Der Begriff der Hermeneutik wird in der Literatur als die Kunst der Auslegung bzw. der Interpretation von Texten oder Werken der bildenden Kunst und Musik definiert. Ihren Namen verdankt die Hermeneutische Methode dem griechischen Götterboten Hermes, der zwischen den Göttern des Olymp und den Menschen vermittelte. Die Entwicklung der hermeneutischen Theorie nahm ihren Anfang in der Antike und wurde im Mittelalter v.a. zur Bibelexegese genutzt. Im 19. Jahrhundert wurde sie von Friedrich Schleiermacher und später von Wilhelm Dilthey von ihrem theologischen Gegenstand losgelöst und auch auf andere Textgattungen angewendet. Die Hermeneutik wurde so zur allgemein anerkannten Grundlage der Geisteswissenschaften (vgl. Brockhaus Literatur 2004: 623). Über 2000 Jahre hinweg galt die Hermeneutik also als die einzige zutreffende Interpretationsmethode. Es ist sozusagen ein methodisches Monopol entstanden. Dieser monopolistische Anspruch der Hermeneutik sorgte im 20. Jahrhundert mehrfach für Anstoß.
Einer derjenigen, die diesen Anspruch der Hermeneutik bezweifelten, war Michel Foucault. Er lehnte die Hermeneutik ab und setzte ihr seine eigene Philosophie entgegen. Nach Foucaults Tod wurden seine Schriften zum Ausgangspunkt zahlreicher neuer Ansätze in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen. Von dieser Strömung wurde auch die Literaturwissenschaft erfasst. Es entstanden diskursanalytische Schulen und auch Debatten und Gegensätze zwischen diesen. Eine dieser Methoden, die interdiskursive Literaturanalyse, bildet das theoretische Herzstück der vorliegenden Arbeit und wird in Kapitel drei eingehend erläutert.
Die Fragestellung, der die vorliegende Arbeit auf den Grund gehen möchte, teilt sich in zwei Fragekomplexe auf. Zunächst beschäftigt sie sich damit, ob die Methode der interdiskursiven Literaturanalyse praktisch umsetzbar und operationalisierbar ist. Daran anknüpfend wird sie einen Vergleich zwischen der herkömmlichen, hermeneutischen Interpretationsmethode und der Methode der Interdiskursanalyse durchführen. Zudem werden angrenzende Methoden wie die historische Diskursanalyse erläutert, um einen besseren Überblick über die diskursanalytische Methodendebatte zu geben.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Michel Foucaults Philosophie
2.1 Das Gleiche und das Andere
2.2 Diskurse und ihre Ordnungen
2.3 Der Ursprung der Diskurse
2.4 Das totalitäre Prinzip der Macht
2.5 Das Machtdispositiv
2.6 Revision der Unfreiheit
2.7 Foucaults Stellung in der Literaturwissenschaft
3. Diskursanalyse
3.1 Gemeinsame Voraussetzungen
3.2 Historische Diskursanalyse
3.3 Interdiskursanalyse
4. Hermeneutische Analyse von Meineckes „Tomboy“
4.1 Inhaltsangabe
4.2 Analyse
4.2.1 Aufbau des Romans
4.2.2 Erzählsituation
4.2.3 Zeitstruktur
4.2.4 Sprach und Sprachstil
4.2.5 Romanfiguren
4.2.5.1 Vivian
4.2.5.2 Frauke und Angelo
4.2.5.3 Korinna
4.2.5.4 Die drei Lehrerinnen
4.2.5.5 Hans
4.2.6 Theorieexkurse
4.2.7 Leserwirkung und Autorintention
4.2.7.1 Wirkung der Romanfiguren
4.2.7.2 Einordnung in literaturwissenschaftliche Kategorien
4.2.7.3 Komik, Selbstironie und die Position des Autors
4.3 Zusammenfassung
5. Interdiskursanalyse von Meineckes „Tomboy“
5.1 Der Diskurs der Geschlechterforschung
5.1.1 Geschlechterforschung und Mode
5.1.2 Geschlechterforschung und Musik
5.1.3 Geschlechterforschung und Sexualität
5.2 Interkulturelle Diskursanalyse
5.2.1 Literatur, Musik und Film
5.2.2 Psychologie und Philosophie
