Das europäische Gesellschaftsmodell hat sich einem Wandel unterzogen. Heutzutage kann man von einer Koexistenz zahlreicher alternativer Familienformen sprechen. Aufgrund der Koexistenz muss in der Gesellschaft auch die Toleranz gegenüber diesen für ein friedliches Zusammenleben gewahrt sein. Doch wie ist es um die Toleranz sexueller Minderheiten, wie der Homosexuellen, bestellt? Das Niveau dieser Toleranz ist nicht in jedem Land dasselbe. Aus diesem Grund sollen zwei konträre Länder in Bezug auf Toleranz von Homosexuellen untersucht werden: die Niederlande und Russland.
Robert D. Putnam konnte mit seinem Sozialkapital-Konzept nachweisen, dass Toleranz gegenüber fremden Personen und Denkweisen, wie es z.B. bei sexuellen Minderheiten der Fall wäre, mit höherem Sozialkapital in Form von Vertrauen, Reziprozitätsnormen und sozialen Netzwerken zunimmt. Demnach werden demokratische Einstellungen wie Toleranz (hier: für Homosexuelle) durch Sozialkapital begünstigt. Aus diesem Grund bildet sein Sozialkapitalkonzept der Toleranzförderung den theoretischen Rahmen dieser Arbeit.
Das Vorgehen der empirischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sozialkapital und Toleranz gegenüber Homosexualität erfolgt mithilfe des World Value Survey in mehreren Schritten. In einem ersten Schritt wird das Sozialkapitalkonzept Robert D. Putnams vorgestellt und erläutert und im zweiten Schritt auf Toleranzförderung ausgelegt. Allerdings könnte der Zusammenhang nicht frei von Störeinflüssen sein, sodass im Abschnitt danach die Ausführung der wichtigsten Einflussfaktoren auf Sozialkapital und Toleranz, wie Bildung, Religiosität und Makro-Variablen des politischen Systems, folgt. Anschließend werden die Datenbasis, Fallauswahl, Methodik und die Operationalisierung der verwendeten Indikatoren zur Hypothesentestung beschrieben. Die Auswahl der beiden konträren Länder in Bezug auf die Toleranz von Homosexualität eröffnet gute Möglichkeiten, die Hypothesen auch kontextabhängig testen zu können. Im darauffolgenden Schritt widmet sich Kapitel vier den empirischen Ergebnissen. Dieses Kapitel beinhaltet die deskriptiven Ergebnisse sowie die Erfassung des bivariaten Zusammenhangs zwischen Sozialkapital und Toleranz gegenüber Homosexualität. Zusätzlich werden Kontrollvariablen zur Überprüfung des Zusammenhangs auf eine mögliche Scheinkorrelation hinzugenommen und in einer Partialkorrelation getestet. Zuletzt werden zentrale Befunde zusammengefasst.
Inhalt
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Das Sozialkapitalkonzept nach Robert D. Putnam zur Förderung von Toleranz
2.2 Einflussfaktoren auf Sozialkapital
3. Datenbasis und Operationalisierung
4. Ergebnisse
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Häufigkeitsauszählung der Toleranz von Homosexualität
Tabelle 2: Häufigkeitsauszählung des generalisierten Vertrauens
Tabelle 3: Häufigkeitsauszählung der Vereinsaktivität
Tabelle 4: Korrelation der Sozialkapitaldeterminanten und der Toleranz von Homosexualität und Partialkorrelation dieser Variablen unter Kontrolle von Bildung und Religiosität
Tabelle 5: Deskriptive Statistik des Bildungsniveaus und der Religiosität
Tabelle 6: Partialkorrelation der Sozialkapitaldeterminanten und der Toleranz von Homosexualität unter Kontrolle von Bildung
Tabelle 7: Partialkorrelation der Sozialkapitaldeterminanten und der Toleranz von Homosexualität unter Kontrolle von Religiosität
1. Einleitung
Vor einem halben Jahrhundert basierte das europäische Gesellschaftsmodell noch auf der traditionellen Kernfamilie: aus Mutter, Vater und Kindern. Dieses Modell hat sich mit der Zeit einem Wandel unterzogen. Heutzutage kann man viel mehr von einer Koexistenz zahlreicher alternativer Familienformen sprechen. Aufgrund der Existenz alternativer Familien- und Lebensformen muss in der Gesellschaft auch die Toleranz gegenüber diesen für ein friedliches Zusammenleben gewahrt sein. Doch wie ist es um die Toleranz sexueller Minderheiten, wie der Homosexuellen, bestellt?
