In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, welche Parallelen zwischen Eichendorffs Hexe Lorelay sowie der Lorelay in der Volkssage und dem Hexenmotiv in der Romantik existieren. Zu diesem Zweck wird kurz auf die Volkssage Lorelay eingegangen. Unter dem zweiten Gliederungspunkt erfolgt die Darstellung des Hexenmotives in der Romantik, das aufgrund des begrenzten Umfangs der Arbeit durch Jacob Grimm, Jules Michelet sowie durch zwei ausgewählte Märchentexte, "Der blonde Eckbert" und "Hänsel und Gretel", repräsentiert wird.
Der dritte Gliederungspunkt analysiert das Hexenmotiv im Waldgespräch. Konkret soll untersucht werden, aus welcher Intention heraus Eichendorff die Lorelay dämonisiert, sie reiten lässt und in den Wald verortet. Das unübersehbare Spannungsverhältnis im Gedicht, der Fluchtbefehl und die Gefangennahme durch die Hexe Lorelay, soll ebenso unter diesem Punkt untersucht werden. In einem abschließenden Fazit werden die Gemeinsamkeiten der Hexenmotive dargestellt.
Das von Joseph Freiherrn von Eichendorff verfasste Gedicht Waldgespräch ist erstmals im 15. Kapitel seines 1815 in Nürnberg veröffentlichten Romans Ahnung und Gegenwart erschienen. Die Entstehung des Gedichtes wird nicht vor 1812 vermutet, da die Novelle Wintergarten von Arnims erst im Dezember 1811 von Eichendorff rezipiert wurde und ihn beim Verfassen des Waldgesprächs beeinflusst haben soll. Das Gedicht wurde erstmals 1837 unter dem Titel Waldgespräch gedruckt. Das Waldgespräch ist eine Romanze, allerdings ist die Form nicht wie für eine Romanze üblich locker gefügt, sondern streng geregelt.
Im Kontext des Romanes Ahnung und Gegenwart wird das Gedicht als "Lied über ein am Rhein bekanntes Märchen" bezeichnet, welches im strophenweisen Wechsel von Leontin und einem Jäger gesungen wird. In der dritten Strophe des Gedichtes wird deutlich, um was für ein "Märchen" es sich handelt, wenn der männliche Er-Erzähler des Gedichtes sein weibliches Gegenüber, welches er noch in der ersten Strophe als „Braut“ bezeichnet, als "Hexe Lorelay" identifiziert.
Der aufmerksame Rezipient wird sofort zur Assoziation mit der Sage der Lorelay am Rheinufer angeregt. Hinderlich beziehungsweise verwirrend bei dieser Verknüpfung erscheint jedoch die Lorelay als Reiterin in der Waldlandschaft. Auch die Dämonisierung der Lorelay durch Eichendorff weicht von der typischen Lorelay am Rheinufer ab.