5.2.3 Historie
5.2.4 Nationale Identitäten
5.3 Zusammenfassung
6. Validitätsprobe anhand Jelineks „Die Klavierspielerin“
6.1 Erste Stichprobe
6.2 Zweite Stichprobe
6.3 Dritte Stichprobe
6.4 Zusammenfassung
7. Fazit
7.1 Operativität der Interdiskursanalyse
7.2 Hermeneutik und Interdiskursivität im Vergleich
7.3 Ausblick
8. Literaturverzeichnis
1. Vorbemerkung
Der Begriff der Hermeneutik wird in der Literatur als die Kunst der Auslegung bzw. der Interpretation von Texten oder Werken der bildenden Kunst und Musik definiert. Ihren Namen verdankt die Hermeneutische Methode dem griechischen Götterboten Hermes, der zwischen den Göttern des Olymp und den Menschen vermittelte. Die Entwicklung der hermeneutischen Theorie nahm ihren Anfang in der Antike und wurde im Mittelalter v.a. zur Bibelexegese genutzt. Im 19. Jahrhundert wurde sie von Friedrich Schleiermacher und später von Wilhelm Dilthey von ihrem theologischen Gegenstand losgelöst und auch auf andere Textgattungen angewendet. Die Hermeneutik wurde so zur allgemein anerkannten Grundlage der Geisteswissenschaften (vgl. Brockhaus Literatur 2004: 623). Über 2000 Jahre hinweg galt die Hermeneutik also als die einzige zutreffende Interpretationsmethode. Es ist sozusagen ein methodisches Monopol entstanden. Dieser monopolistische Anspruch der Hermeneutik sorgte im 20. Jahrhundert mehrfach für Anstoß.
Einer derjenigen, die diesen Anspruch der Hermeneutik bezweifelten, war Michel Foucault. Er lehnte die Hermeneutik ab und setzte ihr seine eigene Philosophie entgegen. Nach Foucaults Tod wurden seine Schriften zum Ausgangspunkt zahlreicher neuer Ansätze in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen. Von dieser Strömung wurde auch die Literaturwissenschaft erfasst. Es entstanden diskursanalytische Schulen und auch Debatten und Gegensätze zwischen diesen. Eine dieser Methoden, die interdiskursive Literaturanalyse, bildet das theoretische Herzstück der vorliegenden Arbeit und wird in Kapitel drei eingehend erläutert.
Die Fragestellung, der die vorliegende Arbeit auf den Grund gehen möchte, teilt sich in zwei Fragekomplexe auf. Zunächst beschäftigt sie sich damit, ob die Methode der interdiskursiven Literaturanalyse praktisch umsetzbar und operationalisierbar ist. Daran anknüpfend wird sie einen Vergleich zwischen der herkömmlichen, hermeneutischen Interpretationsmethode und der Methode der Interdiskursanalyse durchführen. Zudem werden angrenzende Methoden wie die historische Diskursanalyse erläutert, um einen besseren Überblick über die diskursanalytische Methodendebatte zu geben.
Zu Beginn der vorliegenden Untersuchung wird in Kapitel 2 die Verwurzelung der diskursanalytischen Ansätze in Michel Foucaults philosophischem Werk nachgezeichnet. Dies ist deshalb von Bedeutung, da die zugrunde liegende Ontologie der interdiskursiven Literaturanalyse nur vor diesem Hintergrund verständlich wird. Anknüpfend an den anfänglichen Exkurs in die Philosophie wird die Rezeption Michel Foucaults in der Literaturwissenschaft dargestellt und ein grober Überblick über die im Anschluss an Foucault entstandenen Ansätze gegeben. In Kapitel drei werden sowohl die historische Diskursanalyse nach Klaus-Michael Bogdal als auch die Interdiskursanalyse in der Tradition Jürgen Links vorgestellt und erläutert. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf der interdiskursiven Methode liegen, da diese Gegenstand der folgenden Untersuchung sein wird.