Gegenwärtig scheint die Toleranz von Homosexualität zumindest in Europa weiter vorangeschritten zu sein. Die Toleranz hat sich im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten erhöht. Dies liegt mit Sicherheit auch an dem Wandel der Gesellschaft insgesamt. Das Niveau dieser Toleranz ist jedoch nicht in jedem Land dasselbe (Halman et al. 2011). Die Niederlande werden gerne vorbildhaft als tolerantestes Land beschrieben, was sexuelle Freiheiten und damit auch die Toleranz von Homosexuellen angeht. Russland hingegen gilt als restriktiv und intolerant gegenüber Homosexuellen. Warum existieren in beiden Ländern Niveauunterschiede bezüglich dieser Toleranz? Hier stellt sich unweigerlich die Frage, welche Komponenten diese Toleranz fördern.
Sozialkapital ist seit den 1990er Jahren zu einem Schlüsselkonzept sozialwissenschaftlicher
Auseinandersetzungen avanciert (z.B. Beugelsdijk/van Schaik 2005: 1054; Franzen/Freitag 2007: 9; Fischbach 2013: 30; Halman/Luijkx 2006: 67). Vor allem Robert D. Putnam ist diese Resonanz zu verdanken. Es gilt als der Leim der Gesellschaft, der sie zusammenhält und integrativ wirken kann (Putnam/Goss 2001: 21; Stricker/Strasser 2005: 129). Putnam (2000: 356f.) konnte nachweisen, dass Toleranz gegenüber fremden Personen und Denkweisen, wie es beispielsweise bei sexuellen Minderheiten der Fall wäre, mit höherem Sozialkapital zunimmt. Demnach werden demokratische Einstellungen wie Toleranz (hier: für Homosexuelle) durch Sozialkapital begünstigt (H1). Aus diesem Grund bildet sein Sozialkapitalkonzept der Toleranzförderung den theoretischen Rahmen dieser Arbeit.
Sozialkapital besteht aus drei wichtigen Komponenten: Vertrauen, Reziprozitätsnormen und soziale Netzwerke. Netzwerke und generalisiertes Vertrauen dürften dafür verantwortlich sein, dass Toleranz gegenüber Homosexuellen aufkommen kann, da sie Kooperationen vereinfachen. Vertrauen, geschaffen in Netzwerken, ist die Basis einer kooperativen Kultur, das dazu beiträgt, unterschiedlichste Gesellschaftsmitglieder zu inkludieren (Fischbach 2013: 34; Zmerli 2008: 50; Oberle 2014: 372). So wird Toleranz geschaffen (H1b). Aktives Engagement führt durch aktive Vernetzung zu mehr Toleranz und Offenheit (H1a). Daher nimmt sich diese Arbeit der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sozialkapital und Toleranz gegenüber Homosexuellen an und fragt: Stehen Sozialkapital und soziale Toleranz (hier: Toleranz gegenüber Homosexualität) in einem positiven Zusammenhang?
Das Vorgehen der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sozialkapital und Toleranz gegenüber Homosexualität erfolgt mit Hilfe des World Value Survey (Welle 6) in mehreren Schritten. In einem ersten Schritt wird das Sozialkapitalkonzept Robert D. Putnams vorgestellt und erläutert und im zweiten Schritt auf Toleranzförderung ausgelegt (Kapitel 2.1). Allerdings könnte der Zusammenhang nicht frei von Störeinflüssen sein, sodass des Weiteren in Kapitel 2.2 die Ausführung der wichtigsten Einflussfaktoren auf Sozialkapital und Toleranz, wie Bildung, Religiosität und Makro-Variablen des politischen Systems (H2 und H3), folgt. Die Theorie führt dadurch ebenfalls in die Hypothesen ein. Anschließend werden die Datenbasis, Fallauswahl, Methodik und die Operationalisierung der verwendeten Indikatoren zur Hypothesentestung beschrieben. Die Auswahl der beiden konträren Länder in Bezug auf die Toleranz von Homosexualität eröffnet gute Möglichkeiten, die Hypothesen auch kontextabhängig testen zu können. Ist der postulierte positive Zusammenhang auch generalisierbar? Im darauffolgenden Schritt widmet sich Kapitel 4 den empirischen Ergebnissen. Zuerst werden in diesem Kapitel die deskriptiven Ergebnisse der Niederlande und Russlands dargestellt. Darüber hinaus folgt die Erfassung des bivariaten Zusammenhangs zwischen Sozialkapital und Toleranz gegenüber Homosexualität in beiden Ländern. Zusätzlich werden Kontrollvariablen zur Überprüfung des Zusammenhangs auf eine mögliche Scheinkorrelation hinzugenommen und in einer Partialkorrelation getestet. Zuletzt werden zentrale Befunde zusammengefasst.