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Thematik
1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise
2. Volkssage Lorelay
3. Hexenmotive in der Romantik
3.1 Hexenmotive
3.1.1 Jacob Grimm
3.1.2 Jules Michelet
3.2 Hexen im Märchen
3.2.1 Der blonde Eckbert
3.2.2 Hänsel und Gretel
4. Hexenmotiv im Waldgespräch
4.1 Erkennen und Bekennen der Hexe Lorelay
4.1.1 Identifizierungsprozess
4.1.2 Selbstbekennung
4.2 Charakterisierung der Hexe Lorelay
4.2.1 Lorelay als Reiterin
4.2.2 Verortung im Wald
4.2.3 Motive der Gefangennahme
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Thematik
Das von Joseph Freiherrn von Eichendorff verfasste Gedicht Waldgespräch ist erstmals im 15. Kapitel seines 1815 in Nürnberg veröffentlichten Romans Ahnung und Gegenwart erschienen.1 Die Entstehung des Gedichtes wird nicht vor 1812 vermutet, da die Novelle Wintergarten von Arnims erst im Dezember 1811 von Eichendorff rezipiert wurde und ihn beim Verfassen des Waldgesprächs beeinflusst haben soll.2 Das Gedicht wurde erstmals 1837 unter dem Titel Waldgespräch gedruckt. Das Waldgespräch ist eine Romanze, allerdings ist die Form nicht wie für eine Romanze üblich locker gefügt, sondern streng geregelt.3
Im Kontext des Romanes Ahnung und Gegenwart wird das Gedicht als „Lied über ein am Rhein bekanntes Märchen“ bezeichnet, welches im strophenweisen Wechsel von Leontin und einem Jäger gesungen wird.4 In der dritten Strophe des Gedichtes wird deutlich, um was für ein „Märchen“ es sich handelt, wenn der männliche Er-Erzähler des Gedichtes sein weibliches Gegenüber, welches er noch in der ersten Strophe als „Braut“ bezeichnet, als „Hexe Lorelay“ identifiziert.5 Der aufmerksame Rezipient wird sofort zur Assoziation mit der Sage der Lorelay am Rheinufer angeregt. Hinderlich beziehungsweise verwirrend bei dieser Verknüpfung erscheint jedoch die Lorelay als Reiterin in der Waldlandschaft. Auch die Dämonisierung der Lorelay durch Eichendorff weicht von der typischen Lorelay am Rheinufer ab. Eichendorff hat mit seinem Waldgespräch einen eigenen Lorelei-Mythos kreiert, der jedoch auf Clemens Brentano basiert. Denn Brentano gilt, wenn auch umstritten, als eigentlicher Erfinder der Lorelay.6
1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise
In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, welche Parallelen zwischen Eichendorffs Hexe Lorelay sowie der Lorelay in der Volkssage und dem Hexenmotiv in der Romantik existieren. Zu diesem Zweck wird kurz auf die Volkssage Lorelay eingegangen. Unter dem zweiten Gliederungspunkt erfolgt die Darstellung des Hexenmotives in der Romantik, das aufgrund des begrenzten Umfangs der Arbeit durch Jacob Grimm, Jules Michelet sowie durch zwei ausgewählte Märchentexte, Der blonde Eckbert und Hänsel und Gretel, repräsentiert wird. Der dritte Gliederungspunkt analysiert das Hexenmotiv im Waldgespräch. Konkret soll untersucht werden, aus welcher Intention heraus Eichendorff die Lorelay dämonisiert, sie reiten lässt und in den Wald verortet. Das unübersehbare Spannungsverhältnis im Gedicht, der Fluchtbefehl und die Gefangennahme durch die Hexe Lorelay, soll ebenso unter diesem Punkt untersucht werden. In einem abschließenden Fazit werden die Gemeinsamkeiten der Hexenmotive dargestellt.
2. Volkssage Lorelay
Clemens Brentano gilt, wie bereits erwähnt, als Erfinder der Lorelay-Gestalt, denn es lässt sich kein Text zur Lorelay finden, der älter als Brentanos Ballade von 1800 ist.7 Dennoch gibt es einige Germanisten, die Brentano die Erfindung der Lorey-Gestalt abspenstig machen wollten.8 Hermann Bender behauptet beispielsweise, er habe eine „Aufzeichnung der alten Fischersage von der Ley der Lore“ entdeckt, die im 14. Jahrhundert verfasst worden sei.9 Diese Entdeckung zweifelt Lentwojt jedoch an, da Benders Lorelay-Dichtung, die auf der Fischersage basiere, sich deutlich an Brentanos Ballade orientiere.10 Der Disput, ob die Lorelay eine Volksüberlieferung oder ein von Brentano erfundenes Geschöpf ist, kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.
