar seine Beteiligung am Holocaust deutlich erkennen, nichtsdestotrotz legte Dawidowicz dadurch eine, dem Historismus entsprechende, rein personalisierende Geschichtsdeutung vor. Die Zentralisierung Hitlers entlastet dabei sowohl verschiedenste Führungspersonen des Regimes, als auch alle anderen Tätergruppen und stellt keinen gänzlich zufriedenstellenden Interpretationsansatz dar.
2.2.2 Eberhard Jäckel
Eberhard Jäckel vertrat in seinen Werken „Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft“ und in „Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung“ von 1969 und 1986, eine ähnliche Argumentation wie auch Lucy Dawidowicz. Schon in einem Brief Hitlers von 1919, wollte er Anzeichen seines übergeordneten Ziels, alle Juden auf der Welt zu vernichten, gefunden haben. In diesem schrieb Hitler, dass das finale Ziel des Antisemitismus die Entfernung der Juden sein müsse. Jegliche Handlungen und Entscheidungen die seitdem vollzogen wurden, würden einen linearen Weg zu diesem Ziel darstellen. Allerdings sah auch Jäckel ein, dass Hitler wahrscheinlich noch nicht 1919 mit dem Massenmord an den Juden gerechnet hatte, sondern zu diesem Zeitpunkt lediglich plante sie aus Deutschland in andere Länder umzusiedeln. Laut Jäckel wurden seine Äußerungen und Ansichten erst in späteren Jahren radikaler.20
Wie Dawidowicz nutzte auch Jäckel zur Untermauerung seiner Argumente regelmäßig Zitate Hitlers. Diese weisen allerdings, wie in „Der Kampf gegen die Juden. 1933-1945“, häufig Codewörter und Euphemismen auf, welche über Hitlers tatsächliche Intentionen hinwegtäuschten. So sprach er bspw. nur von einer „Umklammerung“, von der sich Deutschland lösen müsse, sprach die Umstände und Lösungsansätze dieser Umklammerung jedoch nicht explizit an.21 Zwar gelang es Jäckel Hitlers kontinuierliche Drohungen gegen die Juden wiederzugeben, einen Aspekt der die Stilisierung Hitlers zum alleinigen Täter rechtfertigen könnte, stellt dies allerdings nicht dar.
Jäckels und Dawidowiczs Argumentationslinien können als typisch intentionalistisch beschrieben werden, da beide Hitler die zentrale Rolle in der Planung des „Holocausts“ zuschrieben. Seine Beteiligung an der exakten Durchführung der Tötungen ließen die beiden Historiker zwar unbeantwortet, darüber dass es ohne Hitler den Holocaust nicht gegeben hätte, waren sie sich allerdings einig. Der größte Unterschied ihrer Werke bestand darin, dass Jäckel lediglich von sich radikalisierenden Drohungen sprach, jedoch nicht voraussetzt, dass Hitler schon seit seinen ersten Schriften den Holocaust plante. Anderer Meinung war Dawidowicz. Sie ging davon aus, dass Hitler den „Holocaust“ seit 1920 plante und ihn seit dem durch politische Entscheidungen ermöglichte. Beide Ansichten müssen jedoch kritisiert werden, da sie strukturelle, gruppendynamische Aspekte unbeachtet ließen und damit eine lediglich monokausale Erklärung lieferten, die dem strukturalistischen Ansatz entgegenstand.22 Dieser befasste sich mit genau den Aspekten die den Intentionalisten abhanden gekommen waren und löste damit einen lange und engstirnig geführten Diskurs zwischen den zwei Lagern und ihren Vertretern aus.
2.3. Ansichten der strukturalistischen Vertreter
2.3.1 Martin Broszat
Mit „Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung“ legte Martin Broszat 1969 einen für die Zeit bahnbrechenden strukturalistischen Deutungsansatz vor. Mit diesem beleuchtete er die Entstehung des Holocausts aus gänzlich neuen Perspektiven. In seinen Erklärungen ging er weit über die Person Hitlers hinaus und betrachtete bspw. auch die alltäglichen Handlungsspielräume anderer Gruppierungen. Um den Rahmen dieser Hausarbeit nicht zu sprengen, wird zur Bewertung seiner Argumente allerdings sein Text „Hitler und die Genesis der „Endlösung“. Aus Anlaß der Thesen von David Irving“ herangezogen. In diesem lassen sich seine Ansichten in deutlich komprimierterer Form wiederfinden.