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Das Sozialkapitalkonzept nach Robert D. Putnam zur Förderung von Toleranz
Auch wenn der Begriff des sozialen Kapitals bereits Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, wurde er erst in den 1980er-Jahren etwa durch Arbeiten von Pierre Bourdieu (1983) und James S. Coleman (1988) bedeutsam. Durch den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Robert D. Putnam (19931 ) aber avancierte das Sozialkapitalkonzept, das auch stark an Colemans Konzept angelehnt ist, in den Sozialwissenschaften und darüber hinaus zu einem der bedeutendsten und meist rezipierten Konzepte (Beugelsdijk/van Schaik 2005: 1054; Franzen/Freitag 2007: 9; Fischbach 2013: 30; Halman/Luijkx 2006: 67). Großen Einfluss auf die Sozialkapitalforschung hatte bereits der Franzose Alexis de Tocqueville, den Putnam zum „Schutzheiligen zeitgenössischer Sozialkapitalforscher“ erklärt hatte und auch dessen Ideen mit seinem Konzept verband (Putnam 2000: 292; vgl. Kriesi 2007: 28; vgl. van Deth 2004: 295). Putnams Kollegen richteten ihre Sozialkapital-Forschung maßgeblich auf soziale Ungleichheit aus, Putnam aber betrachtete Sozialkapital als essentiellen Faktor für eine funktionierende, effiziente demokratische Gesellschaft (Zmerli 2008: 42).
Sein Konzept blieb jedoch nicht ohne heftige Kritik, der er aber Rechnung zu tragen versuchte und es fortwährend weiterentwickelte (ebd.: 55). Seit den 1990er-Jahren oder genauer datiert seit Putnams Publikationen stiegen Studienveröffentlichungen zu diesem Thema stetig an.2 Daher soll in dieser Arbeit einzig auf das Sozialkapitalkonzept Putnams eingegangen werden.
Vor allem aufgrund der Vielfalt der veröffentlichten Konzepte und Studien fehlt bis heute eine allgemeingültige Definition von Sozialkapital (Franzen/Poitner 2007: 67). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung treten jedoch strukturelle und kulturelle Komponenten des Sozialkapitals hervor, sodass Sozialkapital zu einem Sammelbegriff wird (Freitag/Traunmüller 2008: 225).
Individuelle sowie kollektive Bestreben können leichter erreicht werden, sobald soziales Kapital zur Verfügung steht. Damit nimmt das Sozialkapitalkonzept Bezug auf ökonomische Theorien3 (Oberle 2014: 371). Sozialkapital bezieht sich auf alle zentralen Lebensbereiche (Halman/Luijkx 2006: 67; Zmerli 2008: 42). Es gilt als der Leim der Gesellschaft, der sie zusammenhält und integrativ wirken kann (Putnam/Goss 2001: 21; Stricker/Strasser 2005: 129). Soziale Beziehungen wirken sowohl auf Individualebene als auch auf Kollektivebene, so der Leitgedanke des Sozialkapitalkonzepts (Putnam/Goss 2001: 20; Putnam 1993). Somit ermöglicht Sozialkapital ‘the achievement of certain ends that would not be attainable in its absence’ (Coleman 1990: 302). Putnams Fokus liegt auf der kollektiven Ebene (Oberle 2014: 371).
Putnams 1993 veröffentlichte Studie „Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy“4 bildete die Basis seiner Forschung und entfachte die Debatte über Sozialkapital vornehmlich. In dieser Arbeit erforschte er die Gründe für die „Unterschiede in der ökonomischen wie politisch-administrativen Performanz zwischen den nördlichen und den südlichen Regionen Italiens“ (Koob 2007: 244). Anhand zahlreicher empirischer Daten kommt er zu dem Schluss, dass Sozialkapital einen wichtigen Erklärungsfaktor darstellt (Putnam 1993). Je zahlreicher sich Bürger in Vereinen5 engagieren, je stärker das Vertrauen ineinander ausgeprägt ist und je mehr gegenseitige Unterstützung erfahren wird, die kooperatives Handeln fördert, desto mehr Sozialkapital besitzt eine Region (Putnam 1993; 2000). Die Regionen Norditaliens hatten im Vergleich zum Süden den höchsten Bürgersinn und die funktionsfähigste Demokratie. Sozialkapital fördert daher institutionelle Leistungsfähigkeit und Wohlstand, löst Probleme kollektiven Handelns und sichert die Bereitstellung kollektiver Güter (Putnam 1993: 163ff. u. 178f.; Zmerli 2008: 42 u. 72).