Die Lorelay-Gestalt wird prinzipiell immer gleich dargestellt: „Loreley hat ein ver-führerisches Äußeres und eine betörende Stimme und sie wird ihren Verehrern zum Ver-hängnis, sobald sie ihr zu nahe kommen.“11 Brentano hat in seiner Ballade Lureley lediglich den Grundstein für die Lorelay-Gestalt geprägt. Sie sitzt weder auf einem Felsen noch wird von ihrer goldenen Haarpracht gesprochen, auch ein Gesang geht von der Lorelay-Gestalt selbst nicht aus. Der Gesang eines Priesters auf dem Rhein: „Lore Lay, Lore Lay, Lore Lay“ deutet auf ein Echo hin, welches Brentano laut Lentwojt mit dem Loreley-Felsen wahrscheinlich verbunden hat. Brentanos Loreley zeichnet sich durch außergewöhnliche Schönheit aus, welche für ihre Zauberkräfte verantwortlich ist und für das Verderben der Männerwelt.12
Das Bild, das heute über die Lorelay existiert, auch als Sage verstanden wird, hat maß-geblich Heine geprägt. Bei ihm sitzt die Lorelay singend auf dem Felsen, kämmt dabei ihr blondes Haar, durch ihr attraktives Erscheinungsbild und ihren Gesang lassen sich die Seefahrer auf dem Rhein ablenken und kentern schließlich.13
3. Hexenmotive in der Romantik
3.1 Hexenmotive
3.1.1 Jacob Grimm
Jacob Grimm spricht den mythischen Figuren generell ein flexibles Rollenbild zu, Hexen und andere mythische Figuren können demnach positive oder negative Bedeutung annehmen.14 Die negative Bedeutung führt Grimm auf die Christianisierung zurück, durch welche sich die guten Götter in Gespenster und Teufel verwandelt haben.15
Der Ursprung der Hexe ist auf die „weisen Frauen des germanischen Heidentums“ zurückzuführen.16 Diese beschäftigten sich vor allem mit der Heilkunde, wobei Grimm eine Verbindung zwischen Religion und Erkenntnis sieht, denn aus der Natur kommt beides, sowohl Glauben als auch Wissen.17
Grimm sieht die Hexe, wie die Märchen der Romantik, in der Natur verortet, denn die Natur ist der „eigentliche Wirk- und Arbeitsbereich der Heil- und Kräuterfrauen.“18 Die Verbindung der Hexe mit dem Wald führt Grimm auf die Germanen zurück, die ihre Götter in „hainen“ und „auf bäumen“ anbeteten.19 Gleichzeitig ist diese Verbindung konstitutiv für die Entwicklung des romantischen Hexenbildes, sie zeigt ebenso die Affinität der Deutschen zu der Waldlandschaft.20 Die Begriffe „geheimnisvoll“ und „rätselhaft“ bringt Grimm unmittelbar mit den weisen Frauen im Wald in Verbindung, diese mythischen Merkmalsatttribute nennt Grimm auch als Ursache für die Wandlung des ursprünglich positiven Rollenbildes der Hexe zum negativen, das vor allem das Mittelalter bestimmte.21
Grimm bringt die Hexe mit den germanischen Göttinnen in Beziehung, dabei ist die grund-legende Zweideutigkeit von Bedeutung: Die Märchenfigur Frau Holle basiert auf „der alt-germanische[n] Hauptgöttin“, die zum einen positiv charakterisiert wird - „himmlisches, die erde umspannendes wesen“ - , zum anderen aber auch negativ, indem sie mit der Göttin der Unterwelt Hel verglichen wird und ein hexenartiges Äußeres, - „aussehen einer hässlichen, langnasigen, großzahnigen alten, mit struppigen, engverworrenem haar“ -, besitzt.22 Demnach sind die Hexen nach Grimm ambivalent.
