Vorwort
Die vorliegende Hausarbeit ist in drei große Abschnitte untergliedert. Zunächst wird das Anlage - Umwelt Problem in der Musikalitätsforschung thematisiert; da es jedoch an eindeutigen wissenschaftlichen Ergebnissen selbst in den jüngeren Untersuchungen
fehlt, war es mir ein Anliegen, die ungeheuren empirischen Schwierigkeiten zu erläutern und gleichzeitig Argumente sowohl für die Anlage - als auch für die Milieuhypothese zu nennen.
Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der entwicklungspsychologischen Forschung, die ja auch Antworten auf die Anlage - Umwelt - Kontroverse zu geben versucht.
Exemplarisch werden drei Modellvorstellungen thematisiert: Piagets
Entwicklungstheorie, das Spiralmodell sowie der Symbolsystem-Ansatz.
Im letzten großen Teilabschnitt geht es schließlich um musikalische Sozialisation; neben einer Begriffsbestimmung und wichtigen Sozialisationsvariablen liegt das Hauptaugenmerk auf Bourdieus Kritik an der gesellschaftlichen Urteilskraft.
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Inhalt
Vorwort:
1. Das Anlage - Umwelt Problem
1.1 Anlage- und Milieuhypothesen:
1.2 Empirische Schwierigkeiten:
1.2.1 Variabler Heritabilitätskoeffizient:
1.2.2 Zwillingsforschung:
1.2.3 Einflüsse auf die Umwelt:
1.2.4 Gene:
1.2.5 Stammbaumuntersuchungen:
1.2.6 Erforschung musikalischer Fähigkeiten im Säuglingsalter:
1.3 Wechselwirkungen von Anlage und Umwelt:
2. Entwicklungspsychologie
2.1 Piagets Entwicklungstheorie:
2.2 Kritik an Piagets Entwicklungstheorie:
2.3 Das Spiralmodell:
2.4 Der Symbolsystem-Ansatz:
3. Musikalische Sozialisation
3.1 Begriffsbestimmung:
3.2 Einfluß des Elternhauses:
3.3 Einfluß der Medien:
3.4 Sozialer Status:
3.5 Musikalischer Geschmack:
Fazit:
Literaturliste:
Vorwort
Die vorliegende Hausarbeit ist in drei große Abschnitte untergliedert. Zunächst wird das Anlage - Umwelt Problem in der Musikalitätsforschung thematisiert; da es jedoch an eindeutigen wissenschaftlichen Ergebnissen selbst in den jüngeren Untersuchungen fehlt, war es mir ein Anliegen, die ungeheuren empirischen Schwierigkeiten zu erläutern und gleichzeitig Argumente sowohl für die Anlage - als auch für die Milieuhypothese zu nennen.
Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der entwicklungspsychologischen Forschung, die ja auch Antworten auf die Anlage - Umwelt - Kontroverse zu geben versucht. Exemplarisch werden drei Modellvorstellungen thematisiert: Piagets Entwicklungstheorie, das Spiralmodell sowie der Symbolsystem-Ansatz.
Im letzten großen Teilabschnitt geht es schließlich um musikalische Sozialisation; neben einer Begriffsbestimmung und wichtigen Sozialisationsvariablen liegt das Hauptaugenmerk auf Bourdieus Kritik an der gesellschaftlichen Urteilskraft.
1. Das Anlage - Umwelt Problem
1.1 Anlage- und Milieuhypothesen
In der Musikwissenschaft haben sich zwei unterschiedliche Erklärungsansätze für die inhomogene Verteilung von Musikalität bzw. musikalischer Begabung innerhalb einer Gesellschaft durchgesetzt. Die Anhänger der Anlagehypothese sind ( in der extremsten Form) der Meinung, daß natürliche Musikalitätsvarianzen auf genetisch bedingte Faktoren zurückzuführen sind. Musikalität wird nicht erlernt, sondern ist Ergebnis von vererbten musikalischen Anlagen. Die Befürworter der sogenannten Milieuhypothese sind hingegen der Meinung, daß so etwas wie angeborene Musikalität nicht existiert; vielmehr sind die angesprochenen Varianzen eher durch individuell verschiedene Umwelteinflüsse erklärbar. Musikalische Fähigkeiten sind demnach soziokulturell bedingte Ergebnisse von Lernprozessen.
