Es ist das Ziel dieser Arbeit, herauszukristallisieren, ob die Frauen Kopftuch tragen, weil sie glauben, dass Koran und Islam das verlangen und dass sie sich Gott und seiner Offenbarung zuliebe verschleiern oder ob es andere Gründe gibt: der Zwang einer patriarchalischen Familienstruktur, Erziehung oder islamischer Druck vom Herkunftsland über Institutionen wie die Moschee und Koranschulen.
Es werden in einem ersten Schritt diejenigen Koranstellen, welche Aussagen über den Schleier machen, mit der Hilfe von Fachliteratur und dem Koran untersucht. In einem zweiten Teil werden Aussagen von Kopftuchträgerinnen zum Thema, warum sie sich in Europa bzw. in der Schweiz verschleiern, im Zentrum stehen. Damit das Thema aber besser verknüpft und nachvollziehbar gemacht werden kann, wird interne (d.h. zwischen Muslim*innen) Kritik an den Begründungen, welche die Befürworter*innen bringen, aufgezeigt.
Am Schluss wird die Akzeptanz des Kopftuches auf gesellschaftlicher und gesetzlicher Ebene hier in der Schweiz betrachtet. Für die Analyse wird die Theorie der „Panoptischen männlichen Herrschaft“ von Dietz Gabriella verwendet. Es ist offensichtlich, dass so ein komplexes Thema nicht in einer Proseminararbeit vielfältig und vollendendet erläutert werden kann. Mein Ziel ist aber, mit dieser Proseminararbeit einen Denkanstoss zu liefern, der die Grenzen zwischen kulturellen Phänomenen, Religionsfreiheit und Geschlecht abtastet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Was steht im Koran?
3. Wieso tragen Muslim*innen Kopftuch?
3.1. PRO-ARGUMENTE
3.2. Contra-Argumente
4. Sexualisierung der Frau und panoptische männliche Herrschaft
6. Die Kulturen treffen sich und was dann?
6.1. Vorurteilsfreie Auseinandersetzung
7. Fazit:
8. Literaturverzeichnis
9. Ehrlichkeitserklärung
1. Einleitung
„Heimat ist, was man daraus macht“, sagte Walter Leimgruber in einem Interview. Für Leimgruber ist Multikulti ein Zauberwort aber es funktioniere leider nicht nur mit der Toleranz und dem gegenseitigen Verständnis, weil die Leute von anderen Kulturen kommen und andere Vorstellungen haben und weil die Migrant*innen ein Stück Heimat mitbringen, das mit den neuen Normen und Werten der Gesellschaft überhaupt nicht zusammenpasse.
Mitte März 2008 ist unsere damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in den Iran geflogen, um einen langfristigen Gasliefervertrag zwischen dem Iran und der Schweiz zu unterzeichnen. Sie wurde in Teheran vom iranischen Präsidenten empfangen. Anscheinend war es eine Bedingung der iranischen Regierung gewesen, dass Calmy-Rey sich vor dem Gespräch verschleiere (Manea 2009: 171f). Calmy-Rey bedeckte sich und sagte, dass sie damit lediglich die Regeln des Landes einhalte. Das Kopftuch sei kein Zeichen der Unterordnung, antwortete sie auf eine entsprechende Frage (Manea 2009:172). Die Bilder der lachenden Aussenministerin mit Kopftuch neben Mahmud Ahmadinejad gingen um die Welt und erregten die Gemüter. Außenministerin Calmy-Rey wurde dafür von Schweizer Politiker*innen sowie von Iraner*innen scharf kritisiert (Manea 2009:172). Eine iranische Philosophiestudentin, überrascht von dem Ereignis, erklärte: „Ich bin enttäuscht von dieser Frau“ (Manea 2009:172), und sagte weiter: „Wir kämpfen weiter gegen den Kopftuchzwang, auch wenn westliche Politikerinnen ihre Unterwerfung offenbar freiwillig zelebrieren“ (Manea 2009:172). Zwei Jahre später schreibt der Tagesanzeiger: „Noch sieht man Burkas in der Schweiz selten, doch sie nehmen zu, wenn auch nur geringfügig“ (Bühlmann 2010: Heft 31, 23). In diesem Artikel wird auf etwas Interessantes aufmerksam gemacht: Während die Konvertitinnen und arabische Touristinnen ihre ganzen Körper verschleiern, legen dagegen die übergesiedelten Musliminnen die Burka gerne ab (Bühlmann 2010: Heft 31, 23). Interessant ist es, zu sehen, dass die Bedeutung des Schleiers in den 60er und 70er Jahren bei z.B. Türkischen Migrantinnen in Deutschland aber auch in der Schweiz pragmatischer war als heute. Für sie war es kein Problem, am Arbeitsplatz das Kopftuch abzulegen. Und das Kopftuch wurde sehr locker gebraucht und nicht für den Zweck, die Haare zu bedecken, benutzt (Ates 2009: 120). Es ist das Ziel dieser Arbeit, herauszukristallisieren, ob die Frauen Kopftuch tragen, weil sie glauben, dass Koran und Islam das verlangen und dass sie sich Gott und seiner Offenbarung zuliebe verschleiern oder ob es andere Gründe gibt: der Zwang einer patriarchalischen Familienstruktur, Erziehung oder islamischer Druck vom Herkunftsland über Institutionen wie die Moschee und Koranschulen.