Das Christentum spricht der Hexe wegen ihrer Beziehung zum Teufel ein negatives Bild zu. „Aus der botsmäßigkeit und dem gefolge jener unholden nachtfrau traten die hexen über in die gesellschaft des teufels, dessen strengere, schärfere natur das ganze verhältnis in bösartiges, sündhafteres steigerte.“23 Mit der „unholden Nachtfrau“ meint er Holda, deren nächtliche Umzüge eine wichtige Parallele für das Hexenwesen sind.24 Während der nächtlichen Umzüge wurde getanzt, was aus christlicher Sicht negativ erschien, denn generell war Tanzen sündhaft, außerdem wurde es mit dem Heidentum in Verbindung gebracht.25
Das Hexenbild ist Grimm zufolge durch die christliche Religion geprägt worden. Nicht die gesamte Bevölkerung hat sich der Christianisierung angeschlossen, einzelne blieben dem Heidentum und dessen Bräuchen treu. Diese Bräuche wurden dann als „Wahnglaube“ von der Kirche bezeichnet und schließlich bekämpft. Alte Traditionen wurden zur Hexerei abgewertet.26
3.1.2 Jules Michelet
Michelets Hexenbild ist nicht mythisch motiviert, sondern auf eine Zeit zurückzuführen, in der das weibliche Geschlecht missachtet wurde und einer „fundamentale[n] Unfreiheit“ ausgesetzt war.27 Da die Frau aus dieser „Unfreiheit“ ausbrechen wollte, hat sie sich nach Behauptung der katholischen Kirche dem Teufel, dem Fürst der Natur, angeschlossen und sich damit von Gesellschaft und Kirche abgewendet. Dabei galt die Natur aus kirchlicher Sicht „als unrein und verdächtig“.28 Michelet sieht die Hexe mit der Natur, Wald, Heide und Wüste, ebenfalls verbunden, jedoch als Ort der Freiheit. Er bezeichnet die Hexe als „Priesterin der Natur“.29 Durch ihre Naturkenntnisse war sie der „einzige Arzt des Volkes“, sogar Geistliche und Politiker haben ihre Heilkunst angefordert: „[Man] überschritt die Verbote und verließ die alte geheiligte Heilkunst und das unnütze Weihwasser; man ging zur Hexe.“30 Insbesondere standen die Frauen im Fokus der heilerischen Absichten der Hexe. Vor allem waren die Hexen den Frauen bei Abtreibungen behilflich, insbesondere in der Zeit des „Gebärstreiks“, den die Landfrauen ausübten.31 Michelet spricht seiner Hexe aufgrund dieser Hilfsbereitschaft Sozialkompetenz zu. Er bezeichnet die Hexen als mutig, denn diese haben sich durch den unbefangenen Umgang mit den pflanzlichen Substanzen stets der Gefahr ausgesetzt als „Giftmischerin“ verschrien und ermordet zu werden.32
Die Hexe ersetzt sozusagen die Kirche, denn die Anliegen der Bevölkerung werden nicht mehr in die Kirche getragen, sondern in den Wald zur Hexe.33 Den Hexensabbat belegt Michelet positiv, er stellt ihn als eine Art Befreiungsakt der Sklaven dar, den die Hexen anführten.34 Da die Kirche, die Idee der Leibeigenschaft unterstützte, rebellierte die Hexe, wie die Leibeigenen selbst, gegen die Kirche.35 Die Hexe ist für Michelet „eine rebellische Figur“ sowie „Symbol der Befreiung.“36
3.2 Hexen im Märchen
3.2.1 Der blonde Eckbert
In der Romantik haben Märchen und andere literarische Formen maßgeblich zur Prägung des Hexenbildes beigetragen.37 Beispielhaft für das Hexenbild im Märchen wird das erste Kunstmärchen in der Romantik, Der blonde Eckbert, 1797 von Ludwig Tieck geschrieben, angeführt.38 In diesem Märchen wird nun das Hexenmotiv betrachtet, genauer gesagt die „alte Frau“, die vor allem durch ihre übernatürlichen Kräfte und die Situierung in eine Waldhütte an eine Hexe erinnert.39 Auch das Aussehen sowie der Gesundheitszustand der alten Frau lassen auf eine Hexe schließen: Das Äußere der alten Frau wird von Bertha skizziert, so hat sie „[knöchrige] Hände“ und verzerrt ihr Gesicht.40 Der Gesundheitszustand der Alten entspricht ihrem Alter, denn sie „[keucht] und „[hustet]“.41 Die alte Frau nimmt die im Wald herumirrende Bertha für vier Jahre in ihre Hütte auf, in der ein Vogel und ein Hund mit ihr leben. Sie weist Bertha zur Arbeit an und unterrichtet sie im Lesen. Das Vertrauen zwischen den beiden Personen wächst, die Alte bezeichnet Bertha als „Kind und Tochter“, sie bleibt monatelang weg und überträgt Bertha alle anfallenden Aufgaben.42