Hierüber operationalisiert Putnam Sozialkapital als ein Zusammenspiel aus aggregierten individuellen Orientierungen der Bevölkerung und gesellschaftlichen Strukturen (Oberle 2014: 371). Diese Komponenten des Sozialkapitals sind struktureller und kultureller Natur. Sozialkapital „refers to features of social organization, such as trust, norms, and social networks“ (Putnam 1993: 167). Laut Putnams weiterentwickelter Definition bezieht sich Sozialkapital „to the connections among individuals – social networks and the norm of reciprocity and trustworthiness that arise from them“ (Putnam 2000: 19). Erstens sind demnach soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen sowie Vertrauen die drei Komponenten des Sozialkapitals. Zweistens bilden sie so einen „Wirkungszusammenhang, bei dem soziale Netzwerke, als strukturelles Element sozialen Kapitals, als Ausgangspunkt für die Entstehung seiner kulturellen Komponenten, nämlich Normen der Reziprozität und Vertrauenswürdigkeit“ gelten (Zmerli 2008: 43). Gleichzeitig werden weit verbreitete Normen der Reziprozität als wichtige Voraussetzung für die Vertrauensbildung angesehen (van Schaik 2002: 6). Umgekehrt lässt sich auch argumentieren, dass die Entwicklung von sozialen Netzwerken ihrerseits die Existenz von Vertrauen und Reziprozität voraussetzt (vgl. Newton 1999). Weiter kann soziales Vertrauen aus Reziprozitätsnormen und Netzwerken entstehen (Putnam, 1993: 170). Wie hier angedeutet, ist es in der Forschung nach wie vor umstritten, wie sich die Komponenten gegenseitig beeinflussen (Halman/Luijkx 2006: 68; van Schaik 2002: 6). Newton (1999: 7) nennt es deshalb das „Chicken-and-egg-problem“6, bei dem man nicht weiß, was zuerst zutreffen muss.
Ist Sozialkapital in Form der einzelnen Komponenten vorhanden, verstärken sich die Komponenten des Sozialkapitals zusätzlich und bilden so eine Umgebung generalisierter Reziprozität und hohen Vertrauens und fördern dadurch kollektive Handlungen (Putnam 1993: 169ff.). Das Level an „Sozialität“ nimmt so scheinbar zu.
„Eine Gemeinschaft, die sich in Netzwerken zivilen Engagements organisiert, aus denen Normen der generalisierten Gegenseitigkeit sowie soziales Vertrauen hervorgehen, bezeichnet Putnam als „civic community““ (Zmerli 2008: 43; vgl. Putnam 1993: 177) und meint hierzu: „when trust and social networks flourish, individuals, firms, neighbourhoods and even nations prosper“ (Putnam 2000: 319). „Bürger einer „civic community“ zeichnen sich durch ein hohes Maß an zivilen Tugenden aus und gelten als hilfsbereit, respektvoll, tolerant und vertrauenswürdig“7 (Zmerli 2008: 44). Eine bürgerschaftliche Gesellschaft beruht auf einer Kombination aus hohem Sozialkapital und hoher Toleranz8 (Putnam 2000: 355). Putnam zeigte mit einem Vergleich der US-Bundesstaaten, dass die Toleranz gegenüber fremden Personen und Denkweisen mit höherem Sozialkapital zunimmt (ebd.: 356 f.), demnach demokratische Einstellungen wie Toleranz durch Sozialkapital begünstigt werden und diese zu gegenseitiger Kooperation führen. Dies deutet darauf hin, dass Sozialkapital auch die Toleranz gegenüber homosexuellen Individuen fördern sollte. Daraus folgt die Annahme: Toleranz gegenüber Homosexualität erhöht sich mit dem Vorhandensein von Sozialkapital (H1).
Das Sozialkapitalkonzept kann jedoch nicht nur eindimensional gedeutet werden, da es unzählige Forschungsansätze mit unterschiedlichsten Gebräuchen und Interpretationsansätzen beinhaltet. So gibt es verschiedene Formen des Sozialkapitals und nicht jede davon ist positiv behaftet. Im begrifflichen Diskurs unterscheidet Putnam zwischen vier verschiedenen Formen des Sozialkapitals: formellem versus informellem, innenorientiertem versus außenorientiertem, brückenbildendem versus bindendem Sozialkapital sowie Sozialkapital mit hoher versus geringer Dichte (Koob 2007: 249). Diese bilden „komplementäre Prismen“ zueinander, durch die eine Bewertung des Sozialkapital erfolgen kann (Putnam/Goss 2001: 25).
