In Hinblick auf die Dynamik in Produktion und Verwaltung und unter dem Eindruck der neuen Medien diskutieren die Sozialwissenschaften seit den 60er und 70er Jahren Qualifikationsüberschüsse und –defizite des Bildungswesens und stellen damit das Monopol schulisch organisierter Bildung in Frage . Modernisierungsprozesse erfordern neue Formen von Wissen und dementsprechende Angebote, die häufig von außerschulischen Bildungsstätten, wie Volkshochschulen, Privatschulen, Anbieter spezieller Workshops und Trainings vermittelt werden. Auch verändert sich das Bildungswesen durch die Etablierung multimedialer Lernhilfen, die nicht nur in formellen Bildungseinrichtungen zum Einsatz kommen, sondern auch privates Lernen zeitökonomisch und flexibel in den Alltag integrierbar machen. Dass derlei neue Lernformen in der Regel außerhalb des Bildungswesens entwickelt werden, ist bezeichnend für die Bedeutung des informellen Bildungsbereichs einer innovativen Gesellschaft .
In Teil 2 dieser Arbeit wird der Begriff des informellen Lernens eingegrenzt, eine Übersicht über die wichtigsten Lebensbereiche gegeben, in denen informelle Kompetenzen erworben werden und ein Konzept des modernen Bildungsbegriffes vorgestellt, das den Aspekt der sozialen Integration miteinbezieht und den Blick auf Chancengleichheit bezüglich der Zugänglichkeit zu verschiedenen Bereichen der informellen Bildung erfordert. Dementsprechend werden in Teil 3 einige Untersuchungen umrissen, die sich mit der Abhängigkeit informeller Bildungschancen von sozialem und kulturellem Kapital befassen. In Anlehnung an Bordieus Habitus-Theorie wird auf die informellen Bildungsbereiche der Medien, der ehrenamtlichen Tätigkeit und des arbeitsintegrierten Lernens als informeller Form der beruflichen Weiterbildung eingegangen. Teil 4 zieht ein Fazit über die Chancenverteilung in diesen Bereichen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmungen
2.1 Informelle vs. nicht formale und formale Bildung
2.2 Bildungsbegriff und –verständnis
2.3 Bildungsorte
3. Chancengleichheit durch informelle Bildung?
3.1 Subjektive Einschätzung der Lehrqualität von Medien
3.2 Internetnutzung
3.3 Volkshochschulkurse zum Computer
3.4 Arbeitsintegriertes Lernen als informelle Form der Weiterbildung
3.5 Informelle Bildung im Ehrenamt
4. Fazit
5. Anhang
6. Literatur
7. Grafiken
1. Einleitung
In Hinblick auf die Dynamik in Produktion und Verwaltung und unter dem Eindruck der neuen Medien diskutieren die Sozialwissenschaften seit den 60er und 70er Jahren Qualifikationsüberschüsse und –defizite des Bildungswesens und stellen damit das Monopol schulisch organisierter Bildung in Frage[1]. Modernisierungsprozesse erfordern neue Formen von Wissen und dementsprechende Angebote, die häufig von außerschulischen Bildungsstätten, wie Volkshochschulen, Privatschulen, Anbieter spezieller Workshops und Trainings vermittelt werden. Auch verändert sich das Bildungswesen durch die Etablierung multimedialer Lernhilfen, die nicht nur in formellen Bildungseinrichtungen zum Einsatz kommen, sondern auch privates Lernen zeitökonomisch und flexibel in den Alltag integrierbar machen. Dass derlei neue Lernformen in der Regel außerhalb des Bildungswesens entwickelt werden, ist bezeichnend für die Bedeutung des informellen Bildungsbereichs einer innovativen Gesellschaft[2].
In Teil 2 dieser Arbeit wird der Begriff des informellen Lernens eingegrenzt, eine Übersicht über die wichtigsten Lebensbereiche gegeben, in denen informelle Kompetenzen erworben werden und ein Konzept des modernen Bildungsbegriffes vorgestellt, das den Aspekt der sozialen Integration miteinbezieht und den Blick auf Chancengleichheit bezüglich der Zugänglichkeit zu verschiedenen Bereichen der informellen Bildung erfordert. Dementsprechend werden in Teil 3 einige Untersuchungen umrissen, die sich mit der Abhängigkeit informeller Bildungschancen von sozialem und kulturellem Kapital befassen. In Anlehnung an Bordieus Habitus-Theorie wird auf die informellen Bildungsbereiche der Medien, der ehrenamtlichen Tätigkeit und des arbeitsintegrierten Lernens als informeller Form der beruflichen Weiterbildung eingegangen. Teil 4 zieht ein Fazit über die Chancenverteilung in diesen Bereichen.