Es werden in einem ersten Schritt diejenigen Koranstellen, welche Aussagen über den Schleier machen, mit der Hilfe von Fachliteratur und dem Koran untersucht. In einem zweiten Teil werden Aussagen von Kopftuchträgerinnen zum Thema, warum sie sich in Europa bzw. in der Schweiz verschleiern, im Zentrum stehen. Damit das Thema aber besser verknüpft und nachvollziehbar gemacht werden kann, wird interne (d.h. zwischen Muslim*innen) Kritik an den Begründungen, welche die Befürworter*innen bringen, aufgezeigt. Am Schluss wird die Akzeptanz des Kopftuches auf gesellschaftlicher und gesetzlicher Ebene hier in der Schweiz betrachtet. Für die Analyse wird die Theorie der „Panoptischen männlichen Herrschaft“ von Dietz Gabriella verwendet. Es ist offensichtlich, dass so ein komplexes Thema nicht in einer Proseminararbeit vielfältig und vollendendet erläutert werden kann. Mein Ziel ist aber, mit dieser Proseminararbeit einen Denkanstoss zu liefern, der die Grenzen zwischen kulturellen Phänomenen, Religionsfreiheit und Geschlecht abtastet.
2. Was steht im Koran?
Nicht nur in Europa, sondern auch in der Schweiz werden mit dem Kopftuch ganz unterschiedliche Bedeutungen assoziiert: ein Symbol für die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, kultureller Brauch, Tradition, oder auch ein Merkmal der religiösen Identität. Werfen wir einen Blick auf die Argumente, warum Muslim*innen Kopftuch tragen. Muslimische Kopftuchträger*innen begründen und argumentieren in erster Linie mit den Vorschriften, die der Koran enthält. Als zweite Quelle werden die Hadithen analysiert, denen zufolge Frauen sich bedecken müssen. Wie diese Bedeckung aussehen soll und in welcher Situation die Bedeckungspflicht wahrgenommen werden muss, ist auch unter Verfechter*innen nicht klar. Je nach Übersetzung, Deutungen des Korans und je nach kulturellem Umfeld, politischer Situation, historischer Epoche, sozialer Schicht und religiöser Ausrichtung wird das Thema noch komplizierter, weil sich islamische Theologie und Wissenschaftler*innen untereinander nicht einigen können (Prodolliet 2004: Heft 20, 169f). So zum Beispiel bei der Frage ob die Verhüllung nur während des Gebets Pflicht ist, oder aber sobald die Frauen ihr Haus verlassen. Aber eins ist klar: das Kopftuch ist in der islamischen Welt weit verbreitet. Mehrheitlich gläubige Muslim*innen begründen das Kopftuchtragen folgendermassen: Es sei ein Wille Allahs und es stehe in Koran, dass der Schleier den gläubigen Frauen Pflicht ist. Im Koran gibt es drei Suren, die je nach Interpretation mit dem Kopftuch in Verbindung gebracht werden können:
„Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß Ihre Scham bedeckt ist (w. sie sollen ihre Scham bewahren), den Schmuck den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemand(w. nicht) offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen(d.h. den Frauen, mit denen sie Umgang pflegen?), ihren Sklavinnen, den männlichen Bediensteten(w. Gefolgsleuten), die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen. Und sie sollen nicht mit ihren Beinen aneinanderschlagen und damit auf den Schmuck aufmerksam machen, den sie (durch die Kleidung) verborgen (an ihnen) tragen (w. damit man merkt, was sie von ihrem Schmuck geheimhalten). Und wendet euch allesamt (reumütig) wieder Allah zu, ihr Gläubigen Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen” (Paret 24, Verse 31).
Es ist festzuhalten, dass in diesen Koranversen keine spezifische Kleidung verlangt wird. Es gibt in keiner Weise eine Beschreibung über das Kopftuch, oder dass die Frauen ihre Haare bedecken bzw. Kopftuch tragen sollen. Es wird eine Art Tuch oder Schal genannt, das zur Bedeckung des Busens verwendet werden soll. In diesen Koranversen wird aber die Frau als sexuelles Objekt dargestellt. Damit dies verständlich gemacht werden kann, sollen die Gesellschaftsstruktur und die Lebensbedingungen des Zeitabschnitts Mohammads historisch analysiert werden. Mit der Sure 33, Vers 60 wird die Botschaft des erwähnten Koranverses deutlicher:
„Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, daß sie (als ehrbare Frauen) erkannt und daraufhin nicht belästigt werden. Allah aber ist barmherzig und bereit zu vergeben“ (Paret Sure 33 Vers, 59).
Damit die Frauen auf der Straße nicht von Männern sexuell belästigt würden, sollten sie ihr Gewand über den Kopf herunterziehen. Die Frauen, die das machten wurden damals üblicherweise als ehrbare, wohlhabende Frauen im Vergleich zu Armen und Sklaven betrachtet. Dieses Gewand wurde als Schutzmittel verstanden, weil es damals keine Gesetze wie heute gab, die die individuellen Rechte der Menschen, besonders Rechte von Frauen, schützte (Al-Sonbati 2016). Es war nicht eine religiöse Pflicht oder ein Zwang, sondern eine Situation und ein von der Gesellschaftsstruktur abhängiges Schutzmittel.
In einem weiteren Koranvers wird zuerst erklärt, was bei dem Besuch des Haus des Propheten beachtet werden, und wie man sich im Haus verhalten soll. Der Koranvers endet folgendermassen:
„(...) Und wenn ihr sie die Gattinnen des Propheten(w.sie) um (irgend) etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut das hinter einem Vorhang! Auf diese Weise bleibt euer Herz und ihr Herz eher rein (w. Das ist reiner für euer und ihr Herz). Und ihr dürft den Gesandten Gottes nicht belästigen und seine Gattinnen, wenn er (einmal) nicht mehr da ist, in alle Zukunft nicht heiraten. Das würde bei Gott schwer wiegen (w. Das wäre bei Gott gewaltig)“ (Paret Sure 33, Vers 53).
