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Hausarbeit, 2020
16 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Bindungsstile nach John Bowlby
3. Bindungsstil und Soziale Arbeit
4. Fazit: Bindungsstil-Arbeit in „Systemsprenger“
5. LITERATURVERZEICHNIS
Der englische Kinderpsychiater John Bowlby ist Gründer der modernen Bindungstheorie. Bowlby arbeitete im klinischen Kontext mit Kindern, die bei und nach Trennungen von ihren Eltern wegen bevorstehender Operationen auffällige Reaktionen zeigten. In Zusammenarbeit mit der Sozialarbeit entwickelte er 1944 „The 44 Juvenile Thieves Study“ (Chinnery, 2016, S.80 ff). Diese erste bindungsthematische Studie belegte einen Zusammenhang zwischen Delinquenz und frühen Verlusterfahrungen. Als Leiter der „Abteilung für Eltern und Kind“ einer Kinderklinik implementierte er eine Forschungsgruppe, zu der auch der Sozialarbeiter James Robertson und die Psychologin Margret Ainsworth gehörten, die vor allem experimentell arbeiteten. Thematisch befassten sie sich mit der Interaktion zwischen Kindern und, in der Regel, ihren Müttern. Kritiker/innen warfen ihnen, vor allem später, vor, die Bedeutung des Vaters zu wenig in Betracht gezogen zu haben.1
James Robertsons Hausbesuch-Dokumentationen beschrieben die Bedeutung der Mutter-Kind-Aktion für die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung des Kindes. Sie inspirierten Ainsworth im Jahr 1969 zu ihrem berühmten Versuchsaufbau Fremde Situation („Strange Situation“). Das Experiment belegte, dass bereits Babys Bindungsmuster verinnerlicht haben, die sich messen und in sichere und unsichere bzw. desorganisierte unterscheiden lassen. Der Versuchsaufbau fand seinen Weg in die Praxis zum Erfassen der Bindungsqualität zwischen einem Kind und seiner Hauptbezugsperson. Bis heute folgt die Psychologie der Einteilung in letztlich vier Bindungsstile, welche ich im 2. Kapitel mit Gewichtung auf den desorganisierten Bindungsstil vorstellen werde. Die Soziale Arbeit ist mit diesem Bindungsstil häufig konfrontiert und er macht im Umkehrschluss deutlich, was für die kindliche Entwicklung aus welchen Gründen unentbehrlich ist.
Ausgehend von der Fremden Situation entwickelte die Entwicklungspsychologie Erhebungsverfahren zur Erfassung von Bindungsstilen älterer Kindern und auch Erwachsener. Zwei Verfahren, das „Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEV-B)“ sowie den „Bochumer Bindungstest (BoBiTe)“ werde ich 3. Kapitel präsentieren und, darauf aufbauend, diskutieren, inwiefern sich Bindungsstil-Kenntnisse und Tests in der Sozialen Arbeit wie nutzen lassen – im Sinne der Interaktion und neuer Bindungserfahrungen.
Zusammenführen möchte ich die Erkenntnisse in einer bindungstheoretischen Analyse des preisgekrönten Films „Systemsprenger“ (Fingscheidt, 2019), der ein Kind mit desorganisiertem Bindungsstil beschreibt und dessen Genese erklärt – ebenso wie Versuche, diesen Bindungsstil abzuändern bzw. die Konsequenzen für das Kind, aber auch die Gesellschaft abzumildern.
Was ist Bindung im Unterschied zu Beziehung? Bindung beschreibt, wie Lengning und Lüpschen (2012, S. 11) definieren, „eine emotionale, länger andauernde Beziehung zu bestimmten Menschen, die nach Möglichkeit Schutz bieten als auch unterstützend wirken […]“ (2012, S. 11). Ein Baby benötigt für seine Entwicklung eine Hauptbezugsperson (im Folgenden HBP), die verlässlich zur Verfügung steht und feinfühlig agiert. Die Qualität der Bindung zwischen HBP und Kind lässt sich messen an dem menschlichen Bindungsverhalten, das Bowlby wie folgt definiert:
„Unter Bindungsverhalten verstehe ich jegliches Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen oder zu bewahren, ein Verhalten, das bei Angst, Müdigkeit, Erkrankung und entsprechenden Zuwendungs- oder Versorgungsbedürfnisse am deutlichsten wird.“ (Bowlby, 2018, S. 21)
Konkret versucht ein Baby/Kleinkind etwa durch Weinen oder Anklammern die Bindung zu sichern. Bowlby entschied sich mit „Beziehungsverhalten“ für einen neutralen Begriff : „ Mir widerstreben Begriffe wie ‚Abhängigkeit‘ oder ‚Abhängigkeitsverhältnis‘, da sie herabsetzend klingen, emotionale Beziehungen nur selten zutreffend beschreiben und auch nie wichtigen biologischen Funktionen attribuiert werden können.“ (2018, S. 21). Entsprechend betonen Lengning & Lüpschen, dass es sich beim Bindungsverhalten nicht um eine Schwäche, sondern um „die angeborene Fähigkeit und den überlebenswichtigen Willen des Kindes [handele], die Bindung zu sichern“ (2012, S. 11).