2. Begriffsklärungen
2.1 Informelle vs. nicht formale und formale Bildung
Das Verständnis des informellen Lernens innerhalb der Bildungsforschung reicht von der graduellen Unterscheidung zwischen mehr oder weniger geplantem, beabsichtigtem und institutionalisiertem und fremd- oder selbstgesteuertem Lernen als formaler oder informeller Bildungsaneignung bis zu der Unterscheidung von „informellem“, „nicht formalem“ und „formalem“ Lernen, die etwa die Europäische Kommission in ihrer Definition festlegt:
Formales Lernen findet demnach in Bildungseinrichtungen statt, ist hinsichtlich der Lerziele, Lernzeit und Lernförderung strukturiert und führt zur Zertifizierung. Aus Sicht der Lernenden ist es zielgerichtet, ebenso wie nicht formales Lernen, das auch systematisch abläuft, jedoch nicht in Ausbildungseinrichtungen und stattfindet, auf Freiwilligkeit basiert und nicht zur Zertifizierung führt. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist aber in den meisten Fällen nicht intentional sondern beiläufig und findet im Alltag in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit statt. Informelles Lernen wird nicht zertifiziert und läuft nicht strukturiert ab.[3] Psychologische Eingrenzungen des informellen Lernens, wie die von Stangl/Taller etwa, setzen informelles Lernen schlicht gleich mit inzidentellem Lernen, bei dem ohne entsprechende Instruktionen neben den einzuprägenden Lerninhalten beiläufig auch andere Inhalte aufgefasst und behalten werden[4].
In dieser Arbeit wird auf Autoren Bezug genommen, die die Unterscheidung „informell“ und „nicht formal“ unterschiedlich handhaben – so untersucht Tully (1994) die Beteiligung an Volkshochschulkursen als informellen, außerschulischen Lernangeboten, obgleich es sich um „eine institutionalisierte und regelmäßig organisierte Informationsofferte“[5] handelt. Im „Berichtssystem Weiterbildung“ des Bundesministerium für Bildung und Forschung (2006) zählen dagegen die Volkshochschulkurse zur allgemeinen, formalen Weiterbildung.
Die Vielzahl der Begriffsbestimmungen verdeutlicht, dass all diese Lernformen häufig ineinander übergehen und sie im Kern den Sachverhalt eines Erfahrungslernen beschreiben, der sich alltäglich ereignet und lebensweltlichen Bezug aufweist. Diese Arbeit bezieht sich auf eine weitere Definition von Watkins/Marsick (1992), die als informelles Lernen ein Lernen eingrenzt, „das sich aus ‚natürlichen’ Lebenssituationen außerhalb von künstlichen Lernarrangements entwickelt“ und dem durch „den Druck einer mehr auf selbständiges Denken, Lernen und Problemlösen angewiesenen globalen Wirtschaft“ neue Aktualität und Bedeutung zukommt[6]. Im Gegensatz zum standardisierten, schulisch vermittelten Wissen erfolgen informelle Lernprozesse als Verarbeitung individueller Erfahrungen, deren Zweck nicht das Lernen selbst und dessen Zertifizierung, sondern Lösung von Situationsanforderungen und Lebensproblemen sind. Informelles Lernen ist demnach Oberbegriff für alles selbstgesteuerte Lernen in der außerschulischen Umwelt, sei es beabsichtigt oder beiläufig, bewusst oder unbewusst. Es umfasst zugleich arbeitsintegriertes Lernen als informelle Form der Weiterbildung und den Besuch von Volkshochschulkursen, aber auch beispielsweise Mediennutzung und andere unintendierte und nicht strukturierte Lernprozesse, die alltäglich in der Familie, durch ehrenamtliches Engagement in Vereinen stattfinden können.