Der wichtigste und entscheidende Satz dieses Verses ist wie folgt: „wenn ihr sie (die Gattinnen des Propheten) um (irgend) etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut das hinter einem Vorhang1 !“ Auch in diesen Koranversen wird kein Schleier beschrieben, sondern ein Vorhang. Die muslimischen Rechtsgelehrte aber behaupten, dass nicht von einem Vorhang sondern von einer Verschleierung die Rede ist, obwohl in der Entstehungszeit des Islams Hidschāb 2 nie Kopftuch oder Verschleierung bedeutete. Auch die Kulturhistoriker*innen weisen darauf hin, dass es zur Zeit Mohammeds und vor dem Islam in Herrschaftshöfen des Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeerraums auch bei Byzantinern üblich war, dass Frauen eines Herrschers sich hinter einem Vorhang vor den Blicken der Besucher verbergen sollten. Nachdem Mohammed sich sowohl als Prophet als auch als Herrschaft etabliert hatte, wollte er möglicherweise auch für seine Frauen die gleiche Regel erstellen, die er von seiner Karawanenarbeit (besonders in Syrien unter der Herrschaft der Byzantiner) erfahren hatte. Im Mittelmeerraum, in westasiatischen Regionen und auf der arabischen Halbinsel war das Tragen eines Kopftuchs vor dem Aufkommen des Islams bereits verbreitet. Erst die konsequente Praxis des Schleiertragens durch muslimische Frauen (nicht freiwillig, sondern weil der Schleier durch eine konservative Koranauslegung als religiöse Pflicht dargestellt wurde) hat das Kopftuch zu einem Symbol der islamischen Religion gemacht (Prodilliet 2004, Heft 20, 170).
Wenn die oben erwähnten drei Surenabschnitte angeschaut werden, kann zusammenfassend gesagt werden, dass aus keiner dieser Suren eine klare und eindeutige Aufforderung zum Schleiertragen abzuleiten ist. Wenn diese Koranverse in Frage genau geprüft werden, wird auch deutlicher, dass längst nicht klar ist, wer sich an diese Regeln halten muss: „Frauen von Mohammed oder die Gläubigen einer bestimmten Schicht, nämlich die „Ehrbaren Frauen“ in Abgrenzung zu den Sklavinnen, und in welche Situation dies notwendig sei“ (Prodolliet 2010: Heft 20, 170). Neben den Korantexten stützen sich Islamgelehrte normalerweise auf die Bestimmungen des Hadith , der Überlieferung der Worte und der als vorbildhaft erachteten Handlungsweisen des Propheten, die 100-150 Jahre nach Mohammed niedergeschrieben wurden. Sowohl bei der Auslegung des Korans als auch beim Interpretieren der Überlieferungen haben sich Religionsgelehrte auf Bekleidungsvorschriften für die Frau festgelegt. Was Muslim*innen, die aus religiösen Gründen den Schleier tragen und verteidigen mehrheitlich „nicht wissen, ist, dass die authentische Identität einer Muslima keinesfalls darin besteht, sich zu verschleiern. Ihnen ist auch nicht bekannt, dass der Schleier gar nicht islamischen Ursprungs ist“ (Al Saadawi 2002: 89). Auch wenn sich Experten streiten, ob sich aus dem Koran die Pflicht ergibt, ein Kopftuch zu tragen, sind zumindest kopftuchtragende Frauen aus unterschiedlichen Gründen von dieser konservativen Auslegung überzeugt.
Weiterhin soll auch gesagt werden, dass im Koran betont wird, dass Menschen in ihrem Glauben und dessen Praxis frei sein sollen: „In der Religion gibt es keinen Zwang (d.h. man kann niemand zum (rechten) Glauben zwingen)“ (Paret Sure 2, Vers 256). Wichtig ist in dieser Sure, dass nicht an Götzen, sondern an Allah geglaubt wird. „(...)Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge nicht glauben!“ (Paret Sure 18, Vers 29) Allah gilt folglich als barmherzig, verzeihend und als Vorbild. Das würde bedeuten, dass eine Muslima ohne Kopftuch ihren Glauben in Freiheit ausleben können sollte.
3. Wieso tragen Muslim*innen Kopftuch?
3.1. Pro-Argumente
Von aussen betrachtet kann die Gesellschaft bzw. Gemeinschaft von Schleierträgerinnen homogen erscheinen. Das ist aber eine oberflächliche Betrachtung, die zu Irrtum führt. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, wieso die Frauen Kopftuch tragen:
1. Aus Gründen der Religiosität, abgeleitet aus Koranversen, Hadithen und Erklärungen von Islamgelehrten.2. Druck und Zwang durch die Erziehung und Familienstrukturen sowie durch männliche Dominanz.
3. Als Zeichen dafür, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und zu zeigen, dass der weibliche Körper nicht der Gesellschaft, sondern der Frau gehört.
4. Als politische Entscheidung: Das Ziel des politischen Islam ist es, überall wo Muslime leben, eine islamisch geprägte Gesellschaft aufbauen. Islamist*innen stellen sich gegen einen westlichen Materialismus, Lebensstil und Hedonismus, welcher nur von Egoismus erfüllt und an materiellen Genüssen orientiert sei.
5. Als religiös-kulturelle Tradition: Das Kopftuch kann auch als Ausdruck der Zugehörigkeit zur religiösen-kulturellen Tradition des Herkunftslandes der Muslima getragen werden.
6. Als öffentliche Bekenntnis zum Islam als Demonstration gegen die mediale Darstellung des Islams als gewalttätige Religion: Damit zeigen sie, dass sie Muslim*innen sind, die nichts mit Terror zu tun haben und dass das Kopftuch Teil ihrer Persönlichkeit ist.
7. Abgrenzung gegenüber einer nichtmuslimischen Gesellschaft, besonders, wenn sich die Frauen nicht akzeptiert und abgelehnt fühlen.
8. Als schickes modisches Accessoire.
Wie bereits in der Einleitung erwähnt worden ist sind für diese Arbeit die ersten vier Punkte von besonderer Relevanz, weil der Kopftuchstreit in der Schweiz mehrheitlich über diese Punkte geführt wird. Ein weiterer möglicher Grund ist Druck des politischen Islams über Institutionen (Moschee, Koranschulen, Vereine) im Migrationsland.
