Die Entwicklung der Buchmalerei hatte in der zweiten Hälfte de 15. Jahrhunderts bereits ihren Höhepunkt überschritten. Dennoch bestand bei einigen Liebhabern auch noch in den 1470er Jahren großes Interesse an dieser Kunstform. Solcherlei spätmittelalterliche Buchmalerei unterscheidet sich in einigen Punkten erheblich von Arbeiten aus der Hochphase der Buchillumination.
Die in diesem Essay eingehender betrachtete Handschrift, mit großer Wahrscheinlichkeit im Auftrag der Margarethe von Savoyen hergestelltes Produkt der so genannten „Henfflin-Werkstatt“ zählt zur Kategorie jener spätmittelalterlichen „multimedialen“ Werke, die doch bisher in keine Kategorie zu passen schienen: Die Handschrift „Pontus und Sidonia“, die heute unter der Signatur Codex Palatinum Germanicum 142 im Katalog der Heidelberger Universitätsbibliothek zu finden ist. Da eine umfassende Analyse der Handschrift im Rahmen dieser Arbeit praktisch ausgeschlossen ist, sollen anhand der ausführlichen Betrachtung zweier exemplarisch herausgegriffener Illustrationen sowohl einige Rückschlüsse auf die Binnenfunktion der Illustrationen innerhalb der Sequenzen als auch auf die Faktur des Werkes im Gesamten induziert werden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Allgemeines zur Handschrift
3. Allgemeines zu den untersuchten Abbildungen
4. Einige Erwägungen zur Bildflächenbegrenzung
5. Bildbetrachtung
5.1. Betrachtung der Abbildung auf Folio 17 verso
5.2. Betrachtung der Abbildung auf Folio 19 recto
5.3. Zum Einsatz piktographischer Elemente auf Folio 19 recto
6. Vergleichende Gegenüberstellung und Fazit der Betrachtung der Illustrationen von Folii 17 verso und 19 recto
7. Resümee
8. Abbildungen
9. Literatur
9.1. Quellen
9.2. Sekundärliteratur
9.3. Handschriftendigitalisate und andere digitale Quellen
10. Abbildungsnachweis
11. Anhang: Tabelle zur Rahmenfarbe
1. Einleitung
Nur wenige künstlerische Arbeiten, dieaus der Zeit vor 1500 stammen, zählen zu der, von der kulturhistorischen Warte aus betrachtet ohnehin fragwürdigen Kategorie der „Meisterwerke“.
Ein Grund hierfür mag bereits im Faktum liegen, dass führende Wissenschaftler sich in der Vergangenheit bevorzugt mit „zentralen Werken der Kunst des europäischen Kontinents“ auseinandersetzten und diese zueinander in Beziehung brachten. Nicht zuletzt der Literaturwissenschaftler Horst Wenzel widerspricht in seinem „Plädoyer für eine Literaturgeschichte der Herrschaftsbereiche und ihrer Institutionen“[1] genau dieser Vorgehensweise vehement und wendet sich ganz entschieden von Kategorien wie „Nationalliteratur“[2], „Kulturzusammenhang“[3] oder „Stileinheit“[4] ab – von einer pan-europäischen Kultur ganz zu schweigen. So mag die Anlehnung an die Nachbardisziplin Literaturwissenschaft im Rahmen der Einleitung einer kunsthistorischen Arbeit vielleicht zunächst Anstoß erwecken, scheint aber, wie aus dem Folgenden ersichtlich, zumindest erwägenswert, da viele disziplinübergreifende oder – mit anderen Worten multimediale Werke die, mit den üblichen Ansätzen schwer zu fassen und nach herkömmlichen Prinzipien kaum kategorisierbar – bisher unter der Wahrnehmungsschwelle beider Wissenschaften verblieben sind.