Mit folgender Weisheit belehrt die Alte Bertha: „wenn du so fort fährst, wird es dir auch immer gut gehen: aber nie gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch so spät.“43 Dieser Rat wird von Bertha nicht ernst genommen, sodass die Strafe schon bald eintritt. Nachdem Bertha die Waldhütte mit dem Vogel verlassen hatte, ohne die alte Frau in Kenntnis zu setzen, wendet sich ihr Schicksal. Nicht nur ihres, sondern ebenso das ihres zukünftigen Mannes, denn kaum hat sich dieser einer Person anvertraut, schlägt sein Vertrauen in Misstrauen um. „Es schien aber seine Verdamniß zu sein, gerade in der Stunde des Vertrauens Argwohn zu schöpfen, denn kaum waren sie in den Saal getreten, als ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen seines Freundes nicht gefielen.“44 Es stellt sich heraus, dass die Alte, nachdem Bertha sie heimlich verlassen hatte, zu ihrem Bruder Eckbert führte, den sie heiratete.45 Die Kräfte der Alten äußern sich außerdem, indem sie sich in Eckberts Freunde verwandelt, ihn schließlich zu sich in den Wald führt und ihm offenbart, dass er für den Verrat seiner Schwester büßen muss.46
Das Handeln der Alten wandelt sich vom Guten zum Bösen. Dieser Handlungswechsel ist jedoch nicht willkürlich, sondern vielmehr konsequent. Das gebrochene Vertrauen wird von ihr, wie angekündigt, bestraft. So vergilt sie Gleiches mit Gleichem, nicht auf offene, sondern auf heimtückische Weise. Das unangekündigte Verlassen der Waldhütte und den Diebstahl des Vogels rächt sie zum einen an Bertha selbst, denn diese leidet und stirbt an einem Fieber, nachdem sie ihre Jugendgeschichte einem Freund von Eckbert anvertraut hatte. Zum anderen indem sie die Rollen von Eckberts Freunden einnimmt, ohne es Eckbert wissen zu lassen. Sowie Bertha das Vertrauen der Alten missbraucht hat, so missbraucht die Hexe ebenso das Vertrauen von Bertha und von Eckbert.47
3.2.2 Hänsel und Gretel
Das von den Brüdern Grimm verfasste Märchen Hänsel und Gretel wurde erstmals 1812 in dem Sammelband Kinder- und Hausmärchen gedruckt.48 Die Hexe in diesem Märchen gilt als „Prototyp“ für das Hexenbild im Märchen.49 Die alte Frau wird von Grimm direkt als Hexe bezeichnet, und zwar als böse und hinterlistige: „Die Alte aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf, und hatte um sie zu locken ihr Brothäuslein gebaut, und wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es todt, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag.“50 Über das Aussehen der Hexe erfährt man, dass sie „klein“ und „[steinalt]“ ist sowie „[schwache] Augen“ hat.51 Grimms Hexe ist auch im Wald anzutreffen, und zwar im tiefen Wald, denn bevor Hänsel und Gretel auf die Hexe treffen, schreibt Grimm: „die Mutter aber führte sie noch tiefer in den Wald hinein […] aber sie kamen nicht aus dem Wald heraus“.52
Die anfangs heuchlerische Freundlichkeit legt die Hexe später ab, sie offenbart Hänsel und Gretel ihre wahre Absichten; Hänsel und Gretel aufzuessen.53 Sie zwingt Gretel zur Arbeit und hält beide Kinder bei sich gefangen. Auch das Leiden der Gretel erweckt bei der Hexe kein Mitleid, sie beharrt auf ihren kannibalischen Vorhaben. Jedoch dank Gretels Intelligenz, die die Hexe überlistet, entkommt sie selbst und ihr Bruder dem Tod.