1.2 Empirische Schwierigkeiten
Die Beantwortung der Frage, ob Musikalität eher durch Anlage oder durch Umwelteinflüsse erklärbar ist, ist aufgrund statistischer und empirischer Schwierigkeiten nicht unproblematisch. Von zentraler Bedeutung ist hier der Begriff der Heritabilität. „Heritabilität, z.T. wird auch von Erblichkeit gesprochen, ist definiert als Anteil der genetischen Varianz an der phänotypischen Varianz.“[1] Der daraus errechenbare Heritabilitätskoeffizient (er reicht von 0 bis 1) gibt demnach den genetischen Varianzanteil an einem beobachtbaren und meßbaren Merkmal (z.B. Musikalität) an, was idealtypisch sowohl durch Umwelteinflüsse als auch durch Erbanlagen bestimmt ist. Bezogen auf das Beispiel der Musikalität würde eine Heritabilität von 0,8 jedoch nur bedeuten, daß die gemessene Unterschiedlichkeit ( = Varianz) von Musikalität einer Population zu einem großen Teil auf genetische Unterschiede zurückzuführen ist; keinesfalls zulässig ist die Aufschlüsselung des Heritabilitätskoeffizienten auf das einzelne Individuum. In diesem Fall ( H = 0,8) wäre es also unzulässig davon auszugehen, daß die Musikalität eines Individuums zu 80 % auf Anlagen und zu 20 % auf Umwelteinflüsse zurückzuführen ist.
Allgemein wird bei Heritabilitätsschätzungen häufig auf Zwillingsstudien zurückgegriffen, da eineiige Zwillinge genotypisch identisch sind. Shuter-Dyson & Gabriel kommen mit Hilfe dieser Studien „ ... zu dem Schluß, daß die Vererbbarkeit musikalischer Fähigkeiten zwischen 26 % und 42 % beträgt.“[2] Genaugenommen entbehren derartige Prozentzahlen der wissenschaftlichen Grundlage: Neben der Tatsache, daß Heritabilitätsschätzungen nur für Varianzen gelten, gibt es noch weitere Gesichtspunkte, die man in der Anlage - Umwelt Kontroverse berücksichtigen muß, um ungenaue Meßergebnisse zu vermeiden.
1.2.1 Variabler Heritabilitätskoeffizient
Die Bedeutung des Heritabilitätskoeffizienten hängt in einem hohen Maße von der vorherrschenden Gesellschaftsstruktur ab. Wächst die untersuchte Population in einer sehr homogenen Umwelt auf, müßte der Heritabilitätskoeffizient auf annähernd 1 steigen, da Unterschiede in den vererbten Anlagen nun um so deutlicher hervortreten würden. Da die Umwelt westlicher Industriestaaten im Zuge verstärkter Pluralisierungstendenzen relativ heterogen ist, ist der Heritabilitätskoeffizient entsprechend niedrig. Denkbar ist deshalb, daß Heritabilitätsschätzungen für die westlichen Industrieländer allgemein zu niedrig ausfallen und der Anteil der Anlage unterschätzt wird.
1.2.2 Zwillingsforschung
Eine der größten Zwillingsstudien ist das Minnesota-Projekt aus dem Jahre 1979. Forschungsgegensstand waren in dieser Studie eineiige, aber getrennt aufgewachsene Zwillinge, die „fast unheimlich anmutende Übereinstimmungen sowohl in der äußeren Erscheinung, in den Entwicklungswegen als auch hinsichtlich der Persönlichkeits-merkmale ...“[3] aufwiesen. Die Forscher kommen zu dem Schluß, daß diese Ähnlichkeiten Ergebnis genetischer Übereinstimmungen sein müssen und vernachlässigen dabei die Umwelteinflüsse. Da die gängigen Adoptionsverfahren eindeutig bestimmte Bevölkerungsschichten in der Auswahl bevorzugen, sind getrennt aufwachsende Zwillinge ähnlichen Umweltbedingungen ausgesetzt. Etwaige Übereinstimmungen müssen daher nicht zwangsläufig genetische Ursachen haben.