Schreibt Wolfgang Kemp nämlich beispielsweise eine Geschichte des Raumes in der Kunst, so bedient er sich hierfür diverser Beispiele aus unterschiedlichen Kulturräumen Europas, fördert damit den Eindruck der Existenz eines pan-europäischen Kunstbetriebes im Hoch- und Spätmittelalter.[5] Nun mögen Beispiele, die im Rahmen einer Untersuchung des Raumes in der Kunst anzuführen sind, augenfällig und zweifelsohne populär sein, aber gerade die Fragestellung spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der anschließenden Auswahl des zu untersuchenden Materials. Oder allgemeiner formuliert: der wissenschaftliche Ansatz bestimmt, was erforschenswert ist und was nicht. Denn gerade die Fokussierung auf oberflächlich, das heißt durch die „Brille des 21. Jahrhunderts“ betrachtet, als „ästhetisch elaboriert“[6], und „artifiziell und ikonographisch differenziert“[7] erscheinende Objekte ist eine offensichtliche Fehlerquelle, die immer wieder die Gefahr der Fehleinschätzungen historischer Zusammenhänge mit sich bringt. Denn eine solche, wertende Herangehensweise steht im klaren Widerspruch zur Tatsache, dass Hersteller und Auftraggeber der künstlerischen Arbeiten zumindest in den meisten Fällen mit deren Ausarbeitung sicher nicht unzufrieden waren. Dies ist nicht nur bedenklich, sondern hat auch zur Folge, dass auf der Suche nach geeigneten Sekundärtexten zu einer solchen, „unpopulären“ Bildquelle zunächst die Lektüre eine verhältnismäßig große Anzahl Bücher erfolgen kann, ohne dass man dabei auf konstruktive Hinweise oder gar mögliche Interpretationsansätze stoßen würde. Dem Autor dieser Bildbetrachtung blieb also trotz der im 21. Jahrhundert zur Verfügung stehenden elektronischen Medien über große Strecken hinweg nicht anders übrig, sich letztendlich doch wieder der Hilfsmittel zu besinnen, die dem angehenden Kunsthistoriker stets die vertrautesten sein sollten: Die eigenen Augen.
2. Allgemeines zur Handschrift
Das im folgenden eingehender betrachtete Stück, mit großer Wahrscheinlichkeit im Auftrag der Margarethe von Savoyen hergestelltes Produkt der so genannten „Henfflin-Werkstatt“ zählt sicher zur Kategorie dieser multimedialen Werke, die doch bisher in keine Kategorie zu passen schienen: Die Handschrift „Pontus und Sidonia“[8], die heute unter der Signatur Codex Palatinum Germanicum 142 im Katalog der Heidelberger Universitätsbibliothek zu finden ist. Da eine umfassende Analyse der Handschrift im Rahmen dieser Arbeit praktisch ausgeschlossen ist, sollen anhand der ausführlichen Betrachtung zweier exemplarisch herausgegriffener Illustrationen sowohl einige Rückschlüsse auf die Binnenfunktion der Illustrationen innerhalb der Sequenzen als auch auf die Faktur des Werkes im Gesamten induziert werden.
3. Allgemeines zu den untersuchten Abbildungen
Zwei Abbildungen dienen hier als „pars pro toto“: Die Illustrationen der Folii 17 verso und 19 recto.[9] Auf diesen zwei Folii wird in Text und Bild die Provokation zur – und Eskalation der – kriegerische Auseinandersetzung zwischen den bretonischen Truppen und dem heidnischen Invasorenheer geschildert. Die sich über 28 Papierseiten erstreckende Sequenz beinhaltet 14 farbige Illustrationen, die grob in drei Binnensequenzen zu gliedern sind (Kommunikation, Zweikampf, Krieg).[10] Die Abbildungen nehmen in der Höhe jeweils zwischen 25 und 28 Zeilen, das heißt zwischen 15 und 17 cm ein, ihre Breite entspricht in etwa dem Schriftblock, in Zahlen entspricht das etwa 13,5 bis 14,5 cm.
Jede Doppelseite des hier betrachteten Abschnitts enthält eine Abbildung, ausgenommen die Doppelseite 28v/29r (zwei Textseiten), sowie die Doppelseite 30v/31r (zwei Abbildungen).[11] Die Illustrationen sind ausnahmslos in den Textfluss integriert. Das heißt, dass ein Bild immer den Text an der ihm entsprechenden Stelle unterbricht. Die Bildüberschriften wurden auf typographischer Ebene nicht explizit vom Text abgesetzt, sie beginnen alle mit dem Worte „Wie...“ unterscheiden sich jedoch neben ihrer differierenden Farbgebung durch keine weiteren graphischen Merkmale vom „Kontext“.