Der Prototyp Hexe in Grimms Märchen ist von Natur aus bösartig. Ihre Bösartigkeit versteckt sie jedoch hinter der freundlichen Fassade, die als Lockmittel dient, später aber einbricht. Diese Hexe besitzt keine moralischen Werte, sie kann als egoistisch charakterisiert werden, denn die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse geht auf Kosten von Menschen-leben, falls es den potentiellen Opfern nicht gelingt, sie zu überlisten.
4. Hexenmotiv im Waldgespräch
4.1 Erkennen und Bekennen der Hexe Lorelay
4.1.1 Identifizierungsprozess
In Gedicht „Waldgespräch“ sprechen in einem Wechseldialog eine männliche und weibliche Person. Es gibt sozusagen einen Sprecher und eine Sprecherin. In der ersten Strophe trifft ein Mann auf eine weibliche Person. Die Adjektive „spät“, „kalt“, „einsam“ „lang“ und „allein“ beschreiben die scheinbar gefährliche Situation für die weibliche Person.54 Die rhetorische Frage an die Frau: „Was reit’st Du einsam durch den Wald?“, ist eine Warnung, da der Wald zu später Uhrzeit eine gefährliche Situation für eine weibliche Person darstellt. Der Mann bietet sich als Helfer an, er hat jedoch die Absicht, die weibliche Frau zu besitzen: „Du schöne Braut! Ich führ’ Dich heim!“ Die Ausrufezeichen sowie die Inversion verstärken die Absicht der männlichen Person, die weibliche Person zu besitzen, von einem angemessenen Werben kann nicht die Rede sein.55 Die häufige direkte Anrede der weiblichen Person mit dem Anredepronomen Du, in der ersten Strophe, ist hier sicher ein bewusst eingesetztes Mittel des Mannes, um ein Näheverhältnis zu der Frau herzustellen.
In der dritten Strophe wird das äußere Erscheinungsbild der weiblichen Person näher charakterisiert. Die Reiterin und ihr Pferd werden als „reich geschmückt“ bezeichnet. Es handelt sich somit sehr wahrscheinlich um eine Person aus gehobener sozialer Schicht.56 Ihr Körper wird als „jung“ und „wunderschön“ beschrieben. Die Adjektive über das Äußere der Frau sind ausschließlich positiv, somit ist die weibliche Bekanntschaft nicht nur von wahrscheinlich höherem Stand, sondern auch sehr attraktiv. Die männliche Person identifiziert schließlich die weibliche Person: „Jetzt kenn’ ich dich – Gott steh’ mir bei! Du bist die Hexe Lorelay.“ Das Temporaladverb „jetzt“ betont, dass die männliche Person erst just in diesem Moment realisiert, wer die weibliche Person ist. Der Gedankenstrich an dieser Stelle ersetzt den Denkprozess des Sprechers, dieser erkennt seine auswegslose Situation. Aus dieser Situation kann ihn nur noch eine über der Lorelay stehende Macht manövrieren, diese stellt für den Mann Gott dar. Deshalb ist an den Realisationsprozess, in Form eines Gedankenstriches, die Invokation geknüpft. Der Dreischritt im dritten Vers der dritten Stophe; Erkenntnis, Denkprozess und Hilferuf, ist der Beginn der Rollenumkehr des Mannes vom Retter zum Hilfsbedürftigen.
[...]
1 Vgl. von Eichendorff, Joseph: Ahnung und Gegenwart, in: Ahnung und Gegenwart, Sämtliche Erzählungen I, Text und Kommentar, hrsg. v.: Frühwald, W., Schillbach, B., Band 18, Frankfurt am Main 2007, S. 250-251, S. 613.