Nach dem methodischen Teil der Arbeit wird im vierten Kapitel der im Jahre 2000 erschienene Roman „Tomboy“ von Thomas Meinecke analysiert. Dabei kommt zunächst die traditionelle Methode der Hermeneutik zur Anwendung. Im anschließenden, fünften Kapitel wird am Text der Versuch vollzogen, ob die interdiskursive Literaturanalyse praktisch umsetzbar ist. Dazu wird „Tomboy“ im Zeichen der Interdiskurstheorie Jürgen Links analysiert. Um die Ergebnisse dieses Versuchs zu überprüfen, wird die Methode im sechsten Kapitel anhand Elfriede Jelineks im Jahre 1986 erschienenen Roman „Die Klavierspielerin“ erneut erprobt. Somit kann die Operativität der interdiskursiven Literaturanalyse anhand zweier praktischer Versuche beurteilt werden. Der zweite Umsetzungsversuch der Methode dient dazu, die Beweiskraft des ersten interdiskursiven Methodenversuchs anhand Meineckes Roman „Tomboy“ zu steigern und den Ergebnissen so ein festeres Fundament zu verleihen. Schließlich werden die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in einem Fazit zusammengefasst und resümiert. Die gewonnenen Ergebnisse werden dort abschließend betrachtet und bewertet.
Die Auswahl der beiden Texte erfolgte keineswegs zufällig. Sie wurden ausgewählt, da sie sich besonders zur vergleichenden Betrachtung der Methoden eignen. So weisen die beiden verwendeten Primärtexte Gemeinsamkeiten in Bezug auf Gattung, Epoche und gesellschaftlichen Kontext auf. Inhaltlich und stilistisch lassen sich jedoch weitreichende Unterschiede ausmachen. Während Elfriede Jelinek sich mit individualpsychologischen Problematiken auseinandersetzt, skizziert Meinecke in seinem Roman Mentalitätsprofile der amerikanischen und der deutschen Gesellschaft. Stilistisch nimmt Thomas Meinecke vielfach direkten Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit, v.a. auf die Aktuellen Debatten der Geschlechterforschung, während Elfriede Jelinek psychologische und gesellschaftliche Themenkomplexe in ihren Figuren verarbeitet und somit in die fiktionale Ebene ihres Romans integriert, ohne direkten Bezug zur Realität zu nehmen. Durch die Gemeinsamkeiten der Texte wird ein Vergleich erst sinnvoll. Durch ihre Unterschiede wird es ermöglicht, die Resultate des Vergleichs zu verifizieren und zu untermauern.
In der folgenden Untersuchung werden Zitate aus den beiden Primärtexten in abgekürzter Weise gekennzeichnet. Dem Roman „Die Klavierspielerin“ entspricht im folgenden die Abkürzung „Ks“. Thomas Meineckes „Tomboy“ wird im folgenden mit dem Kürzel „Tb“ bezeichnet.
2. Michel Foucaults Philosophie
Unter den Philosophen und Denkern zur Zeit des sog. Poststrukturalismus nimmt der am 15. Oktober 1926 geborene Michel Foucault eine Ausnahmestellung ein. Es ist allerdings umstritten, ob er der Bewegung des Poststrukturalismus zugerechnet werden kann. „Sicher ist nur, daß er diese geistige Strömung vorbereitet und an ihrer Fortentwicklung stets mitgewirkt hat. Und wahrscheinlich hat er sie am Ende überholt oder je nachdem hintergangen“ (Fink-Eitel 2002: 7). Im folgenden sollen die Begriffe des Diskurses, Interdiskurses und des Dispositivs, die von Foucault nachhaltig geprägt wurden, dargestellt und erläutert werden. Dazu ist ein Rekurs auf Foucaults Machttheorie unerlässlich und ist daher in die folgenden Unterkapitel integriert.
Für die hier betrachteten Begriffe finden sich keine allgemeingültigen Definitionen, denn Foucaults Philosophie unterlag Zeit seines Lebens einem stetigen Wandel. Häufig revidierte er seine zuvor veröffentlichten Erkenntnisse, kehrte zu alten Annahmen zurück oder konstruierte neue Denksysteme. Solche Umwälzungen sind keine Seltenheit in der Philosophie von Michel Foucault. Die Versuche und Ansätze, Foucaults Werk zu gliedern und darzustellen, sind daher vielfältig. Die folgende Betrachtung seiner Philosophie erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist vielmehr darum bemüht, die Entwicklung der Begriffe, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, nachzuzeichnen. Die Entwicklung der Begriffe Macht, Dispositiv, Interdiskurs und Diskurs wird dabei chronologisch betrachtet und mit den jeweiligen Neuerungen in Foucaults Werk kontextualisiert.