Werfen wir jetzt einen Blick auf ein paar Aussagen von Befürworterinnen des Schleiers. Anschliessend wird eine auf diese Argumente fokussierte Kritik geäussert. Eine muslimische Universitätsstudentin aus Deutschland erzählt, warum sie das Kopftuch trägt:
„Für mich ist das eine Form der Befreiung. Ich kann mich besser entfalten und werde auch ganz anders behandelt. Hm, das ist ziemlich interessant, wenn du bloss in die Bibliothek gehst, wie sich da die Araber, Palästinenser, die Türken gegenüber einer verschleierten Frau benehmen. [...] Manche fressen andere Frauen (ohne Kopftuch) mit den Blicken auf, und wenn ich lang komme, trauen sie sich nicht hochzugucken” (Dietze 2009: 40.).
Der religiöse Gelehrte, der Frankfurter Imam Hadayatullah Hübsch, beantwortet die Frage, warum eine Frau Kopftuch tragen sollte, folgendermassen: „Die Frau signalisiert mit dem Kopftuch, dass sie kein Interesse an Flirts hat und keine Beziehungen zu fremden Männern haben möchte, in denen Sexualität eine Rolle spielt” (Ates 2009: 120).
Die Journalistin Khola Maryam Hübsch, die eine ausgesprochene Befürworterin des Schleiers ist, gibt folgende Gründe an, um sich zu bedecken: „Das Kopftuch ist ein Symbol der Emanzipation der Frau. Die Kopftuchträgerinnen wehren sich gegen die Sexualisierung einer Gesellschaft, in der Frauen zum verfügbaren Sexualobjekt erzogen werden und Männer die emotionale Vorherrschaft einnehmen” (Maryam Hübsch 2004: 22).
Es gibt Aussagen, die von islamischen Feministinnen oder Akademikerinnen gemacht werden, in denen sie behaupten, dass sie das Kopftuch nicht als Form der Unterdrückung der Frauen, sondern als Symbol der Selbstbestimmung und der Freiheit betrachten. Laut der muslimischen Autorin Leila Massoudi ist unter Burka und Schleier ein modernes, selbstbestimmtes Leben möglich. Sie beklagt sich über den Westen und über die zunehmende „sexuelle Verdinglichung“ des westlichen Menschen indem sie schreibt „Das Kopftuch wird (...) zum Ausdruck der Selbstbestimmtheit der muslimischen Frau, die Ihren Körper verhüllt, weil er ihr, nicht aber der Gesellschaft gehört“ (Ates 2009: 119).
3.2. Contra-Argumente
Sowohl diejenigen europäischen Feministinnen, die das Kopftuch als Religionsfreiheit bezeichnen als auch muslimische Feministinnen, die das Kopftuch als Emanzipation und Selbstbestimmtheit der Frauen deuten, sollen sich laut Birgit Rommelspacher den Begriff der Geschlechtertrennung vor Augen führen, weil dieser einer der Kernthemen des Feminismus ist: In diesem Kontext signalisiere die muslimische Frau eine eindeutige Verschiedenheit der Geschlechter. Die Frage, wie sich westliche Feministinnen gegenüber dem Kopftuch verhalten sollen, ist ziemlich ungeklärt:
„Einerseits gingen zwar die meisten Feministinnen davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht keine gesellschaftliche Relevanz mehr habe. (...) Andererseits aber „(...)rühre die muslimische Frau, die mit ihrem Kopftuch die Verschiedenheit der Geschlechter betone, an einen allergischen Punkt in der westlichen Debatte” (Rifa’at Lenzin 2010: Heft 31, 15).
Wie oben erwähnt wurde, begründen sowohl offizielle islamische Publikationen als auch die Frauen, die Kopftuch tragen, ihre Argumente meistens mit dem sexuell geladenen männlichen Blick und der von denen dominierten Gesellschaft. Laut Seyran Ates (2009: 119) kann das Kopftuch kein Symbol für Freiheit sein, weil erst durch die Verhüllung die Frau zum sexuellen Objekt degradiert wird: Die Argumente die oben erwähnt wurden, nämlich, dass Frauen durch das Kopftuch zeigen, dass sie keinen Sex und Flirt mit fremden Männern wollen, können so gelesen werden: Die Frauen, die unabhängig von ihrem Glauben kein Kopftuch tragen, wollen Sex und Flirt mit fremden Männern! Interessanterweise fällt es hier in Europa aber auch in islamischen Ländern auf, dass viele Muslim*innen, die Kopftuch tragen, sich Parfum kaufen und Make-up-Puder benutzen, um ihren braunen Teint zu verbergen. Sie tragen z.B. auch hohe Schuhe, die in keiner Weise für sie oder für die unwegsamen Strassen, auf denen sie sich bewegen, geeignet sind (Al Saadawi: 2002: 165.). Das zeigt auch, dass auch verschleierte Frauen eigentlich kein Problem damit haben, wenn die Männer sie schön finden, anschauen oder flirten wollen, was auch nicht ein Produkt des Westens ist, sondern der Natur. Wenn die Frauen aber untereinander sind, tragen sie kein Kopftuch und ihnen ist egal, wie sie aussehen. Es sieht so aus, dass religiöse Frauen, die sich verschleiern, oft ein widersprüchliches Verhalten zwischen ihrem Glauben und individuellen Wünschen haben: „Um den moralischen und religiösen System konform zu gehen, sollen sie sich auch zeigen und ihren Körper zu Schau stellen (modisch, weiblich, schön), um der Werbung in den Medien und globalen Kultur zu entsprechen“ (Al Saadawi 2002: 166). Die Nacktheit und der Schleier, „beide gehen davon aus, dass der weibliche Körper keinen Verstand besitzt und bedeckt oder unbedeckt sein soll, um nationalen oder internationalen kapitalistischen Interessen zu dienen“ (Al Saadawi 2002: 166). Es soll nicht der Körper verschleiert werden, sondern der Verstand. Ein Slogan der Arab Women’s Solidarity Association lautet: „Entschleiert den Verstand“ (Al Saadawi 2002: 92).