4. Einige Erwägungen zur Bildflächenbegrenzung
Ein aus ein bis drei konzentrisch angeordneten, verschiedenfarbigen Linien konstruierter Rahmen grenzt die Bildfläche deutlich vom Rest der Buchseite ab, wobei keine dieser Bildflächenbegrenzungen der nächsten gleicht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Tatsache, dass die Vorzeichnung lediglich die für den Rahmen vorgesehene Fläche eingrenzt. Die Binnenstruktur, respektive Breite der Linien, Anzahl und Farbgebung wurde offenbar erst im Zuge der Kolorierung festgelegt, wobei die Kolorierung der Rahmen nicht einheitlich ist. Sequenzen in der häufigsten auftretenden Farbkombination rot-gelb-rot werden immer wieder durch einzelne Illustrationen mit Bildbegrenzungen in den Farben Violett-Gelb-Violett (wobei Violett hier als Synonym für einen schwer zu definierenden, stellenweise in dunkles Purpurrot abgleitenden Braunton dienen soll), Rot-Gelb-Ocker oder, wie auf den Folii 63 recto oder 88 verso gar durch einfarbig rote, beziehungsweise teilweise oder auch vollkommen unkoloriert Rahmen (beispielsweise auf folii 89 recto oder 92 verso) unterbrochen.[12]
Die Annahme, dass die Wechsel der Farbschemata nach einem bestimmten mathematischen, semiotischen oder ästhetischen Muster erfolgt ließ sich jedoch anhand der am Rande dieser Arbeit vorgenommenen Untersuchung ebenso wenig bestätigen wie die These, dass ausschließlich Überschüsse der zum Zweck der Kolorierung der jeweiligen Illustration bereits angemischten Pigmente zur Ausgestaltung des Rahmens Verwendung fanden. Durch eine detaillierte (Pigment-) Analyse des Farbauftrages am Original wäre man unter Umständen in der Lage, in diesem Punkt mehr Klarheit zu schaffen. Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass sich die Buchmaler der Werkstatt Henfflin ähnlicher Bildbegrenzungsschemata nur noch bei den Prosaromanen Sigenot[13] und Herpin[14] bedienten. Bei allen anderen Handschriften, die dieser Werkstatt zugeschrieben werden können, finden sich keine, beziehungsweise vorrangig monochrome Bildbegrenzungen.
5. Bildbetrachtung
5.1. Betrachtung der Abbildung auf Folio 17 verso
Die im Folgenden betrachteten Abbildungen auf Folii 17 verso, beziehungsweise auf 19 recto stellen Abschnitte einer höfischen Empfangsszene dar. Ein heidnisches Heer ist mit dem Ziel der gewaltsamen Missionierung der Bevölkerung in das Christliche Königreich von Brittanien eingedrungen. Der Waise Pontus, dessen Eltern bei einem ähnlichen, einige Jahre zuvor erfolgten Überfall auf sein Heimatland ums Leben kamen, steht unter der Vormundschaft des bretonischen König und sieht sich durch die Meldung über die Landung fremder Truppen nun erneut in seiner Existenz bedroht. Die hier betrachtete Illustrationen zeigen den Empfang eines Sendboten des heidnischen Heerführers bei Hofe, der zum Zweck der Überbringung der Kapitulationsforderung und der anschließende Rückübermittlung der Antwort an seinen Auftraggeber beim obersten Landesherren vorstellig wird.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun zunächst Folio 17 verso zu: Die Bildüberschrift „Wie ein heidenische ritter für den kunig kam und im sagte, was im der jung soldan anbotten hetto“ beschreibt einen weit umfangreicheren Zeitraum, als in der Abbildung letztlich dargestellt: sichtbar ist hier alleine der Moment der offensichtlichen Übergabe eines versiegelten Schriftstücks durch den Gesandten des „jung sodans“ an den „kunig von Brittanien“. Beginnt man das Bild von der linken oberen Ecke an zu „lesen“, so entdeckt man zunächst unter einem roten Baldachin, von welchem nur mehr der vordere Teil sichtbar ist, den Regenten von Brittanien, der sich Boten und Betrachter durch Krone, hermelinverbrämten Purpurmantel und Zepter eindeutig als König zu erkennen gibt.