2.1 Das Gleiche und das Andere
Die Promotionsschrift „Wahnsinn und Gesellschaft“ aus dem Jahre 1961 stellt Foucaults philosophisches Erstlingswerk dar. Wie nahezu alle seine Schriften beruft sich auch „Wahnsinn und Gesellschaft“ auf historische Beobachtungen. So berichtet er u.a. von der Entstehung des Hôpital Général 1656 in Paris, das ein deutliches Beispiel dafür ist, wie psychologische Diagnosen missbraucht wurden, um Kranke, Asoziale, Arbeitslose d.h. alle als störend empfundene Menschen einzusperren und zu isolieren. Ausgehend von diesem Beispiel untersucht Foucault die Machtstrukturen der heutigen Gesellschaft.
Die Gesellschaft und der von ihr ausgegrenzte Wahnsinn bilden eine machttheoretische Dichotomie in Foucaults Theorie. Das Gegenstück zum Wahnsinn bildet dabei nicht die Gesellschaft als solche, sondern das ihr zugrunde liegende Prinzip der Vernunft. Interessant ist hierbei, dass Foucault die beiden Pole seiner Dichotomie als ursprünglich vereintes Ganzes begreift, das aber durch die Vernunft gespalten wird, indem sie den Wahnsinn ausgrenzt. Die Begriffe, mit denen Foucault diese Dichotomie kennzeichnet sind „das Gleiche“ und „das Andere“. In Foucaults philosophischem Erstlingswerk geht es zusammenfassend gesagt „um die ‚Problematisierung des Wahnsinns [..] ausgehend von sozialen und ärztlichen Praktiken, die ein bestimmtes Normalisierungsprofil definieren’“ (Fink-Eitel 2002: 33). Die äußerlich beobachtbaren Machtpraktiken, wie etwa der Umgang mit geisteskranken Menschen, sind dabei immer als Resultat der Ausgrenzung des Anderen zu sehen.
Diese Ausgrenzung kann im Umkehrschluss als Verabsolutierung der Vernunft aufgefasst werden und findet sich in vielen Bereichen der westlichen Gesellschaften wieder, so z.B. im Rationalitätspostulat der Wissenschaften, das sich auch in den Sozialwissenschaften durchgesetzt hat. „Das Rationalitätspostulat umfasst folgende Anforderungen an das wissenschaftliche Arbeiten: 1. Präzision, 2. Intersubjektivität [...] und 3. Begründbarkeit. [...] Das Rationalitätspostulat ist die gemeinsame Grundlage der Wissenschaft“ (Druwe 1994: 56). Dadurch, dass das Rationalitätspostulat definiert, was Wissenschaft ist und wie sie zu funktionieren hat, disqualifiziert es auch gleichzeitig alle anderen Arbeitsweisen als unwissenschaftlich. Es liegt also eine positive und gleichzeitig negative Definitionsmacht vor.
2.2 Diskurse und ihre Ordnungen
Eines der bekanntesten Werke in Foucaults Entwicklung ist die 1969 erschienene „Archäologie des Wissens“. Darin definiert er die zentralen Begriffe seiner Machttheorie, den Begriff des Diskurses und der Diskursordnung. Ausgehend von seiner Repressionstheorie, die Macht als Unterdrückung von Individualität und Subjektivität begreift, sowie der Dichotomie zwischen dem Anderen und dem Gleichen, untersucht er darin die Machtstrukturen des Gleichen genauer. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Macht des Gleichen vor allem in den Diskursen und in deren Ordnung verankert ist.
Foucault selbst spricht ursprünglich nicht von Diskursen sondern von diskursiven Formationen. Diese definiert er als eine Anzahl von Aussagen, die sich durch eine gemeinsame Regelmäßigkeit in ihrer Äußerungsgestalt und in ihrem thematischen Gegenstand auszeichnen (vgl. Foucault 1988: 58). Eine solche diskursive Formation unterliegt laut Foucault stets gewissen Formationsregeln, wodurch Gegenstände der Aussagen, Aussagemodalitäten und Auswahl der Begriffe innerhalb einer diskursiven Formation geregelt werden. „Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen […] aber auch Bedingungen der Koexistenz, der Aufrechterhaltung“ (Foucault 1988: 58). Daraus folgt, dass ohne Formationsregeln keine diskursive Formation existieren könnte und dass ohne die Formationsregeln keine Koexistenz der Aussagen in einer diskursiven Formation möglich wäre. Im folgenden werden anstelle des Begriffs diskursive Formation der Ausdruck Diskurs verwendet, anstelle von Formationsregeln wird die Rede von der Diskursordnung sein.