2.2 Bildungsverständnis und –begriff
In Anlehnung an Habermaß entwickelten Rauschenbach/Otto (2004)[7] ein Konzept für einen modernen Bildungsbegriff, das auf allgemeine Lebensführungs- und Bewältigungskompetenz abzielt und vier Komponenten umfasst: Kulturelle und materielle Reproduktion sowie Aspekte der sozialen Integration und des sozialen Lernens werden darin berücksichtigt. Einen solchen Bildungsanspruch kann die Schule allein nicht gewähren und es gilt, formelle mit informellen, also weniger geplanten Bildungsprozessen zu verknüpfen. Dies bedeutet Neudefinition der Arbeitsteilung verschiedener pädagogischer Instanzen und des Zusammenspiels von Familie, Schule, Kinder- und Jugendhilfe und anderer gesellschaftlicher Akteure.[8]
Das Forum Bildung (2002) schlägt als „gute Beispiele neuer Lern- und Lehrkultur“ Modelle wie bilinguale Bildung in Kindertageseinrichtungen, Toleranzentwicklung durch Projekte des sozialen Lernens und Förderung kultureller Vielfalt an Schulen, „Methodenmix“ und fächerübergreifenden Unterricht, interdisziplinäre Studiengänge, Förderung des multimedialen Lernens an Schulen, u.a. vor.[9] Ein hoher Stellenwert käme demnach auch dem bürgerschaftlichen Engagement zu, um insbesondere Kindern und Jugendlichen - unabhängig von sozialer Herkunft - demokratisches Bewusstsein zu vermitteln und sie für die Anforderungen einer sich verändernden, pluralisierten Wissensgesellschaft zu sensibilisieren[10].
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (2001) fordert auf, Grundlagen für ein „selbstgesteuertes konstruktives Erschließen des jeweils in den verschiedenen akuten Anforderungssituationen notwendigen Wissens“ zu schaffen und dem Bürger durch „humane Passung zwischen verschiedenene Lernmöglichkeiten“ und „den Bedingungen [] neuer Arbeits- und Lebenssituationen“ zum lebenslangen Lernen zu verhelfen[11].
2.3 Informelle Bildungsorte
Der primäre Ort informeller Bildung und Lernens ist der lebensweltliche Zusammenhang und die soziale Umwelt der Bildungsakteure. Rund 80% ihrer Fähigkeiten eignen Kinder sich in anderen Lebenszusammenhängen als der Schule an[12]. Im Kindes- und Jugendalter ereignet sich Bildung in verschiedenen Bereichen und Institutionen: Genannt seien die Familie, der soziale Nahraum, Cliquen und Freundschaften, Kinder- und Jugendeinrichtungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Vereine und Verbände sowie die Welt der Medien. Auch kommerzielle Angebote wie Nachhilfe-, Musik-, Sport- oder Reiseveranstaltungen gehören zu den Orten non-formaler Bildung.[13] Der starke Einfluss der Familie wird im Laufe einer Lernbiografie durch das familiale Umfeld, Peergroups, Kindergarten und Schule abgeschwächt, sie behält jedoch ihre spezifische Bedeutung bei (vgl. Abb.1). Für eine erfolgreiche Selbstbildung des Kindes und Kompetenzentwicklung spielen Familie und Bildungsinstitutionen eine beträchtliche Rolle; Erfahrungen, die ein Kind in seiner Familie macht, beeinflussen seine späteren intellektuellen und sozialen Fähigkeiten[14]. Für 10- bis 14-jährige Kinder hat die Peergroup bezüglich der Ausbildung von Interessen größere Bedeutung als die Familie – Gleichaltrige regen Interessen an und sind am meisten daran beteiligt, wobei ein Drittel der Kinder seine Lieblingsbeschäftigung allein ausübt[15].
[...]
[1] Tully, Claus J. (1994): Lernen in der Informationsgesellschaft, S. 14
[2] Ebd., S. 71
[3] Overwien, Bernd (2005): Stichwort: Informelles Lernen.
[4] Stangl, Werner [o.J.]: Latentes, passives, implizites, inzidentelles oder informelles Lernen.
[5] Vgl. Tully (1995), S. 192
[6] Watkins, Karen E., Marsick, Victoria J. (1992), Zitiert durch: Dohmen, Günther (2001): Das informelle Lernen, S. 18-19
[7] Otto, Hans-Uwe, Rauschenbach, Thomas (2004): Die neue Bildungsdebatte. In: Otto, Rauschenbach [Hg.]: Die andere Seite der Bildung, S. 20 ff.
[8] Vgl. Hartnuß, Birger (2005): Bürgerschaftliches Engagement als Bildungsfaktor, S. 48-50
[9] Vgl. Arbeitsstab Forum Bildung (2001): Neue Lern- und Lehrkultur, S. 85-102
[10] Vgl. Hartnuß (2005)
[11] Vgl. Dohmen (2001), S. 13-15
[12] Arbeitsstab Forum Bildung, S. 82
[13] Rauschenbach, Thomas [u.a.] (2004): Konzeptionelle Grundlagen für einen nationalen Bildungsbericht, S. 28-29
[14] Bornstein, Sigman (1986). Zitiert durch: Rauschenbach, Thomas [u.a.] (2004), S: 310 ff.
[15] Lipski, Jens (2001): Lernen außerhalb der Schule.