1.2.3 Einflüsse auf die Umwelt
Andererseits sollte man die Einflüsse des Kindes auf seine unmittelbare Umwelt nicht unterschätzen, da Kinder mit unterschiedlichem Temperament auch eine unterschiedliche Erziehung provozieren: „Kinder bewirken bei den Eltern eine auf ihr individuelles Temperament und ihre persönliche Begabung abgestimmte Erziehung.“[4] Wenn ein Kind A einer Familie auch nur etwas interessierter oder neugieriger ist als Kind B, werden ehrgeizige Eltern dieses Kind im Musischen eher fördern, wohingegen Kind B eine völlig andere Entwicklung nimmt. Weiterhin sind Kinder, die in den heutigen Verhältnissen aufwachsen, auch viel eher in der Lage, sich ihre eigenen Lernquellen zu suchen. Schule, Bücher, elektronische Medien, Freunde usw. bieten eine breite Informationsquelle, die auch leicht zugänglich ist. Erfahrungen aus der Familie verlieren in dieser Entwicklung immer mehr an Bedeutung. Selbst genetisch relativ ähnliche Kinder, die sogar im gleichen Haushalt aufgewachsen sind, können sich so signifikant unterscheiden.
1.2.4 Gene
Der Mensch besteht aus ca. 100 000 Genen, und erst das Zusammenspiel dieser Gene kann möglicherweise ein Merkmal wie z.B. Musikalität erklären. Erschwerend kommt jedoch hinzu, daß sich ein gleiches Gen unter Einfluß anderer Gene verschiedenartig auswirken kann. Derartige Auswirkungen sind bei einer Anzahl von einhunderttausend Genen pro Individuum außerordentlich komplex. Mit anderen Worten gibt es kein einzelnes Musikalitäts-Gen, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern ein undurchsichtiges Zusammenwirken unabhängig voneinander vererbter Gene. Selbst wenn man die genaue Genzusammensetzung eines Menschen wüßte, darf man daraus keine monokausalen Schlußfolgerungen ziehen. Genauso wie es unterschiedliche Arten von Musikalität gibt, könnte ein Merkmal wie Musikalität auch durch verschiedene Genkonstellationen entstehen.
1.2.5 Stammbaumuntersuchungen
Anhänger der Anlagehypothese versuchen mit Stammbaumuntersuchungen zu beweisen, daß ein Merkmal wie Musikalität nur durch die Erbanlagen bestimmt ist. Gerade die Familie Bach, bei der kompositorische Fähigkeiten vererbt worden seien und deshalb die Musik quasi im Blut läge, muß hier als Paradebeispiel herhalten. Derartige Ansichten sind jedoch nicht unumstritten, da beispielsweise der prägende Einfluß der Umwelt nicht berücksichtigt wird. „Gerade die musikalisch durchschnittlich veranlagten Mitglieder der Familie Bach entschieden sich nicht dank ihrer Erbmasse für den Musikerberuf, sondern vielmehr deshalb, weil sie durch den Namen und die gute Ausbildung hier besonders gute Chancen hatten.“[5] Außerdem sind musikalische Eltern in der Regel darauf bedacht, ihre Kinder auch musikalisch zu erziehen. Die Auswirkungen von Erziehung und Anlage können allerdings mit Hilfe von Stammbaumuntersuchungen nicht hinreichend gesondert festgestellt werden, da sich beide im Laufe der Zeit vermischen. Fest steht nur, daß es auch bedeutende Komponisten aus unmusikalischen Familien gab (z.B. Chr. W. Gluck oder A. Toscanini).
1.2.6 Erforschung musikalischer Fähigkeiten im Säuglingsalter
Mit Hilfe von neuen Technologien und Methoden konnte in neueren musikpsychologischen Untersuchungen nachgewiesen werden, daß Säuglinge bereits in den ersten Lebensmonaten relativ hohe musikalische Kompetenzen besitzen. „In einigen Experimenten konnte sogar nachgewiesen werden, daß Säuglinge im Alter von etwa sechs Monaten unterschiedliche Phraseneinteilungen in Musikstücken wahrnehmen können “[6] und außerdem noch sinnvolle Phraseneinteilungen bevorzugen. Auf den ersten Blick scheint die Anlagehypothese dafür geeignet zu sein, diese Untersuchungsergebnisse zu erklären; andererseits macht ein Säugling bereits vor der Geburt intensive musikalische Erfahrungen und Lernprozesse, was wiederum für die Milieuhypothese spricht.
[...]
[1] Weidenmann / Krapp 1993,
[2] Gembris 1998 a,
[3] Gembris 1998a,
[4] Saum-Aldehoff 1998,
[5] Abel-Struth 1985,
[6] Gembris 1998b,
- Arbeit zitieren
- Michael Schönfelder (Autor:in), 1999, Musikalische Entwicklung und Sozialisation, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/861