Sozialkapital hat vornehmlich positive gesamtgesellschaftliche Wirkungen (vgl. Gefken 2012: 9). Dennoch hat Sozialkapital auch negative Seiten (vgl. Coleman 1988). „Social capital, in short, can be directed toward malevolent, antisocial purposes, just like any other form of capital“ (Putnam 2000: 22). Die Effekte sind stets kontextabhängig (van Deth/Zmerli 2010). Denn „what benefits some necessarily excludes others“ (Swain 2003: 201). Die „dunkle Seite“ ist für die Förderung von Toleranz eher ungeeignet. Deshalb ist es wichtig, zwischen Formen, die gesamtgesellschaftlich negative oder positive Wirkungen haben, zu differenzieren.
Die Anerkennung dieser „dunklen Seite“ des Sozialkapitals hat die neuere Forschung zu der Unterscheidung vornehmlich zwischen zwei Formen des Sozialkapitals geführt (Halman/Luijkx 2006: 70; Koob 2007: 249; Putnam/Goss 2001; Zmerli 2003). Diese Unterscheidung basiert auf „Vorstellungen über Veränderungen individueller Einstellungsmuster, die mit der Homogenität bzw. Heterogenität sozialer Kontakte einhergehen“ (Zmerli 2008: 54). Putnam9 (2000: 22f.) differenziert hier zwischen „bridging social capital“ (inclusive) und „bonding social capital“ (exclusive), also brückenbildendem und bindendem Sozialkapital (vgl. Putnam/Goss 2001: 28ff.). Die Differenzierung zwischen inklusivem und exklusivem Sozialkapital ist in der empirischen Forschung jedoch noch unterentwickelt (Coffé/Geys 2007: 125). Dennoch sind bindendes und brückenbildendes Sozialkapital nicht strikt voneinander getrennt, sondern in einzelnen sozialen Dimensionen durch homogene und in anderen wiederum durch heterogene Indikatoren gekennzeichnet (Zmerli 2008: 50; Putnam/Goss 2001: 29). „Bonding and bridging are not ‘either-or’ categories into which social networks can be neatly divided, but ‘more or less’ dimensions along which we can compare different forms of social capital“ (Putnam 2000: 23).
Bindendes Sozialkapital basiert auf sozialstrukturell eher homogenen, exklusiven Zusammenschlüssen, engen Beziehungen und nach innen gerichteten Interaktionen und Loyalitäten, die die Beziehungen und die Gruppenidentität nach innen verfestigen und stärken und sich in sozialstrukturellen Merkmalen sehr ähneln (Putnam 2000: 22 f.; Putnam/Goss 2001: 28f.; Zmerli 2008: 50; Koob 2007: 249). In diesen Verbindungen werden spezifische Reziprozität und Vertrauen unter den Mitgliedern erzeugt, die ihnen Solidarität und Unterstützung beipflichten (Putnam/Goss 2002: 11; Coffé/Geys 2007: 124; Zmerli 2008: 50). Bindendes Sozialkapital bildet daher den „sociological superglue“ (Putnam 2000: 23). Das Grundprinzip stellt die soziale Schließung bzw. die Abschottung gegen die restliche Gesellschaft dar. Bindendes Sozialkapital „create an in-group bias through which cooperation, trust, and affection are most easily developed for other members of this in-group“ und fördert demnach die out-group-Feindseligkeit (Marshall/Stolle 2004: 130; vgl. Putnam 2000: 23; vgl. Coleman 1988: 318ff.; vgl. Kriesi 2007: 40; vgl. Zmerli 2008: 50). „The absence of direct contact with or sustained knowledge about individuals of different racial, ethnic, or class backgrounds serves to reinforce prejudices“ (Marshall/Stolle 2004: 130). Bindendes Sozialkapital kann daher auch negative Eigenschaften und sogar in Form von illiberalen Effekten haben (Putnam 2000: 23; Putnam/Goss 2001: 28f.). Dies hilft dabei, die eigene Existenz zu sichern. Putnam (2000: 23) nennt es „getting by in life10 “.
Es wird deutlich, dass Toleranz gegenüber Fremden mit bindendem Sozialkapital nicht erreicht werden kann. Hierfür wird brückenbildendes Sozialkapital benötigt. Denn „social interaction among individuals from dissimilar groups and the forging of common cooperative experiences, fosters an identity that helps to both diminish in-group bias and to develop inclusion of former out-group members“ (Marshall/Stolle, 2004: 130). Brückenbildendes Sozialkapital besteht aus heterogenen, nach außen orientierten und häufig nur schwachen Beziehungen, bringt Mitglieder in Kontakt mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und rekrutiert dadurch auch außerhalb des formellen Beziehungsnetzes Mitglieder (Putnam 2000: 22 f.). Das Vertrauen und die Reziprozitätsnormen, die in Vereinen erzeugt werden, werden auch über die Vereinsgrenzen hinausgetragen und erfassen Bürger, die nicht im Vereinsleben gleichermaßen aktiv sind (Stolle 2000). Dies hat zur Folge, dass bestehende soziale Konfliktlinien durchbrochen werden und Verbindungen zwischen den gesellschaftlichen Segmenten mit verschiedenem Hintergrund entstehen. Brückenbildende Vereinigungen sind daher eher in der Lage, Sozialkapital und die daraus resultierende Toleranz zu generieren (Coffé/Geys 2007: 122).