[15] Entlang seiner linken Hand gleitet der Blick des Bildperzipienten nun hinüber zu dessen Gegenüber, dem in der Bildüberschrift als „heidenischer Ritter“ bezeichneten Überbringer der Botschaft, der mit dem König auf Augenhöhe wäre, würde er sich nicht vor diesem verneigen. Im Hintergrund der rechten Bildhälfte findet sich eine nicht näher zu bestimmende Anzahl Personen, von denen jedoch nur die vorderen drei in Ganzkörperansicht dargestellt werden. Die übrigen Zuschauer sind nur mehr durch Übereinanderstaffelung von verschiedenfarbigen, teilweise durch den rechten Bildrand „angeschnittenen“ Halbkreisen angedeutet. Wichtig scheint hier in erster Linie: Es sind viele, in die Handlung nicht miteinbezogene Personen anwesend, die dem – offenbar auf freiem Feld stattfindenden – Empfangszeremoniell beiwohnen. An dieser Stelle werden die Blicke des Betrachters, nun am Ende der „Lesestrecke“ angelangt, von seinen „Mitbeobachtern“ gleichsam eingefangen, und entlang deren Blickachse erneut auf das Zentrum des Geschehens geleitet: Die Kommunikation von König mit „heidenischem ritter“.
Mit der linken Hand nimmt der – oberflächlich entspannt wirkende – König die Botschaft des Gesandten in Empfang, ohne dabei jedoch seinem Gegenüber in irgendeiner Weise physisch entgegenzukommen. Das Gegenteil scheint vielmehr der Fall zu sein: kaum merkliche, bei längere Betrachtung jedoch augenfällige Details legen die Vermutung nahe, dass die auf den ersten Blick entspannt erscheinende Haltung des Sitzenden vielmehr einem, der Situation und dem sozialen Status des Königs angemessenen, dezenten Zurückweichen vor dem äußerst offensiv auftretenden Boten entspricht.
Des Königs rechte, zur Faust geballte Hand umfasst angespannt das leicht zur Schulter hin zurückgeneigte Zepter, das als Insignie einerseits gegenüber dem Moslem die politische Kompetenz seines Trägers weiter unterstreicht, darüber hinaus jedoch offenbar auch auf semiotischer Ebene eine nicht zu unterschätzende Funktion erfüllt: Diese Insignie findet als Attribut der Macht im Krummschwert des Boten ihre Entsprechung. Das Krummschwert erscheint im Vergleich zur ebenfalls länglich geformten Insignie „Zepter“ geradezu überdimensioniert. Wie in Abbildung 2 verdeutlicht, wird dieser Entsprechung auch auf graphischer Ebene Rechnung getragen: Verbindet man die Enden von Schwert und Zepter durch gedachte Linien, so entdeckt man, dass diese beiden Attribute der Macht in einer (zentral-)symmetrischen Beziehung stehen. Die Hand des Boten bildet hierbei den gedachten Punkt, an dem sich das eine in das andere Objekt überführen ließe, was wiederum die Schlüsselfunktion der linken Hand des Boten weiter unterstreicht. Diese Hand (auf einer Blickachse mit der rechten Hand des Königs) greift nicht nur unverfroren in den (Bild-) Raum des Regenten hinein, sie greift zugleich nach etwas, genauer nach dem Zepter – und damit im übertragenen Sinn nach der Regentschaft über das Land. Denn die Krone, vom Christen-Gott verliehene Königswürde ist für die heidnischen Eroberer nicht erstrebenswert. Einzig die Regentschaft – juridische