Für die Entwicklung eines Kindes ist es elementar, dass es nicht permanent Bindungsverhalten zeigen muss, denn dann wäre es ihm kaum möglich, die Welt zu erkunden, oder, wie Bowlby es nennt, Explorationsverhalten zu zeigen, das in wechselseitiger Beziehung zum Bindungsverhalten steht (2018, S.35 ff.).2 Permanent aktives Bindungsverhalten führt zu einer ebenso permanenten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, was zu Veränderungen im Gehirn mit (psycho)somatischen Störungen wie, so legen neue Studien nah, ADHS führen kann (Brisch, 2013, S. 30ff.).
Ein Baby ist darauf angewiesen, dass die HBP Bindungswünsche erkennt und in der Lage ist, diese zu befriedigen. Erst mit sechs Monaten kann das Baby durch Krabbeln oder Armbewegungen deutliche Signale geben, wenn es Sicherheit benötigt oder aber die Umwelt erforschen will. Die HBP ist dann dazu aufgerufen, diese Bedürfnisse zu erfüllen, z.B. das Kind einen Gegenstand untersuchen zu lassen, ohne es zu stören, oder aber das Baby hochzuheben, wenn es ihr die Arme entgegen streckt. Ob und wie feinfühlig die HPB auf Signale reagiert, prägt die Ausbildung des Modells von Bindung seitens des Babys und bestimmt, ob es Bedürfnisse und Gefühle zeigen kann - wobei übermäßiges Exponieren oder Unterdrücken von Gefühlen jeweils ein erhöhtes Bindungsverhalten darstellt. Das Bindungsmodell bestimmt langfristig, wie ein/e Erwachsene/r Beziehungen lebt, denn sogar „im hohen Alter und bei Demenz greifen wir auf frühkindliche Erfahrungen und innere Repräsentationen der Eltern-Kind-Bindung zurück“ (Scheurer-Englisch, H. 2013, S.3).
Als erstes Messinstrument dient die bereits erwähnte Fremde Situation, die Beziehungsstile von Kindern im Alter von 11-20 Monaten zuverlässig erfasst. In der Fremden Situation wird zwei Mal hintereinander folgendes Trennungsszenario inszeniert (vgl. für diesen Abschnitt Lenging & Lüpschen, 2012, S. 15-23): Ein Beobachter sowie HBP und Kind sitzen in einem Raum mit Spielzeug. Die HBP verlässt den Raum. Der Beobachter wendet sich dem Kind zu. Nach drei Minuten, bei hohem Distress des Kindes auch weniger, kehrt die HBP zurück. Wie verhält sich das Kind? Weint es? Lässt es sich schnell beruhigen? Kehrt es zum Spiel zurück? Die Beantwortung dieser Fragen lässt den Bindungsstil als sicher/unsicher oder aber desorganisiert klassifizieren.
Sicher gebundene Kinder zeigen in der Fremden Situation folgendes Verhalten, wenn die HBP zurückkehrt: Sie nehmen nach der stressvollen Trennung sofort Kontakt zu ihrer HBP auf und möchten von ihr getröstet werden. Diese Kinder sind schnell zu beruhigen und spielen bald weiter mit den Spielzeugen im Raum. Denn sicher gebundenen Kinder haben überwiegend die Erfahrung gemacht, dass die HBP bei Stress verfügbar ist und feinfühlig auf ihre Bedürfnisse reagiert, sie besitzen eine verlässliche Basis, „a secure haven“, wie Bowlby es nannte (2013, S.9-10).