Durch brückenbildendes Sozialkapital, ausgehend von Vereinen, werden individuelle und gesamtgesellschaftliche Wirkungen wie Toleranz erzielt und deshalb fungieren diese als Bindeglied zwischen Beziehungs- und Systemkapital (Fischbach 2013: 34). Coffé und Geys (2007) konnten zeigen, dass die Mitgliedschaft in heterogenen und daher brückenbildenden Vereinen mit einer höheren Toleranz einhergeht als die Mitgliedschaft in homogenen, sozial schließenden Vereinen. Für abgrenzende Vereine lässt sich kein signifikanter Effekt auf die Toleranz feststellen (ebd.: 396). Ein noch deutlicheres Bild zeigt sich bei Iglič (2010)11. Sie kann sogar nachweisen, dass homogene Vereine, die vornehmlich spezifisches Vertrauen erzeugen, einen stark negativen Einfluss auf die Toleranz ihrer Mitglieder ausüben12 (ebd.: 732). Das heißt, dass nur durch Vereine, deren Vereinsmitglieder Menschen mit anderen Einstellungen begegnen können, die Toleranz erhöht wird, also auch nur von brückenbildenden Vereinen eine Toleranzstärkung ausgehen kann. Die Mitliederzusammensetzung spielt bei der Toleranz daher eine entscheidende Rolle (Born 2014: 32f.). Bleiben Vereine homogen, lässt sich dieser Effekt nicht bestätigen und sogar negativieren.
In vielerlei Hinsicht sehen Forscher die Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Netzwerken als wichtigste strukturelle Komponente des Sozialkapitals an (Offe/Fuchs 2001: 419; Putnam 1993: 173; Coleman 1988; Portes 1998). Tocqueville (1835) sieht Vereine als Mittler zwischen Staat und Bürgern und bezeichnet sie als „Schule der Demokratie“. Denn in Vereinen findet ein Lern- und Sozialisationsprozess statt, der vor allem positive demokratische Einstellungen und Handlungen wie Toleranz generiert und fördert. So ermöglichen Vereine den Mitgliedern das Eingehen von Kooperationen, da sie zum einen die Interessen und Ressourcen einzelner bündeln und zum anderen zur Gemeinwohlorientierung der Bürger mit gesamtgesellschaftlichem Nutzen beitragen (Tocqueville 1835: 598f.; Coleman 1988; Putnam/Goss 2001). Zudem werden im gegenseitigen Austausch mit anderen individuelle Meinungen und Haltungen geprüft und kontrolliert (Putnam 2000: 355). Gleichzeitig fördern sie die Internalisierung von gemeinschaftsorientierten Werten und Normen und entschärfen soziale Konfliktlinien der Gesellschaft zur Förderung der sozialen Integration (Putnam 1993: 107ff.; Gabriel et al. 2002: 37ff. u. 97ff.).
Cigler und Joslyn (2002: 15) konnten zeigen, dass die Toleranz mit der Anzahl der Vereinsmitgliedschaften sowie des Vereinstypus ansteigt. Wichtig für die Entstehung von Sozialkapital ist aber nicht die bloße Mitgliedschaft in Netzwerken, sondern der Aktivitätsgrad. Nur durch eine aktive, engagierte Mitarbeit entsteht Sozialkapital, die dann Vertrauen fördert und Kooperation erleichtert und dadurch demokratische Verhaltensweisen wie Toleranz begünstigt (Zmerli 2008: 48; Putnam 2000). In der Toleranzforschung hat die Vereinsaktivität Relevanz bei der Begründung individueller Toleranzniveaus. Anhand der Daten des US-amerikanischen General Social Survey, untersuchten Cigler und Joslyn (2002), inwiefern sich die Vereinsaktivität in verschiedenen Vereinen auf die politische Toleranz auswirkt (ebd.: 14). Sie fanden heraus, dass Vereinsmitglieder im Allgemeinen mehr Toleranz zeigen als Nichtmitglieder, sodass aktives Vereinsengagement ein signifikanter Prädiktor für Toleranz darstellt (ebd.: 15). Für Kanada konnten Cote und Erickson (2009) ebenfalls diese Ergebnisse erzielen. Aktives Engagement führt bei ihnen demnach zu mehr Toleranz und Offenheit13 (Cote/Erickson 2009). Toleranz dürfte sexuellen Minderheiten wie Homosexuellen so gleichermaßen zu Gute kommen. Dies führt gleichzeitig ebenso zu der Annahme: Je höher die Vereinsaktivität, desto höher ist die Toleranz gegenüber Homosexualität (H1a).