Herrschaft über das Territorium der Bretonen ist Ziel dieser Invasion. Der König reagiert entsprechend: nicht nur das feste Umgreifen und Zurückneigen des Zepters sind Gesten seiner Ablehnung, auch scheint er seinen gesamten Körper vom Angreifer wegzudrehen, was nicht zuletzt dessen leicht dem Betrachter zugewandte Haltung erklären mag[16] (wobei an dieser nicht die Frage der Plausibilität perspektivischer Details diskutiert werden soll). Doch ist damit das Portfolio der „Besitz“-ergreifenden Geste des Boten noch nicht erschöpft, denn auch mittels weiterer zur Verfügung stehender, nicht durch die Übergabe des schriftlichen Teils der Botschaft zeitweise in ihrer Ausdrucksfähigkeit eingeschränkte Extremitäten, kommuniziert er dem Gegenüber deutlich die Absichten seiner Partei: Die Invasoren wollen das Land, den Thron und die Macht. Auf semiotischer Ebene signalisiert der Bote dieses „Thron besteigen Wollen“ dadurch, dass er seinen rechten Fuß auf der oberste Ebene des Herrschaftssitzes unmittelbar neben den, in der Geste des Zurückweichens ausgestreckten schwarzen Schnabelschuh des Königs absetzt: eine Ungeheuerlichkeit, dem König seinen Herrschafts-Raum auf eine solche Weise streitig zu machen. Trotz dieses offensichtlichen Affronts schreitet jetzt (noch) niemand ein: Es handelt sich hier offensichtlich nicht um die Verfehlungen eines Einzelnen, der sich mit den landesüblichen Sitten nicht auskennt, sondern um einen juridisch verbindlichen Vorgang. Ein einfacher Bittsteller aus dem Volk hätte sicher nicht die Gelegenheit bekommen, sich so weit in den „Herrschafts-Raum“ des Regenten hineinzuwagen, ihm direkt in die Augen zu blicken, oder gar zum Zurückweichen zu nötigen. Eine Leibgarde hätte dies rechtzeitig verhindert. Doch hier wird dies zugelassen. Denn juridisch verbindlich werden all diese fordernden und provozierenden Gesten durch die, hinter dem Repräsentanten und dessen Forderungen stehende politische, vor allem aber militärische Macht, welche in der Illustration durch das überdimensionale Krummschwert[17], das wie ein drittes Standbein seine Positionen untermauert, versinnbildlicht ist. Die stattfindende politische Kommunikation offenbart nach außen hin gut sichtbar das an sich unduldbare – und nicht nur symbolische – Überschreiten von Grenzen, das bewaffnete Eindringen in fremde Herrschaftsräume, welches in Anbetracht der militärischen Übermacht des Aggressors zumindest zeitweilig geduldet werden muss:
Schwer bewaffnet erscheint der Bote zur Audienz und tritt dem – ausschließlich mit Zepter, Symbol juristischer Macht gerüsteten – König gegenüber, dringt in dessen Bildraum unaufgefordert ein und nötigt ihn dadurch dazu, zurückzuweichen (eine theoretische handgreifliche Auseinandersetzung würde im dargestellten Moment nämlich sicher zu Ungunsten des Königs ausfallen, da des Boten Klinge eine weit gefährlichere Hiebwaffe darstellt als ein stumpfes Zepter). Hier spiegelt sich die militärische Gesamtsituation wider: Die Invasion trifft das Königreich Brittanien, ein Land in dem „Recht und Ordnung herrschen“ (der König regiert nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Zepter) völlig unvorbereitet. Die Handlung verletzt nicht nur die Souveränität des Bedrängten, sondern verstößt auch gegen die allgemeinen Gepflogenheiten, ist ein faux pas der – nicht nur nicht nur im Bezug auf politische Umgangsformen – auch noch in der heutigen Zeit als solcher gelten würde.