Die sichere Bindung gilt als Schutzfaktor gegen psychische bzw. psychosomatische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen und vermutlich auch ADHS. Sicher gebundene Kinder sind widerstandsfähiger und empathischer. Sie „zeigen mehr gemeinschaftliches Verhalten […]. Kinder mit sicheren Bindungen sind auch kreativer, aufmerksamer […], ihre Lern- und Gedächtnisleistungen und die Sprachentwicklung sind besser“, fasst Scheurer-Englisch zusammen (2013, S. 19 ff.). Erklären lässt sich dies durch die Explorationsmöglichkeiten, die sicher gebundenen Kindern zur Verfügung stehen. Nicht erklären lässt sich, warum Kinder mit anderen Bindungsstilen dennoch sozial und kognitiv sehr erfolgreich sein können.3 Die Prävalenz sicher gebundener Kinder liegt hierzulande bei knapp 50% (Lenging & Lüpschen, 2012, S. 23).
Unsicher gebundene Kinder zeigen in der Fremden Situation bei der Wiederkehr kein angemessenes Verhalten. Mit angemessenen Verhalten ist hier gemeint, dass das Kind natürlicherweise Angst bekommt und Emotionen zeigt, wenn es realisiert, dass seine HBP den Raum verlassen hat. Ebenso angemessen wäre es, wenn das Kind bei der Wiederkehr der Mutter Trost sucht und sich beruhigen lässt, wie dies bei sicher gebundenen Kindern der Fall ist. Unsicher gebundene Kinder hingegen reagieren auf die Wiederkehr der HBP mit stark erhöhtem und deutlich länger aktivierten Bindungsverhalten – allerdings auf zwei unterschiedliche Weisen.
In der Fremden Situation vermeidet das Kind den Kontakt zur HBP nach deren Wiederkehr; es sieht nicht zu ihr herüber, sucht keinen Kontakt. Ein Kind mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil hat aufgrund der vorherigen Erfahrungen mit seiner HBP gelernt, dass es in schwierigen Situationen keine Unterstützung erhält bzw. dass seine HBP ablehnend wirkt, wenn das Kind Zuwendung sucht. In dem Modell von unsicher-vermeidend gebunden Kindern ist die HBP grundsätzlich zurückweisend repräsentiert. Das Kind passt sich dem Verhalten der HBP an, indem es scheinbar kein Bindungsverhalten zeigt, sondern vielmehr den Anschein erweckt, allein zurecht zu kommen. Fatalerweise werden diese Kinder als unkompliziert angesehen, da sie kaum negative Emotionen zeigen und selbständig agieren. Spätere Studien zeigten, dass diese Kinder trotz ihrer vordergründig gleichgültigen Reaktion in der Fremden Situation hohen Distress bzw. Stress empfanden: Forscher maßen bei ihnen einen stark erhöhten Herzschlag (Sroufe & Waters,1977, S. 1191). Es ist festzuhalten, dass dieser Bindungsstil für das Baby/Kleinkind sinnvoll ist: Es vermeidet den Kontakt, um nicht den Schmerz einer Zurückweisung ertragen zu müssen.
Die Prävalenz dieses Bindungsstils liegt bei knapp 30% (Lengning & Lüpschen, 2012, S. 23.).
Ein unsicher-ambivalent gebundenes Kind zeigt in der Fremden Situation ebenso widersprüchliche wie nachvollziehbare Reaktionen. Auf der einen Seite will es nach der Wiederkehr der HBP hochgehoben werden, wehrt sich aber gleichzeitig dagegen, indem es etwa das Gesicht abwendet. Das Kind reagiert so durchaus angemessen auf das Verhalten der HBP, welches ja von Ambivalenz geprägt ist. Die Bindungsrepräsentanz des Kindes folgt der Regel ‚Mal wird mein Bindungsverhalten beantwortet, mal nicht. Mal bietet die HBP mir Schutz und Trost, mal nicht‘. Diese Kinder sind ständig damit beschäftigt, die aktuelle Bindungsbereitschaft der HBP zu prüfen. Unsicher-gebundene Kinder erscheinen entsprechend anstrengend und unselbständig – im Gegensatz zu den in 2.2.1. beschriebenen Kindern mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil.
Die Prävalenz des unsicher-ambivalenten Bindungsstils liegt bei knapp ca. 7%.