Wie der Titel seines Beitrags in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte schon vermuten lässt, hielt Broszat es, aufgrund revisionistischer Thesen David Irvings, für notwendig erneut seine Auffassung über den Entstehungsprozess des Holocausts kundzutun und damit einer „Enddämonisierung“ Hitlers vorzubeugen.23 Denn Irving vertrat den Standpunkt Hitler habe den „Holocaust“ nicht gewollt und von dessen Durchführung erst sehr spät erfahren. Konträr zur Dezentralisierung Hitlers durch Irving, konstatierte Broszat, dass Hitler durchaus eine entscheidende Rolle zugeschrieben werden müsse, denn „nicht mit Himmler, Bormann und Heydrich, auch nicht mit der NSDAP, hat sich eine Mehrheit des deutschen Volkes enthusiastisch identifiziert, sondern mit Hitler“.24 Diese anfänglich intentionalistisch wirkende Haltung modifizierte er allerdings indem er festhielt, dass zwar Hitlers Weltanschauung erheblichen Einfluss auf die Geschehnisse der NS-Zeit nahm, primär jedoch die Frage geklärt werden müsse unter welchen Bedingungen und strukturellen Voraussetzungen sich diese in die Wirklichkeit umsetzen ließ.25
Anders als die meisten Intentionalisten schloß Broszat einen „Führerbefehl“ zur Durchführung der Endlösung aus, da keine der hochrangigen Personen des NS-Regimes, die als Zeugen aussagten, Zeugnis über einen solchen Befehl ablegen konnte. Zwar sei es als wahrscheinlich anzusehen, dass mündliche Befehle erteilt und weitergeben wurden, die Annahme über die Existenz des „Führerbefehls“ wurde bei ihm jedoch durch eine stufenhafte, sich radikalisierende Durchführung der Endlösung abgelöst.26 Laut Broszat nahmen auch die einzelnen Gauleiter bei der radikalisierten Durchführung eine wichtige Rolle ein. Sie hätten, ohne mit einem direkten Befehl Hitlers konfrontiert zu sein, versucht seine vermeintlichen Wünsche schnellstmöglich umzusetzen und dadurch ein Wettrennen um die „Säuberung“ der einzelnen Gebiete entwickelt.27
[...]
1 Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen: 1932-1945: Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, München 1965, S. 1057f.
2 Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1934, S. 738.
3 Browning, Christopher R.: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt am Main 2001, S. 48f.
4 Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 566.
5 In den folgenden Ausführungen wird der Begriff Strukturalisten anstatt Funktionalisten verwendet, da sie die „[…] Führerdiktatur keineswegs, gut neo-marxistisch, für eine Funktion der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hielten“ siehe dazu: Wehler, Hans-Ulrich: Intentionalisten, Strukturalisten und das Theoriedefizit der Zeigeschichte, in: Frei, Norbert (Hg.), Martin Broszat, der ‘Staat Hitlers’ und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 72
6 Mason, Tim: Intention and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism, in: Hirschfeld, Gerhard; Kettenacker, Lothar (Hg.), Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S. 41f.
7 Sein Interpretationsansatz wird hauptsächlich durch seinen Text „Hitler und die Genesis der ‚Endlösung‘. Aus Anlaß der Thesen von David Irving“ dargestellt
8 Sein Interpretationsansatz wird hauptsächlich durch seinen Text „Die Realisierung des Utopischen: Die ‚Endlösung der Judenfrage’ im ‚Dritten Reich‘“dargestellt
9 Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, S. 380f.
10 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“, in: ders. (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt am Main, 1998, S. 18f.
11 Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, S. 509.
12 Heiber, Helmut: Adolf Hitler. Eine Biographie, Berlin 1960, S.157.
13 Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 1, Frankfurt am Main 1990, S. 56.
14 Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des ‘Holocaust’, S. 19f.
15 Dawidowicz, Lucy: Der Krieg gegen die Juden. 1933-1945, München 1979, S. 15.
16 Ebd., S. 141.
17 Ebd., S. 147
18 Ebd., S. 140f.
19 Ebd., S.152
20 Jäckel, Eberhard: Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, Stuttgart 1986, S. 89f.
21 Jäckel, Eberhard: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart, 1991, S. 64f.
22 Mason: Intention and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism, S. 42.
23 Broszat, Martin: Hitler und die Genesis der Endlösung. Aus Anlaß der Thesen von David Irving, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 25. Jahr., 4. Heft (1977), S. 740.
24 Ebd., S. 745.
25 Ebd., S. 746.
26 Ebd., S. 747.
27 Ebd., S. 748.