2 Vgl. Fröhlich, Harry: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff, Band I/2 Jospeh von Eichendorff, Gedichte, Erster Teil, Kommentar, Stuttgart 1994, S. 629.
3 Vgl. von Bormann, Alexander: „Das zertrümmerte Alte“ Zu Eichendorffs Lorelei-Romanze Waldgespräch, in: Gedichte und Interpretationen, Band 3, Klassik und Romantik, hrsg. v.: Segebrecht, W., Stuttgart 1984, S.307-319, S. 318.
4 Eichendorff, J. 2007, S. 250.
5 Ebd., S. 251.
6 Vgl. von Bormann, A. 1984, S. 307.
7 Vgl. Lentwojt, Peter: Die Loreley in ihrer Landschaft, Romantische Dichtungsallegorie und Klischee, Ein literarisches Sujet bei Brentano, Eichendorff, Heine und anderen, Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Deutsche Literatur und Sprache, Band 1664, Frankfurt am Main 1998, S. 45.
8 Vgl. Ebd., S. 15.
9 Ebd., Bender, Hermann: Rheinische Lieder, Zürich 1896, S. 10.
10 Vgl. Lentwojt, P. 1998, S. 22.
11 Ebd., S. 13.
12 Vgl. Ebd., S. 53.
13 Vgl. Ebd., S. 51-52.
14 Vgl. Wiedemann, Felix: Rassenmutter und Rebellin, Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007, S. 63.
15 Vgl. Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie, Band 2, Wiesbaden 2003, S. 823.
16 Wiedemann, F. 2007, S. 64.
17 Vgl. Grimm, J. 2003, S. 963.
18 Wiedemann, F. 2007, S. 65.
19 Grimm Brüder [Jacob u. Wilhelm]: Deutsche Sagen, Band 2, Frankfurt am Main 1981, S. 357.
20 Vgl. Grimm, J. 2003, S. 56.
21 Vgl. Ebd., S. 357ff.
22 Ebd., S. 222ff.
23 Grimm, J. 2003, S. 887.
24 Vgl. Ebd., S. 882ff.
25 Vgl. Ebd., S.883.
26 Vgl. Ebd., S. 924.
27 Ebd., Wiedemann, F. 2007, S. 77-78.
28 Michelet, Jules: Die Hexe, Wien 1988, S. 26.
29 Ebd., S. 79.
30 Ebd., S. 20, 85.
31 Vgl. Ebd., S. 92, 113.
32 Ebd., S. 86f.
33 Vgl. Ebd., S. 85.
34 Vgl. Ebd., S. 98.
35 Vgl. Wiedemann, S. 81-82.
36 Ebd., 2007, S. 84.
37 Vgl. Ebd., 2007, S. 56.
38 Vgl. Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert, in: Phantasus, Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen von Ludwig Tieck, hrsg. v.: Wendriner, K. G., Band 1, Berlin 1911, S. 114-135.
39 Vgl. Ebd., 119,120.
40 Ebd., 121.
41 Ebd., S. 121.
42 Ebd., S. 122-123.
43 Ebd., S. 124.
44 Ebd., S. 131-132.
45 Vgl. Ebd., S. 133.
46 Vgl. Ebd., S. 133.
47 Vgl. Ebd., S.133.
48 Vgl. Brüder Grimm: Kinder – und Hausmärchen der Brüder Grimm, hrsg. v.: Panzer, F., Wiesbaden 1812, S. 90-94, S. 5.
49 Wiedemann, F. 2007, S. 59.
50 Ebd., Brüder Grimm 1812, S. 93.
51 Ebd., S. 93-94.
52 Ebd., S. 92.
53 Vgl. Ebd., S. 93-94.
54 von Eichendorff, J. 2007, S. 250-251. Im Folgenden werden, um den Fußnotenapparat nicht zu stark anwachsen zu lassen, direkte Zitate nur kenntlich gemacht, in den Fußnoten werden sie wie die indirekten Zitate nicht mehr explizit aufgeführt.
55 Vgl. Bormann, A. 1984, S. 310.
56 Vgl. Ebd.