Foucaults Begriff des Diskurses kann zusammenfassend definiert werden als „eine strukturierte Menge von [...] Äußerungen, deren Geltungsbereich durch eine Diskurs-Ordnung geregelt wird. [...] zu einem Diskurs gehören alle Äußerungen, die seine Regeln befolgen und zum spezifischen Thema des Diskurses Wissenselemente beitragen.“ (Baasner 2001: 137). Diskurse sind demnach semantisch zusammenhängende Aussagekomplexe, denen ein gemeinsames Thema zugrunde liegt und die danach streben das Wissen zum gemeinsamen Thema zu vermehren.
Die Ordnung der Diskurse konstituiert sich „durch die Zwänge […] normierter Redeweisen [...], denen sich niemand entziehen darf, wenn er beachtet werden will. Diese Bedingung schränkt die Verfügungsgewalt des Individuums über seine vermeintlich eigenen Aussagen gewaltig ein“ (Baasner 2001: 137). Mit normierten Redeweisen sind sog. ungeschriebene Gesetze in unserer Gesellschaft gemeint, die jeder beachten muss, um am öffentlichen und sozialen Leben partizipieren zu können. Der Mechanismus der Ausgrenzung ist das Machtinstrument, durch das sich die Ordnung der Diskurse konstituiert und tagtäglich reproduziert. Diskursordnungen und das Mittel der Ausgrenzung finden sich in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft wieder.
Als Beispiel kann hier der politische Diskurs in der BRD angeführt werden. Will man an ihm teilnehmen, muss man sich strengen Reglements unterwerfen. Polemik, antisemitische Äußerungen u.a. widersprechen der Ordnung dieses Diskurses stark. Eine Person, die diese Regeln verletzt, wird vom Diskurs ausgeschlossen, indem sie von den übrigen Teilnehmern abgewertet und ignoriert wird. Neben diesen inhaltlichen Dimensionen der Diskursordnung gibt es auch äußerliche Normen, etwa die Erwartung gegenüber politischen Mandatsträgern eine gewisse Kleiderordnung einzuhalten. Ein Beispiel ganz anderer Art liefert der Ausschluss des amerikanischen Ex-Präsidenten Bill Clinton aus dem politischen Diskurs. Hier wird eine sittliche bzw. ethische Dimension der Diskursordnung deutlich.
In Foucaults Augen kann es durch die diskursive Ordnung zu keinen innovativen Veränderungen kommen. Denn durch ihre starren Normen, erreicht das meiste, was innerhalb der diskursiven Grenzen geäußert wird, nur die Qualität von Kommentaren über bereits Gesagtes oder Geschriebenes. Durch diese Hemmung von Innovation werden die Individuen ihrer scheinbaren Selbstständigkeit beraubt und auf bloße Funktionsträger des Diskurses reduziert (vgl. Baasner/ Zens 2001: 141). In dem so entstandenen Verlust des Subjektstatus der Individuen liegt eine der wenigen Parallelen zwischen Foucault und den Anhängern des Poststrukturalismus, die ebenfalls die sog. Auflösung des Subjekts vertreten.
Ausgehend von dieser Theorie setzt Foucaults Kritik der Literaturwissenschaft und der Hermeneutik an. Foucaults Kritik an der Hermeneutik entsteht v.a. aus der Auflösung des Subjekts. Da die Individuen von den Ordnungen der Diskurse ihrer Freiheit und ihrem Potential zur innovativen Schöpfung beraubt werden, kann es auch keinen tieferen Sinn in ihren Texten geben. Denn ihre literarischen Schöpfungen können stets nur Kommentare, Wiederholungen oder Variationen im Rahmen der diskursiven Ordnung sein. Kurz gesagt: Wo es keine Subjekte gibt, kann es auch keinen subjektiven Sinn geben, der durch hermeneutische Textinterpretation zutage gefördert werden könnte.
2.3 Der Ursprung der Diskurse
1971 erschien Foucaults „Die Ordnung des Diskurses“. Ursprung und Wesen der diskursiven Ordnung werden hier konkreter beschrieben und erläutert. Eng damit verknüpft ist der Begriff der Macht. Sie tritt in „Die Ordnung des Diskurses“ erstmals als eigenständige Größe in Erscheinung. „Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft […] eine […] stumme Angst […] vor allem was es da Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem […] Rauschen der Diskurse“ (Foucault 1992: 33). Diese Angst der Macht vor dem Innovationspotential der Diskurse ist der Grund, weshalb die Diskurse durch die Diskursordnungen kontrolliert und organisiert werden. Dieses Phänomen lässt sich laut Foucault in jeder Gesellschaft beobachten. (Foucault 1992: 11).