Beide Formen der unsicheren Bindung prägen das Leben auf emotionaler, sozialer und kognitiver Ebene: Da unsicher gebundene Kinder ständig mit der Unterdrückung oder aber dem übermäßigen Exponieren von Bindungswünschen beschäftigt sind, fühlen sie sich wenig frei, ihre Umwelt zu erkunden, weitere Sozialkontakte aufzubauen, zu spielen, zu lernen, etc.
Der desorganisierte oder auch desorientierte Bindungsstil etablierte sich erst Anfang der 80er in der Entwicklungspsychologie. Die Ainsworth-Schülerinnen Mary Main und Judith Solomon boten als erste diese Klassifikation an. May und Solomon beobachteten in der Fremden Situation Kinder, die sich keinem der bekannten Bindungsstile zuordnen ließen, da ihre Reaktionen auf die zweimaligen Trennungs-Szenarien jeweils anders ausfielen, ihr Verhalten bei der Wiederkehr der HBP also nicht vorhersehbar war. Brisch beschreibt die unterschiedlichen Reaktionen wie folgt:
„Die Kinder laufen manchmal auf die Mutter zu, wenn die Mutter nach einer Trennung wiederkommt, nach einer anderen Trennung laufen sie vor der Mutter davon, bleiben plötzlich stehen, geraten in tranceartige Zustände [...].“ (2012, S. 19).
Die Gründe für dieses Verhalten sind vielfältig: Kinder mit desorganisiertem Bindungsstil haben nicht nur mit der Nicht-Beachtung oder Manchmal-Beachtung ihres Bindungsverhaltens durch die HBP zu kämpfen wie unsicher gebundene Kinder. Desorganisiert gebundene Kinder haben früh die Erfahrung gemacht, dass die HBP ihnen aggressiv gegenüber tritt, unter physischer und/oder psychischer Gewaltanwendung; nicht selten sind sie Opfer sexuellem Missbrauchs. Dennoch: ein desorganisierter Bindungsstil lässt sich häufig, aber nicht immer auf diese Faktoren zurückführen. Auch eine kurzfristige Traumatisierung des Babys kann zu diesem Bindungsstil führen, obwohl das Kind vielleicht schon wenig später, etwa durch Pflegefamilien, verlässliche Fürsorge erfährt. Ebenso kann ein Trauma der HBP ursächlich für einen desorganisierten Bindungsstil sein, ohne dass diese ihr Kind vernachlässigt oder misshandelt. Diese HBP spiegelt dem Kind fortwährend Angst, welche das Kind internalisiert (Siegel, 2011) und ebenso fortwährend Angst empfindet. Die Prävalenz des desorganisierten Bindungsstil liegt bei knapp 20% und begegnet der Sozialarbeit häufig. Denn: Ein desorganisierter Bindungsstil, der an sich noch keine klinische Kategorie ist, führt später oft, wenn auch nicht notwendigerweise zu schweren Bindungsstörungen, welche mit stark gehemmter oder aber enthemmten Verhalten einhergehen, das sich u.a. in Delinquenz niederschlagen kann (siehe Kapitel 3). Ein desorganisierter Bindungsstil stellt folglich nicht nur ein individuelles, sondern ebenso ein gesellschaftliches Problem dar. Diese Kinder oder, später, Jugendliche und Erwachsene „stören“ bis ihnen, im Idealfall kompetent geholfen wird.
Ein Kind kann aus sich selbst heraus keinen sicheren Bindungsstil entwickeln oder abändern. Der Bindungsstil prägt das Individuum ein Leben lang und bestimmt sein Empfinden, seine kognitiven Leistungen und sein Sozialverhalten. Bindungsstörungen, die sich vor allem aus desorganisierten Bindungsstilen ergeben, gipfeln in Delinquenz, Drogenmissbrauch, Schuldistanz, Obdachlosigkeit oder auch, später und weniger sichtbar, in Familien, in denen Vernachlässigung, Sucht und/oder Gewalt den Alltag bestimmen. Menschen mit gestörtem Bindungsverhalten beschäftigen Sozialarbeiter/innen in der Gerichtshilfe, beim Kindernotdienst, in Mutter-Kind-Heimen. Aber auch unsichere Bindungsstile müssen häufig bearbeitet werden, etwa in der Familienberatung.