4. Sexualisierung der Frau und panoptische männliche Herrschaft
Egal, was für ein Thema im Islam in Bezug auf Frauen behandelt wird, es wird meist ersichtlich, dass islamische Frauen nicht als Subjekt, sondern als sexuelles Objekt angesehen werden: Anforderungen an die Frauen wie Gehorsamkeit, Kleidervorschriften, Kopftuch, Jungfräulichkeit, Familienehre etc. haben alle mit der Sexualität bzw. mit dem „Male Gaze3 “(Dietze 2009: 40)zu tun. Diese Anforderungen werden durch den Koran, die Hadithe und die Sunna je nach Interpretation anders legitimiert. Auch gebildete Frauen, die selbstbewusst sagen, dass sie freiwillig das Kopftuch tragen, weil es eine Befreiungsform für sie ist, begründen den Wunsch, sich zu verschleiern, oft damit, dass es ihre Religion verlangt, weil sie sich vom männlichen Blick schützen müssen und zeigen wollen, dass sie als Subjekt und nicht als sexuelles Objekt in diese männlich dominierte Gesellschaft gehören. Diese Argumente scheinen eher problematisch und einseitig, weil solche Behauptungen bewusst oder unbewusst eine wichtige Realität hinter sich verstecken: Es ist wahr, dass in manchen Suren Frauen mit den Männern gleichgestellt sind, aber praktisch werden sie am Ende immer als schuldig bezeichnet. Beispielweise die Sure (Paret Sure 24 Vers 3), die sagt, dass, die Männer und Frauen bei einem Kapitalverbrechen mit demselben Strafmass belegt werden, ist in der Praxis anders interpretiert, weil die Frauen in der Regel verantwortlich gemacht werden, wenn etwas passiert. Warum tragen immer die Frauen die Hauptschuld, wenn sie gleich sind? Befasst man sich mit Literatur zur Ehe und Familie in der islamischen Welt sowie mit Abhandlungen muslimischer Theologen, kann man sehen, dass immer wieder Wesensunterschiede von Mann und Frau zum Hauptthema gemacht werden. Der Mann wird generell als hilflos dargestellt, wenn es um sexuelle Themen geht, die Frau hingegen wird als Verführerin des Mannes betrachtet. Wenn die Frau durch ihre Anwesenheit und ihre Reize ihre Wirkung auf den Mann ausübt, verliert der rational orientierte und intellektuell überlegene Mann seine Selbstkontrolle und erliegt der intellektuell schwächeren, emotional labileren Frau. Darin liegt ihre Macht. (Schirmmacher und Stegemann 2004: 163f) Wie und mit welchen Elementen die Frauen die intellektuellen Männer verführen können: „Insbesondere das unbedeckte offen getragene weibliche Haar gilt als unwiderstehlicher sexueller Reiz” (Schirmmacher und Stegemann 2004: 164).
Anders als die Befürworterinnen des Kopftuches, die behaupten, dass sie Kopftuch tragen müssen, weil eine sexualisierte Gesellschaft und sexuell gierige Männer sie stören, schreiben sehr viele Theologen nicht den Männern, sondern den Frauen eine grosse sexuelle Gier zu, die beschränkt werden muss .
„Je weniger die Frau Gelegenheit erhält, unkontrolliert Zugang zum öffentlichen Bereich zu erhalten, je weniger wird sie ihre-potenziell immer-unmoralischen Absichten verfolgen können. Da die Frau sich weder selbst ausreichend beherrschen kann, noch genügend Willen und Urteilsvermögen besitzt, um sich rational zu kontrollieren, da sie zu dem von ihrem Wesen her listig, untreu veranlagt und rebellisch ist, muss der Mann die Frau seinem Schutz und seiner Kontrolle unterstellen, um die gesellschaftliche Ordnung zu wahren“ (Schirmmacher und Stegemann 2004: 164).
Wie wir aber von der Studentin (Hatice) erfahren haben, sind es eigentlich die muslimischen Männer mit ihren Blicken, die sie gestört haben, weshalb sie sich dann für ein Kopftuch entschieden hat. Dieser Auslegung kann aber durchaus als problematisch angesehen werden, weil dadurch die Männer pauschal beschuldigt werden, als ob alle muslimischen Männer nur an Sex zu denken oder die Frauen als Sexobjekt bewerten, wenn sie Frauen anschauen. Zweitens ist eine solche Handlung nicht eine selbstgewählte Methode ist, wie es gerne behauptet wird, weil somit den konservativen religiösen Männern oder den Islamisten ein Gefallen getan wird, da diese das Kopftuch ja eigentlich fordern. Dieses Verhalten untergräbt die Kampfargumente der Linken, der Feministinnen, der Liberalen, die sich gegen alle Formen der Unterdrückung von Frauen einsetzen, dadurch, dass von manchen Frauen gesagt wird, dass das Kopftuch zu tragen oder sich zu verhüllen ein Ausdruck der Selbstbestimmtheit der muslimischen Frau sei. Das wird dann unter Religionsfreiheit eingestuft und mit Kulturrelativismus erklärt: Wir dürfen nichts dagegen tun und sagen, weil die Menschen frei sind in ihrem Glauben. Messahli sagt in einem Interview: „Wir reagieren überhaupt nicht! Wir lassen es einfach geschehen und begründen unsere Passivität mit dem Schlagwort Religionsfreiheit” (Keller-Messahli 2017) Seyran Ates kommentiert ebenfalls: „Jeder aufgeklärte Mensch muss sich hier fragen, warum die Männer nicht selbst die Verantwortung für ihre überschießenden Hormone übernehmen sollen“ (Ates 2009: 120).