Foucault geht davon aus, dass den Menschen der Wille zur Wahrheit und zum Wissen innewohnt (vgl. Foucault 1992: 14). Dieser Wille bestimmt und determiniert das gesamte menschliche Denken und Handeln. Als Antrieb dieses Willens zu Wissen und Wahrheit entpuppt sich jedoch der menschliche Wille zur Macht (vgl. Foucault 1992: 17). Mit anderen Worten, auch der „Wille zum Wissen ist ein Wille zur Macht. Wissen und Wissenschaft [...] dienen der Herrschaft“ (Fink-Eitel 2002: 67 f.). Die Menschen streben in ihrem Handeln also nach Macht und erschaffen durch ihr Verhalten Machtstrukturen wie die Diskursordnungen. Die Macht lässt sich aber nicht von den Menschen beherrschen, sondern umgekehrt sie beherrscht die Menschen. Macht erlangt damit einen autonomen Status und stellt eine von den Menschen losgelöste, eigenständige Instanz dar. Die Ordnungen der Diskurse und die daraus folgende Auflösung des Subjekts sind also direkte Folgen des menschlichen Willens zur Macht. Der Subjektstatus geht dadurch von den Individuen auf die Macht über, da die Individuen durch ihren Machthunger zu Marionetten der Diskursordnungen und der Macht geworden sind.
Die Macht steht aber nicht außerhalb von Foucaults bisherigem System, sondern tritt an die Stelle des Anderen. War bisher das Andere immer durch den Wahnsinn repräsentiert, geschieht dies nun durch die Macht. Die Diskurse hingegen repräsentieren nun das Gleiche. Das Andere ist so nicht mehr nur das Ausgegrenzte, wie es in „Wahnsinn und Gesellschaft“ der Fall war, sondern es ist ein integraler Bestandteil des Gleichen. So wie die Vernunft den Wahnsinn in „Wahnsinn und Gesellschaft“ unterdrückte verfährt nun die Macht mit den Diskursen. So beschreibt Foucault den Willen zur Wahrheit, der wie gesagt aus dem Willen zur Macht resultiert, als gewaltige Ausschließungsmaschinerie (vgl. Foucault 1992: 17).
Die machttheoretische Dichotomie Foucaults erfährt in „Die Ordnung des Diskurses“ einige Revisionen und Verschiebungen. Die Charaktere des Gleichen und des Anderen sind vertauscht worden, denn „das Andere des Diskursiven ist nicht mehr Inbegriff von Unordnung, sondern umgekehrt von Ordnung, sowie das Gleiche nicht Inbegriff von Ordnung, sondern umgekehrt von Anarchie ist“ (Fink-Eitel 2002: 70). Galten die beiden Pole in Foucaults Dichotomie vorher noch als Gegensätze, ist nun das Gleiche vom Anderen durchdrungen. Sie bilden so eine symbiotische Einheit.
Allerdings bleibt der Machtbegriff, den Foucault in „Die Ordnung des Diskurses“ benutzt, nicht ohne Unklarheiten. So stellt sich die Frage, warum die Macht Angst vor den Diskursen hat. Da die Macht die Diskurse fürchtet und deshalb kontrolliert, lässt das die Schlussfolgerung zu, dass die Diskurse ebenfalls eine Macht sind, sozusagen die Macht des Gleichen. Gibt es also zwei Mächte? Sind diese beiden gleich oder gibt es zwei verschiedene Begriffe von Macht?