Wie in Putnams Definition erwähnt, bilden Reziprozitätsnormen eine wichtige kulturelle Komponente des Sozialkapitals (Putnam 1993: 172; 2000: 134). „Generalized reciprocity refers to a continuing relationship of exchange that is at any given time14 unrequited or imbalanced, but that involves mutual expectations that a benefit granted now should be repaid in the future“ (Putnam 1993: 172). Aufgrund des unbestimmten Zeitpunktes der „Gegenleistung“ basieren generalisierte Reziprozitätsnormen auch maßgeblich auf Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit (Zmerli 2008: 45). Ebenso kann dann auch argumentiert werden, dass gegenseitiges Vertrauen das gleiche wie generalisierte Reziprozität ist (Halman/Luijkx 2006: 70). Aus diesem Grund werden in der Operationalisierung des Sozialkapitals (vgl. Kapitel 3) nur die zwei anderen Komponenten des Sozialkapitals wie Vertrauen und Netzwerke miteinbezogen.
Als kulturelle Komponente des Sozialkapitals wird soziales Vertrauen ebenfalls als von größter Wichtigkeit eingestuft, das auf Reziprozitätsnormen basiert (vgl. Coleman 1990; Putnam 1993: 170; 2000; Fukuyama 1995). Offe (2001: 249) beschreibt soziales Vertrauen als positive Erwartungshaltung an andere, das „andere durch ihr Handeln oder Unterlassen zum Wohlergehen eines einzelnen oder einer Gruppe beitragen, jedenfalls von schädigenden Handlungen absehen“. Vertrauen ist dann eine Erwartungshaltung unter der Bedingung von Unsicherheit (Kunz 2004: 203). Aus diesem Grund ist Vertrauenswürdigkeit unweigerlich mit Vertrauen verknüpft, denn nach Putnam kann nur dadurch Vertrauen auch erwachsen (Putnam 2000: 136). Daher kann Vertrauen als der „Glaube an das Wohlwollen der menschlichen Natur“ verstanden werden ohne Erwartung einer direkten Gegenleistung und dem Glauben, dass jemand irgendwann etwas Gleichwertiges für dich tut (Yamagishi/Yamagishi 1994: 139, vgl. Putnam 2000: 134ff., vgl. Simmel 1908 1968: 393). Hieran zeigt sich bereits die Ähnlichkeit zu der generalisierten Reziprozität.
Vertrauen ist ein Instrument, das Austauschprozesse einfacher gestaltet und durch das dauerhafte und wechselseitig ertragreiche Kooperationsbeziehungen und vereinfachter Informationsaustausch in Gang gesetzt werden können15 (Preisendörfer 1995; Whiteley 2000). Vertrauen ist Basis für Kooperation und soziale Beziehungen (Coleman, 1990: 321; Putnam, 1993: 171; Kriesi 2007: 28).
Interpersonales Vertrauen richtet sich vornehmlich an engere Vertraute wie die Familie, die Nachbarn oder Freunde, während generalisiertes Vertrauen zu den Mitmenschen im Allgemeinen gerichtet wird (Putnam 2000: 136; Yamagishi/Yamagishi 1994; Freitag/Traunmüller 2009). „How does personal trust become social trust? “ fragte sich Putnam (1993: 171). Interpersonales Vertrauen geht durch generalisierte Reziprozität und Vertrauen, das sich im weiteren Verlauf auch auf außerhalb des eigenen Netzwerkes ausbreitet, in soziales bzw. generalisiertes Vertrauen über (Putnam 1993: 171). Daher bildet vor allem generalisiertes Vertrauen die Basis einer kooperativen Kultur. Es trägt dazu bei, die übrigen Gesellschaftsmitglieder zu inkludieren (Fischbach 2013: 34; Zmerli 2008: 50; Oberle 2014: 372). Soziales Vertrauen wird aber vor allem in brückenbildenden Vereinen generiert, indem sie durch wiederholte persönliche Interaktion Reziprozitätsnormen praktizieren und stärken (Putnam 2000: 20 f.). Denn Menschen, die in allen Richtungen vernetzt sind, sind öfter mit alternativen Denkweisen konfrontiert, die ihnen in der Auswahl dieser mehr Möglichkeiten eröffnen (Burt 2004). Bestätigt wird dies bei Marshall und Stolle (2004: 129), die herausfanden, dass „positive experiences with dissimilar individuals will have greater effects on the development of generalized trust than will the relations with individuals who are similar to oneself in terms of their characteristics, attitudes, or behaviors“. Generalisiertes Vertrauen fördert dadurch demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen wie Toleranz (Putnam 2000: 136f.; Newton 1999; Uslaner 2002), was Homosexuelle miteinschließen dürfte. Hierbei wird aufgrund der Ausführungen erwartet, dass je höher das generalisierte Vertrauen ist, desto höher auch die Toleranz gegenüber Homosexualität ausgebildet wird (H1b).