Frauen werden als Unruhestifterinnen stigmatisiert und haben einem einzigen Mann zu gehören. Das Recht auf Selbstbestimmung wird ihnen damit genommen. (Necla Kelek 2006). Frau Khola Maryam Hübsch hingegen findet es lächerlich, zu behaupten, dass die Frauen durch das Kopftuch zu sexualisierten Wesen werden. Der „gesellschaftliche Kontext“, den Necla Kelek und Alice Schwarzer für muslimische Frauen zeigen möchten, habe mit den Geschehnissen im Iran von 1979 zu tun hat aber nicht mit den Frauen, die in Europa bzw. in Deutschland lebten. „Es ist [deshalb] für eine Muslimin außerhalb diktatorischer Regime nicht nachvollziehbar, warum ihr Kopftuch irgendetwas mit dem Mißbrauche des koranischen Kopftuchgebots durch den Fundamentalisten zu tun haben sollte” (Mariam-Hübsch 2004: 29).
Die Gründe, weshalb die Frauen hier in Europa bzw. in der Schweiz das Kopftuch tragen wollen, wird von Kelek als eine nicht individuelle, sondern kollektive Entscheidung betrachtet: Kelek zufolge ist sich zu Verschleiern im Kern Teil einer politischen Bewegung und eine Flagge der Islamisten. Wenn die Kleider- und Kopftuchmodelle von muslimischen Migrantinnen beobachtet werden, wird ersichtlich, wie sie sich in den letzten Jahren geändert haben. Als Beispiel weist Kelek auf die Veränderungsprozesse der Türkei hin, wo Erdogan seit 2003 türkischer Ministerpräsident ist: Seit Erdogan an der Regierung ist, „(...) gibt es eine neue Form der Verhüllung auch bei türkischen Migrantinnen in Deutschland - die langen Mäntel und die Kopftücher. Das kommt ganz klar von den islamistischen Parteien. Wer sich in der Türkei so verhüllt, der wählt auch die AKP. Das ist so.“
Enorm grosse Teile der Moscheen in der Schweiz sind von den Golfstaaten von allem von Saudi Arabien, Erdogan und seiner Partei AKP unterstützt; dadurch wird die islamische Gesellschaft hier beobachtet, beeinflusst und kontrolliert (Keller-Messahli 2017). Messahli bringt als weiteres Argument die ökonomische Abhängigkeit und den dazugehörigen sozialen Druck der islamischen Gesellschaft und der Institutionen: In vielen Milieus ist die Frau ökonomisch abhängig von ihrem Mann und deshalb ist sie auch emotional und sozial abhängig, weil er arbeitet und das Geld heimbringt und somit auch über das Zusammenleben bestimmen kann. „Das schafft eine starke Abhängigkeit, die sich durch alles hindurchzieht. Das sieht man auch bei den Ehrenmorden. Wenn ein Mann beschliesst, dass die Tochter Schande über die Familie gebracht hat und sterben muss, so machen die Frauen oft mit“ (Keller-Messahli 2017) Auch laut Kelek (2017) ist das wichtigste Druckmittel der Gesellschaft auf die Muslim*innen die Familie. In orientalisch-muslimischen Gesellschaften heisst Familie die Großfamilie, die patriarchalisch organisiert und stark mit der Sippe und Normen des Islams geprägt ist. Mit dem Familiennachzug wird islamisches Familiensystem importiert, „(…) das erst zu Parallelgesellschaften und zu Integrationsproblemen führt.“ Kelek fügt hinzu: „Niemand braucht sich mehr anzupassen, man kann unter sich bleiben und Traditionen wie die Kinderehe, Frauenunterdrückung oder Gebärzwang weiterleben.“ (Kelek 2017) Mit der Familie werden auch Werte und Normen vom Islam in das neue Einwanderungsland importiert. Das bedeutet im Islam das Herrschaftssystem der Männer: Nach Necla Kelek (2017) ist die Ehefrau eine Sexualpartnerin und nicht eine Lebenspartnerin.
Mädchen würden früh verheiratet und würden bereits als Kinder Mutter. Dies verdeutlichen folgende in der islamischen Gesellschaft gebräuchliche Sätze und Anweisungen:
„Die Töchter sind fremdes Besitztum. Antworte erst dann, wenn du gefragt wirst. Setz dich ordentlich hin und spreize dein Bein nicht so. Zieh deinen Rock über die Knie und bedecke deine Beine, sonst gucken die Leute. Gehorche den Worten deines Vaters, Bruders, Onkels und deines Mannes, sonst bekommst Du eine Tracht Prügel!“ (Bourdieu 2005:63).
Daraus folgt eine Inkorporierung dieser Verhaltens- und Denkweisen, welche durch die bestehenden Machtverhältnisse geprägt sind. Oder wie Bourdieu sagt: Die Frauen selbst wenden auf jeden Sachverhalt und insbesondere auf die Machtverhältnisse, in denen sie gefangen sind, Denkschemata an, die das Produkt der Inkorporierung dieser Machverhältnisse sind und die in den Gegensätzen, auf denen die symbolische Ordnung basiert, ihren Ausdruck finden (Bourdieu 2005: 63).