2.4 Das totalitäre Prinzip der Macht
Die im letzten Absatz des vorangehenden Unterkapitels aufgeworfenen Fragen finden ihre Antworten in dem von Foucault 1975 veröffentlichten „Überwachen und Strafen“, das sich thematisch an sein Frühwerk „Wahnsinn und Gesellschaft“ annähert. Foucaults Bild von Macht und Repression hat sich in der Zwischenzeit jedoch stark verändert. Im Gegensatz zur negativen Repressionsmacht in „Wahnsinn und Gesellschaft“ wird die Macht hier als überaus positiv betrachtet. Dieses positive Verständnis von Macht kann nur vor dem Hintergrund der, von Nietzsche übernommenen, Ontologie verstanden werden. Denen zufolge entsteht das menschliche Gewissen nur aufgrund physischer Bestrafung durch eine höhere Moralinstanz während der Sozialisierung. Das Gewissen ist die internalisierte Weiterführung dieser Bestrafungen. Daraus folgt, dass Gewissen, Moral und damit die Möglichkeit zum sozialen Leben überhaupt erst durch Disziplinarmacht und Bestrafung geschaffen wird. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse kommt Foucault zu dem Schluss: „Man muß aufhören die Macht immer negativ zu beschreiben […]. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; […] das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault 1998: 250). Macht besitzt also einen durchaus produktiven Charakter, da sie die Subjektivität und Individualität der Menschen erschafft.
Macht wird dadurch zu einem totalitären und umfassenden Prinzip, das die bisherigen Dualismen zwischen Gleichem und Anderem aufhebt und durch einen produktiven Monismus der Macht ersetzt. Es gibt also nicht zwei Machtbegriffe, wie im Anschluss an „Die Ordnung der Diskurse“ vermutet wurde, sondern ein allumfassendes, totalitäres Prinzip der Macht.
2.5 Das Machtdispositiv
Am Ende von Foucaults Lebenswerk steht das mehrbändige Forschungsprojekt „Sexualität und Wahrheit“. 1976 erschien „Der Wille zum Wissen“ als erster von drei veröffentlichten Bänden. Als begriffliche Neuschöpfung erscheint hierin das Dispositiv. „Verknüpften die Diskurse einzelne Aussagen nach bestimmten Formationsregeln, so sind Dispositive machtstrategische Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken, Wissen und Macht“ (Fink-Eitel 2002: 80). Die Gesamtheit der Diskursordnungen ergeben das Dispositiv, das die gesamte Gesellschaft umspannt und beherrscht.
Das Dispositiv unserer westlichen Gesellschaften ist eng verbunden mit dem Feld der Sexualität, da Sexualität und geschlechtliche Kategorien nahezu alle Lebensbereiche durchdringen. Dazu ist anzumerken, dass unser heutiges Bild von Sexualität und unser Verhalten stark von den wissenschaftlichen Diskursen geprägt ist. Foucault unterscheidet zwischen der Sexualität als Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses und Sex, dem tatsächlichen Sexualleben der Individuen (vgl. Fink-Eitel 2002: 83). So wie die übrigen Lebensbereiche ist auch die Sexualität durch Diskursordnungen dominiert, die den Individuen immer wieder vorgeben, was normal und was unnormal ist. Die Machtausübung des so entstandenen Sexualitätsdispositivs findet durch diese Diskursordnungen und die darin enthaltene Definitionsmacht statt. Das Machtdispositiv beruht aber nicht nur auf den Diskursordnungen, die die Sexualität betreffen, sondern auch auf allen übrigen.
2.6 Revision der Unfreiheit
Das Forschungsprojekt „Sexualität und Wahrheit“ war ursprünglich auf sechs Bände ausgelegt, von denen jedoch nur drei erschienen sind. In seinem Spätwerk revidiert Foucault seinen Machtbegriff erneut. Er geht fortan von folgender Definition aus: „Macht ist Repression, sofern sie den Handlungsspielraum der Individuen einschränkt“ (Fink-Eitel 2002: 103). Das oben beschriebene Machtdispositiv ist also Repression, da es die Freiheit der Individuen einschränkt.
Wenn Macht aber Repression ist, muss es im Umkehrschluss auch etwas geben, das unterdrückt werden kann. Es muss also doch ein Anderes und damit eine individuelle Freiheit geben. Als Konsequenz erlangen die Individuen also die ihnen vormals abgesprochene Freiheit und Autonomie wieder. Die Freiheit der Individuen besteht lediglich darin, sich der Macht beugen oder sich ihr widersetzen zu können (vgl. Fink-Eitel 2002: 99). In der Möglichkeit, sich ihr zu widersetzen, besteht aber auch die Chance, sich der Unterdrückung vollständig zu entziehen und so absolute Freiheit zu erlangen. Das Novum des zweiten und dritten Bandes von „Sexualität und Wahrheit“ besteht also in der Rückgewinnung der individuellen Freiheit bzw. in der Revision der Auflösung des Subjekts. Darauf aufbauend beschäftigt sich Foucault mit der Frage, wie den Individuen die Befreiung von der Unterdrückung der Macht gelingen kann.