Bindungsstile werden von Generation zu Generation weitergegeben, wie Forschungen belegen.4 Es ist also im gesamtgesellschaftlichen Interesse, negative Bindungsrepräsentationen zu bearbeiten, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Die soziale Arbeit ist eine Instanz, welche die Möglichkeiten zur Bindungsarbeit besitzt und sie auch seit Jahrzehnten, jedoch keineswegs selbstverständlich nutzt. Entsprechend zielen zahlreiche Weiterbildungs-Angebote darauf ab, „bindungstheoretisches Grundlagenwissen und aktuelle Ergebnisse aus der Bindungsforschung anwendungsorientiert für die pädagogisch-therapeutische Arbeit zu vermitteln“ (Kißgen, 2020, S.1).
Für die soziale Arbeit mit Kindern ist es in der Interaktion förderlich, Bindungsstile oder auch Bindungsstörungen zu erkennen. Diese Erkenntnis unterstützt den Beziehungsaufbau und lässt befremdliche Verhaltensweisen des Kindes nachvollziehbar erscheinen. So kann etwa dessen Wunsch nach einem schnellen Beziehungsabbruch aus der Kenntnis eines unsicher-vermeidenden Bindungsstils abgeleitet und entsprechend eingeordnet werden. Das Erkennen eines Bindungsstils ist darüber hinaus wichtig, um über weitere Maßnahmen zu entscheiden, etwa über den Verbleib eines Kindes bei seiner HBP oder auch über Therapie-Empfehlungen (Lengning & Lüpschen, 2012, S. 42). Wie aber lassen sich Bindungsstile von Kindern verlässlich evaluieren?
Das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEV-B) von Gloger-Tippelt und König wurde für die Erfassung von Bindungsrepräsentation vier- bis achtjähriger Kinder entwickelt. Das GEV-B ist in der Praxis leicht zu handhaben, erfordert aber Kenntnisse der Kriterien für die Auswertung, welche in zweitägigen Workshops erworben werden können (Gloger-Tippelt, 2020).
Im GEV-B sitzt der/die Sozialarbeiter/in mit dem Kind an einem Tisch, auf dem vier Puppen liegen. Mit diesen Puppen spielt er/sie dem Kind insgesamt sieben festgelegte Anfänge von Geschichten vor. Das Kind wird dann gebeten, die Geschichten jeweils weiter zu spielen.
Eingeleitet wird der Test mit einer Aufwärmgeschichte und abgeschlossen mit einer Entspannungs-Geschichte. Dazwischen sind fünf Szenarien vorgesehen, in denen jeweils eine Bindungssituation thematisiert wird: Einem Kind passiert etwas, worauf die HBP auf unterschiedliche Art und Weise reagieren könnte. Das Kind spielt in der Geschichte alle Figuren und zeigt so, welches Modell von Bindung es internalisiert hat. Die fünf Geschichten befassen sich mit elterlichem Autoritätsverhalten („umgeschütteter Saft“), mit Fürsorgeverhalten („Monster im Kinderzimmer“; „verletztes Knie“) und, wie in der Fremden Situation, mit Trennung und Wiederkehr.
In der Geschichte „Verletztes Knie“ (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 104) hat sich das Puppenkind am Knie verletzt. Das Kind soll nun erzählen bzw. darstellen, wie die Geschichte weitergeht: Weint das Puppenkind? Hält es den Schmerz zurück? Wie reagiert die HBP-Puppe? Nimmt sie das Kind in den Arm? Pustet sie? Oder geht sie auf das Weinen vielleicht gar nicht ein und wendet sich ab? Wird sie wütend? Welches Fürsorgeverhalten zeigt sie?
Jede der fünf Geschichten erhält einen Bindungssicherheitswert von 1-4. Weitere Faktoren wie bedeutende Ereignisse in der Biografie des Kindes oder aber auch Zustände während der Befragung – Scheu, Müdigkeit – fließen in die Bewertung mit ein (Lengning & Lüpschen, 2012, S. 48-51). Das Kodiersystem wurde von der Universität Düsseldorf immer wieder überarbeitet und so für die Praxis nutzbar gemacht (Gloger-Tippelt & König, 2016, S. 104).