6. Die Kulturen treffen sich und was dann?
Laut der Konrad-Adenauer-Stiftung4 ist es interessant zu sehen, dass die Zustimmung zu der Aussage, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem Glauben, vor Gott gleich seien, in der türkischstämmigen Gesamtbevölkerung deutlich höher ist als bei den kopftuchtragenden Frauen. Auch hochgebildete Frauen mit Kopftuch stimmen mehrheitlich dieser Aussage nicht zu. Das Ergebnis ist eindeutig: Je religiöser die Frauen sind, umso stärker greift die Ansicht um sich, dass die Menschen vor Gott ungleich seien. Das führt zu einer Parallelgesellschaft, weil Diskriminierung der Andersgläubigen oder Fremden (auch interne Diskriminierung gegenüber nicht kopftuchtragenden Frauen und umgekehrt) eine Realität ist. Inwiefern kann so eine Parallelgesellschaft und die dazugehörende Diskriminierung toleriert werden? Die Frage, ob Toleranz eine Grenze hat oder ob eine Gesellschaft nur mit Toleranz und Freundlichkeit funktioniert soll beantwortet werden. Für viele Jahre wurden die Frauen auch im Christentum durch religiöse Vorschriften unterdrückt: „Man hat ihr eine klare Rolle zugewiesen, zu Hause am Herd für den Mann sorgen, für die Kinder sorgen. Die Schweizerische Gesellschaft hat einen langen Kampf hinter sich, um überhaupt zu dieser Auffassung zu kommen, die wir heute als allgemein anschauen“ (Leimgruber 2017). Obwohl die Frauen damals sagten, dass sie diese Rolle bewusst annehmen, weil ihre Religion und Tradition das vorschreibt, haben weibliche Aktivist*innen, Feminist*innen, die Linke zu Recht nicht den Begriff Religionsfreiheit beachtet, weil sie gegen den dahintersteckenden religiösen Konservativismus und die geschlechtsfeindliche Ideologie des Christentums gekämpft haben um die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, solange, bis sie von der Gesellschaft angenommen wurde. Wie wir in der Pro- und Contradiskussion gesehen haben, geht es um gesellschaftlichen Zusammenhalt: Um die Menschenrechte von Frauen, um Integration und Gleichstellung, es geht um das Verhältnis zwischen Staat und Religion, es geht um Abgrenzungen sowohl seitens der Mehrheitsgesellschaft als auch seitens der Einwanderungsgemeinschaften und Multikulturalität, es geht um politische Interessen und Instrumentalisierungen. Ein multikulturelles Leben soll heissen, dass Menschen unabhängig von ihrem Glauben und ihren Weltanschauungen als Mensch betrachtet werden. Menschenrechte, die für diese Lebensform zentral sind, sind die folgenden:
– das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit
– das Recht auf freie Meinungsäußerung
– das Recht auf Selbstbestimmung
– das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Schutz vor Diskriminierung (Jegher Stella, Fischer Rahel 2010: Heft 31, 43)
Unter Religionsfreiheit soll aber Unterdrückung der Frauen bewusst oder unbewusst legitimiert werden. Wenn zum Beispiel eine religiöse Praxis gegen Menschenrechte verstösst, darf diese nicht mehr toleriert werden. Die Grenze der Toleranz wird von Reiner Forst mit drei Wertungen folglich gezeigt: „Was habe ich eigentlich gegen das, was die anderen tun, aus welchen Gründen sollte ich es dennoch tolerieren, und bis wohin sollte ich es tolerieren?“ (Frost Reiner 2017). Es gibt eine Gesellschaftsstruktur, die auch ausgehandelt werden kann. Wichtig ist zu wissen, dass solche Prozesse in der Gesellschaft immer am Laufen sind.
„Es ist egal, ob Menschen von aussen kommen oder nicht. Wenn Menschen von aussen dazu kommen, die völlig andere Vorstellungen haben über Geschlechtsrollen, dann soll man darüber reden, dann soll man aushandeln. Und es ist absolut legitim, dass dann eine Gesellschaft festlegt: Für uns gelten bestimmte Grenzen. Und ich denke, dann müssen diese Grenzen auch durchgesetzt werden“ (Leimgruber 2017).
Ein Sozialstaat muss die Individualität der Menschen und die Rechte von Frauen und Kindern schützen: „Wir müssen die Werte vermitteln, dass Europa den Einzelnen beschützt, und den Einzelnen aus dem Herrschaftssystem der Männer befreit“ (Leimgruber 2017). In diesem gegenseitigen Handlungsprozess sollen nicht nur einheimische, sondern alle Migrant*innen offen für Veränderungen sein. Auch Religionen sollen die allgemeinen Menschenrechte respektieren und sich an unsere Gegenwart und anpassen, indem sie unpassende und veraltete Verse ignorieren. Sowie Jasmin al-Sonbati5 in einem Interview auf die Frage, wie die Koranverse, die das Schlagen der Ehefrau anscheinend erlauben, beantwortet: „Das muss abgelehnt werden, weil es ein Straftatbestand ist. Auch jegliche Verstösse gegen Menschenrechte sind durch nichts zu rechtfertigen“ (Al-Sonbati 2016). Die Annahme, dass der Koran unveränderbar und unantastbar sei, steht als ein grosses Problem für die Erneuerung und für den innerislamischen Dialog und erschwert die Kommunikation mit der Einwanderungsgesellschaft. Laut Al-Sonbati sollte man sich von gewissen Versen verabschieden, weil sie an die Vergangenheit gebunden und „sie [heutzutage] nicht mehr sinnvoll sind, weil wir in unserer Zeit eine Verfassung dafür haben, in der die Rechte verbrieft sind.“ Es ist hier wichtig für die Historiker*innen, Rückschlüsse auf den Rechtskontext zu ziehen, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen diese Verse bzw. Regeln entstanden sind. Nach Al-Sonbati ist eine der wichtigsten und zentralsten Fragen für die innerislamische Diskussion, ob es im 21. Jahrhundert sinnvoll ist, zu berücksichtigen, wie der Prophet im 7. Jahrhundert gelebt hatte, „(...) Oder ob es nicht besser wäre, die Prinzipien des Islam wie die Barmherzigkeit und das Streben nach Gerechtigkeit herauszunehmen und im Alltag zu leben“ (Al-Sonbati 2016). Nur damit kann gegen bereits in Europa bzw. in der Schweiz bestehende salafistische Parallelgesellschaften, die den Religionsfrieden gefährden, gekämpft werden (Al-Sonbati 2016).