Nun wurde bei der bisherigen Betrachtung ein entscheidendes Bilddetail unterschlagen: Die Szene spielt unter freiem Himmel. In Anbetracht der vielen semiotischen Details, die in diese Illustration enkodiert wurden, erscheint es nun eher unwahrscheinlich, dass ökonomische Erwägungen für den Verzicht der zeichnerischen Ausgestaltung eines Innenraumes verantwortlich sind. Es kann vielmehr vom Gegenteil ausgegangen werden: Im Zentrum des semiotischen Komplexes „König-Bote“ tut sich eine Schauöffnung auf, durch die man unmittelbar über der „Besitz-ergreifenden“ Hand des Boten durch eine Öffnung zum Horizont hin flache Hügel erkennt, hinter denen drei spitze Dächer – vermutlich Helme – in den Himmel ragen. Der Betrachter kann den Wortlaut des im Bild überreichten Schriftstücks nur erahnen, die (er-)greifende Rechte des Boten verschafft ihm jedoch Gewissheit: Sie greift nach den Kirchen, die repräsentativ für Dörfer und Ortschaften stehen, und über die sich die Herrschaft des Königs erstreckt. Schließlich ist die Invasion in Brittanien ein „heiliger“ Krieg, der die Missionierung der Bevölkerung zum Ziel hat. Mag darin nicht auch der Grund zu finden sein, warum sich diese Szene auf freiem Feld abspielt? Nun, Inhalt und Absicht der Forderungen des „heidenischen ritters“ beziehen sich auf Land und Regentschaft, die Verortung der Szene in einen Innenraum wäre dem Bildverständnis nicht zuträglich, denn dann wäre es bei weitem schwieriger, den Kern der Forderungen adäquat in „Bildsprache“ zu übersetzen. Doch durch einen simplen graphisch-perspektivischen Kunstgriff rückt der Illustrator nun den Kern der Kriegserklärung (Forderung der Herrschaft über Religion, Land und Bevölkerung) in den Kern des semiotischen Komplexes (die graphische Konstellation Bote – Herrscher).
Das verlangende Ausstrecken seiner Rechten, das einerseits nach den Kirchendächern, andererseits nach dem Zepter hin gerichtet ist, kann und soll hier sowohl als Metapher für einen Angriff auf Religion und Glauben gelesen werden, welche den „Andersgläubigen“ sprichwörtlich der größte Dorn im Auge sind, als auch ein simples Greifen nach der Macht, respektive ihren Insignien, für die das Zepter als pars pro toto steht.
So lässt sich nach der Betrachtung des ersten Bildes der hier analysierten Sequenz bereits in einem Zwischenresümee festhalten, dass der (die) Illustrator(en) der Henfflin-Werkstatt offenbar mehr als nur illustrative, nämlich auch – oder sogar vorrangig – narrative Funktion innehaben: Sie erzählen die Handlung kongruent zum Text, jedoch – bedingt durch das Medium – mittels semiotisch-ikonographischer Ausdrucksformen, erstaunlicherweise ohne dabei auf wesentliche narrative Details verzichten zu müssen.
5.2. Betrachtung der Abbildung auf Folio 19 recto
Eine Betrachtung der nachfolgenden Illustration soll nun dieser bisher noch auf „unsicheren Beinen“ stehenden These mehr Substanz verleihen.
[...]
[1] Wenzel, Horst: Zur Repräsentation von Herrschaft in mittelalterlichen Texten. Plädoyer für eine Literaturgeschichte der Herrschaftsbereiche und ihrer Institutionen. In:
Bumke, Joachim u. A.: Adelsherrschaft und Literatur. (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte, 6). Bern 1980, S. 339 ff.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, S. 9.
[6] Berns, Jörg Jochen: Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und früher Neuzeit. Marburg 2000, S.10.
[7] Ebd.
[8] Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cod. pal. germ. 142.
[9] Vgl. Abb. 15 und 18.
[10] Vgl. Abb. 1-14.
[11] Vgl. Anhang, Tabelle 1.
[12] Vgl. Tabelle 2.
[13] Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cod. pal. germ. 67.
[14] Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cod. pal. germ. 152.
[15] Vgl. Abb. 1.
[16] Vgl. Abb. 2.
[17] Mit s-förmiger Parierstange (einschneidige, säbelartige Hiebwaffe, genannt „langes Kriegsmesser“ war auch in Mitteleuropa der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gebräuchlich). Vgl.: Lehnart, Ulrich: Kleidung und Waffen der Spätgotik, Teil III. 1420-1480. Wald-Michelbach 2005, S. 139.
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- Niels Hofheinz (Autor:in), 2007, Überlegungen zur Bilderzählung in der Handschrift "Pontus und Sidonia" aus den Beständen der Universitätsbibliothek Heidelberg, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/87954