[...]
1 In „Bowling alone“ (2000), seinem zweiten ausführlichen Werk zu Sozialkapital, attestiert Putnam mithilfe zahlreicher empirischer Studienergebnisse seit den 60er-Jahren der US-amerikanischen Gesellschaft eine Erosion des Sozialkapitals durch Individualisierungstendenzen.
2 Franzen und Freitag (2007: 9) haben eine Literaturliste zur Verwendung der Begriffe social capital und human capital in Zeitschriftenaufsätzen erstellt, die zwischen 1975 und 2006 im Social Science Citation Index erschienen sind. Ein starker Anstieg von Aufsätzen, die das Wort social capital enthielten, ist dabei in den 1990er-Jahren erkennbar.
3 Sozialkapital reduziert die Kosten der Bereitstellung kollektiver Güter durch den Staat, u. a. indem Trittbrettfahrerprobleme verringert werden (Oberle 2014: 372).
4 Mit Co-Autoren: Robert Leonardi und Raffaella Y. Nanetti, im Weiteren nur als Putnam deklariert.
5 Vereine, Organisationen, Verbände etc. werden hier und im Folgenden synonym als freiwillige Vereinigungen verwendet und bezeichnen daher auch keine andersartigen Phänomene.
6 Exakt heißt es bei Newton (1999: 7): „norms of trust and reciprocity without which networks cannot be created; or networks which help create norms of trust and reciprocity“.
7 Diese hier dargestellten Strukturen basieren auf horizontalen Beziehungsstrukturen. Denn „social capital [is] embodied in horizontal networks of civic engagement“ (Putnam 1993: 176). Vertikale Netzwerke mit bestimmten hierarchischen Führungsstrukturen sind nicht förderlich für die Entwicklung demokratischer Werte wie Toleranz (Putnam 1993: 173f.; Cigler/Joslyn 2002: 15).
8 „Unter Toleranz wird eine individuelle Haltung verstanden, die die Äußerung von Meinungen und das Ausleben von Verhaltensweisen akzeptiert, obwohl diese vom Befragten selbst abgelehnt werden“ (Born 2014: 31). In modernen liberalen, pluralistischen Gesellschaften herrschen unterschiedliche Vorstellungen des Guten und Gerechten. Der Wert der Toleranz ist dann unabdingbar und wird verankert in der Achtung vor der Autonomie anderer und dem Recht des Einzelnen auf eigene Willens- und Meinungsbildung (Forst 2008: 15).
9 Putnam bezieht sich bei seiner Begriffsfindung auf Vorarbeiten von Gittell und Vidal (1998) (siehe Putnam 2000: 446, Fußnote 20).
10 Das brückenbildende Sozialkapital geht daher weiter als bloßes „getting by“, brückenbildendes Sozialkapital ist wertvoll für den eigenen Erfolg und die Zukunft, „getting ahead“ (Putnam 2000: 23, Hervorhebungen im Original).
11 Sie fand in west- und osteuropäischen Staaten keinen signifikant positiven Zusammenhang zwischen Vereinsmitgliedschaft und sozialer und politischer Toleranz (Iglič 2010: 732).
12 Dies trifft vornehmlich nur auf Osteuropa zu (Iglič 2010: 732).
13 Dies hängt aber auch von der Vereinsart ab (Cote/Erickson 2009).
14 Generalisierte Reziprozität unterscheidet sich damit von spezifischer Reziprozität, die auf einem gleichzeitigen Tausch vergleichbarer Werte beruht (Zmerli 2008: 45).
15 Ökonomisch gesprochen heißt dies: die produktive Natur des Vertrauens liegt in der Senkung von Transaktionskosten, welche in der Abwesenheit von gegenseitigem Vertrauen in der Form von aufwendiger Informationsbeschaffung, vertraglich abgesicherten Vereinbarungen und teuren Kontrollmechanismen anfallen würden (Fukuyama 1995; Putnam 2000: 135; Zmerli 2008: 46).