Auch kommentiert Al-Sonbati die Frage zu Burka oder Niqab damit, dass die Rechtsgelehrten sich zwar auf gewissen Koranverse berufen würden, diese aber interpretierten, wie sie wollten: „Das ist aber nur ein männlicher Vorwand, die Frauen unsichtbar zu machen und aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Die Vollverschleierung ist menschenverachtend und hat definitiv nichts mit dem Islam zu tun“ (Al-Sonbati 2016). In den 40-er bis 60-er Jahren in Ägypten war es beispielsweise selbstverständlich, ohne Verschleierung zu leben. Und, so fügt Al-Sonbati an, erst mit dem wahhabitischen Islam aus Saudi-Arabien verbreitete sich die Vorstellung, dass eine fromme Muslimin das Kopftuch tragen muss. „Für mich ist es nur ein äusseres Symbol, das nichts mit dem Islam zu tun hat“ (Al-Sonbati 2016)
Wie wir oben von Kelek aber auch von Keller-Messahli erfahren haben, gibt es eine dauerhafte Selbstdisziplinierung der Frauen, weil sie sich von der Gesellschaft des Patriarchats beobachtet fühlen. Dieser Effekt wird von Dietze in ihrem Text als panoptische männliche Herrschaft (Dietze 2009: 40.) bezeichnet. Die Frage ist, ob diese Realität, die individuelle Menschenrechte juristisch verletzt und unter Religionsfreiheit und dazugehörende Sozialisationsprozesse eingestuft werden kann, wenn es auch klar ist, was für ein Zweck dahinterstecken könnte. Sehr viele Mädchen und erwachsene junge Frauen verhalten sich je nach Atmosphäre und Situation: Wenn sie in einem öffentlichen Raum sind, fühlen sie sich nicht nur von der Familie, sondern auch von den Netzwerken der Parallelgesellschaft beobachtet, zu denen sie gehören.
Von dem Sozialisationsprozess internalisierte Gewohnheiten und religiöse Symbole werden so internalisiert, dass sie als anscheinend freiwillige und ohne Fremdzwang verübte Praktiken weitergeführt werden. Der dahinterstehende Fremdzwang wird aber ans Licht gebracht, wenn die Frau sich irgendwann dazu entscheidet, nicht mehr Kopftuch zu tragen:
„Der Verstoss gegen die Norm allein reicht für eine gesellschaftliche Verurteilung aus. Wenn beispielsweise eine Frau in einem konservativen Umfeld, in dem eine Verschleierung oder Kopfbedeckung an der Tagesordnung ist, in westlicher oder gar freizügiger Kleidung die Öffentlichkeit betritt, so werden dahinter unehrenhafte Absichten vermutet, ungeachtet dessen, was seine Trägerin damit bezweckt hat“ (Schirmmacher und Stegemann 2004: 173).
6.1. Vorurteilsfreie Auseinandersetzung
Die Debatte soll natürlich auf die Schweiz zentriert sein, weil hier die Situation von Frauen nicht mit Iran oder Saudi-Arabien vergleichbar ist. Deshalb muss, wenn eine Frau, die hier lebt, entscheidet, dass sie sich verschleiern will, unsere freiheitliche Rechtsordnung das zulassen. Wenn unser Ziele die Gleichstellung der Geschlechter, die gleichberechtigte Teilhabe von Migrant*innen und das Ende jeglicher Form von Diskriminierung und Ausgrenzung sind, können wir diese in der Schweiz nicht mit einem Burkaverbot erreichen, solange eine Frau sagt, dass sie die Burka freiwillig trägt. Dann soll es so wahrgenommen werden. Andererseits, wenn die muslimische Gesellschaft in der Schweiz mehrheitlich für ein Burkaverbot ist, dann tauchen entstehen andere Argumente, die beachtet werden sollen. Laut Kacem Al-Gazzali ist die überwiegende Mehrheit der Muslim*innen gegen die Burka und sie sind unruhig, weil Islamisten den Ruf des friedlichen Islams beschädigen. Deshalb versuchen sie sich mit allen Mitteln von denen zu distanzieren und:
„Sie wollen nicht, dass ihre Religion mit einem Symbol der Taliban und des Wahhabismus in Verbindung gebracht wird. Viele von ihnen schämen sich, wenn sie Frauen in Burkas auf der Strasse begegnen. Das Burkaverbot ist für sie sowohl ein klarer Zug gegen den radikalen Islam als auch ein Gewinn im Kampf um die Deutungshoheit über ihre Religion, die von den Radikalen gestohlen wurde“ (Al-Gazzali 2018).
Hier gibt es also ein Konflikt, der in der Gesellschaft ausgehandelt werden soll, damit die Gesellschaft zusammenhält.
[...]
1 Original im Koran steht ”حجاب ḥiǧāb“. Das Wort ist heutzutage die arabische Standardbezeichnung für den Kopfschleier, war es zu Zeiten der Verkündung des Koran aber noch nicht. In dieser Zeit bedeutete Trennwand, Vorhang Absperrung, Verhüllung. „Wenn der Koranvers sagt, die männlichen Besucher sollten mit den Prophetengattinnen nur “hinter einem ḥiǧāb hervor” sprechen, dann ist hier offensichtlich an einen Vorhang gedacht, nicht an ein Tuch, das die Frau auf dem Kopf trägt. www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Sonstiges/Wielandt_Kopftuch.pdf;jsessionid=D92EAFAB1925AAE71E66F725E34B6F77.1_cid286?__blob=publicationFile
2 Die Frauen und Töchter von König konnten nur hinter einem Vorhang mit den Besuchern des Königshauses reden.
3 Male Gaze ist ein aktiv-männlicher, kontrollierender und neugieriger Blick und ein ursprünglich aus der Filmtheorie stammender Begriff. Bevor über das „männliche Starren“ gesprochen wird, ist es wichtig zuerst das Elternkonzept vorzustellen.
4 Das Kopftuch –Entschleierung eines Symbols? www.kas.de/wf/doc/kas_9095-544-1-30.pdf, Abruf: 27.01.2018.
5 Al-Sonbati ist eine Gymnasiumslehrerin in der Schweiz und Autorin und Sie ist Mitbegründerin des Vereins „Forum für einen fortschrittlichen Islam.“