Ein weiteres, etabliertes und in der Praxis nutzbares Verfahren ist der Bochumer Bindungstest (BoBeTi). Der Test eignet sich für Kinder zwischen acht und 14 Jahren, dauert 25 Minuten und kann einzeln oder auch in einer Gruppe durchgeführt werden.
Im BoBiTe sehen sich Kinder nacheinander elf Bilder an, die eine bindungsrelevante Situation zeigen und kreuzen daraufhin ein Item an, der auf einen sicheren, einen unsicher-vermeidenden oder ambivalenten Bindungsstil schließen lässt. Ein desorganisierter Bindungsstil lässt sich mit dem BoBiTe allerdings nicht feststellen bzw. er ist auf diese Kategorie nicht ausgerichtet. Der BoBiTe kann gut in Beratungssituationen und in der Gruppenarbeit genutzt werden.
Kinder mit unsicherem bzw. desorganisierten Bindungsstil haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Emotionen nicht gespiegelt wurden und dass die HBP auf ihr Bindungsverhalten unangemessen, also kaum oder übertrieben reagiert hat. Kinder mit sicherem Bindungsstil hingegen haben überwiegend Feinfühligkeit seitens ihrer HBP erfahren, wobei „Feinfühligkeit die Fähigkeit [bedeutet], kindliche Signale wahrnehmen, richtig interpretieren sowie angemessen und prompt auf sie reagieren zu können“ (Lenging & Lüpschen, 2012, S. 24).
Kinder, die wenig Feinfühligkeit erfahren haben, zeigen nicht nur als Babys, sondern auch im weiteren Verlauf ihres Lebens ein ihrem Alter oft unangemessenes Bindungsverhalten, etwa in Form erhöhter Aggression, als Opfer/Täter von Mobbing, mangelnder Distanz zu Fremden etc.
Brisch ist der Ansicht, dass vor allem Angst hinter dem aktivierten Bindungsverhalten liegt:
„Angst ist ein ständiger Begleiter dieser Kinder in allen möglichen Bindungssituationen. […] Mit ihrem aktivierten Bindungsbedürfnis richten sich die Kinder an die Pädagogin, den Pädagogen, Sozialarbeiter mit der Hoffnung, es möge sich für sie vielleicht erstmals im ganzen Leben eine neue Chance zu einer sicheren Bindung eröffnen.“ (2012, S. 23)
Die Hoffnung kann vom Kind allerdings nicht geäußert werden, es realisiert seinen Wunsch nach Bindung in der Regel gar nicht. Für den/die Sozialarbeiter/in, der/die Kenntnisse in der Bindungstheorie besitzt, tritt er jedoch klar zutage. Ein Kind, das zu heftigen emotionalen Ausbrüchen neigt oder etwa wankelmütig wirkt, scheint Bindungsangebote abzuwehren, fordert sie letztlich aber ein bzw. bittet um sie – auf die Art und Weise, die ihm seit jeher vertraut ist.
[...]
1 Darunter Klaus Hurrelmann, der allerdings erforscht hat, dass sich die Verhältnisse trotz heutiger überwiegender Berufstätigkeit von Müttern aus Kindersicht kaum geändert haben: etwa 2/3 der Kinder haben das Gefühl, dass ihre Mutter genug Zeit für sie hat, nur 1/3 denken dies von ihrem Vater (Hurrelmann, 2017, S. 65).
2 Interessant ist, dass das kindliche Sicherheitsbedürfnis nicht in allen Kulturen gleich hoch ist. Amerikanische Kinder haben ein deutlich geringeres Sicherheitsbedürfnis als europäische oder japanische, die wiederum ein deutlich höheres als europäische Kinder besitzen. Vgl. Lengning & Lüpschen, 2012, S. 13.
3 Tatsächlich hat diese Frage ein ganz Forschungsfeld eröffnet, die Resilienzforschung.
4 In ihrem Aufsatz „Transmission von Bindung über die Generationen – Der Beitrag des Adult Attachement Interview“ stellt Gloger-Tippelt dar, wie mit Hilfe eines Erhebungsverfahrens des Bindungsstil von Erwachsenen, dem Adult Attachement Interview, die Übertragung von Bindungsstilen zwischen zwei Generation belegt wurden. So haben Eltern mit sicherem Bindungsstil eher sicher gebundene Kinder, Eltern mit unsicher-ambivalenten Bindungsstil eher Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil (Gloger-Tippelt, 1991, S.73-85).