Die Beantwortung dieser ethischen Frage verknüpft Foucault mit einem historischen Exkurs beginnend mit der griechischen Antike. In Foucaults Augen waren die Menschen der Antike autonome Subjekte, die ihre ethischen Entscheidungen selbstständig und unabhängig von vorgegebenen Moralcodes trafen. Dadurch entwickelten sie ihr eigenes Selbst. Im Mittelalter dagegen galt ein allgemein verbindlicher Moralcode, den die Individuen zu befolgen hatten. Das individuelle Selbst war a priori gegeben und musste von Sünden gereinigt werden. Aus den dafür etablierten Beichtpraktiken entstand im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Diskursivierung der Sexualität und daraus später das Sexualitätsdispositiv. Die Unfreiheit der Individuen in der heutigen Gesellschaft besitzt also keine Endgültigkeit, denn das Ideal der individuellen Freiheit war in der Antike bereits realisiert und kann durch den Widerstand gegen die Macht wieder erreicht werden. Der Weg der Befreiung vom herrschenden Machtdispositiv liegt also in der Nacheiferung antiker Ethik.
2.7 Foucaults Stellung in der Literaturwissenschaft
Für die Literaturwissenschaft ergaben sich im Anschluss an Foucaults Philosophie mehrere Probleme. Foucaults Diskurstheorie und die dementsprechende Analyse von Diskursen schien für die Literaturwissenschaften zwar sehr interessant und versprach, neue methodische Perspektiven zu eröffnen, allerdings fanden sich in Foucaults Werken keine Vorschläge oder Grundlagen zu einer literaturorientierten Anwendung der Diskurstheorie. Außerdem verwendet Foucault keinen konstanten Diskurs- oder Machtbegriff. Je nachdem, welche Schaffensphase als theoretische Grundlage für eine diskurstheoretische Literaturwissenschaft angenommen wird, ergibt sich eine jeweils unterschiedliche Ausgangsituation. Foucault hinterließ also alles andere als ein konsistentes, theoretisches Fundament, auf dem die wissenschaftlichen Disziplinen problemlos hätten aufbauen können. Achim Geisenhanslüke fasst dies in dem folgenden Zitat sehr trefflich zusammen.
„Die Erfolgsgeschichte der Diskursanalyse als literaturwissenschaftliches Verfahren kann gleichwohl nicht vergessen machen, dass eine Diskursanalyse der Literatur in Foucaults Werk nirgends systematisch begründet ist. [...] Eine spezifisch literaturtheoretische Ausarbeitung der Diskursanalyse sieht sich daher von vornherein dazu gezwungen über Foucault hinauszugehen“ (Geisenhanslüke 2003: 129).
Dennoch haben sich sowohl auf nationaler also auch auf internationaler Ebene der Literaturwissenschaft methodische Ansätze unter der Berufung auf Foucaults Werk entwickelt. Diese werden im folgenden näher erläutert.
3. Diskursanalyse
Das Verfahren der Diskursanalyse ist kein auf die Literaturwissenschaft beschränktes Verfahren sondern hat sich vielmehr in nahezu allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen ausgebreitet. Die Anwendung von Foucaults Philosophie verlangte die Ausarbeitung neuer Methoden, die den jeweiligen Forschungsfragen und -gegenständen gerecht werden konnten.
Auf internationaler Ebene muss im Bereich der Literaturwissenschaften zwischen zwei Paradigmen der Diskursanalyse unterschieden werden (vgl. Angermüller 2001: 7). Diese beiden Schulen sind sowohl inhaltlich als auch territorial voneinander zu trennen. Während sich in den USA eine pragmatische Diskursanalyse etablierte, die v.a. deskriptiv und fallspezifisch arbeitet, vertritt die französische Schule eine makroorientierte Perspektive, die die diskursive Ordnung als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachtet. Allerdings muss betont werden, dass der Begriff französische Schule, räumlich nicht auf Frankreich zu beschränken ist, da beispielsweise die diskursanalytischen Ansätze in der deutschen Literaturwissenschaft ebenfalls diesem Ansatz zuzuordnen sind. Dementsprechend wird die französische Schule im folgenden als europäisches Paradigma bezeichnet. Sowohl das amerikanische als auch das europäische Paradigma fußen auf Foucaults Diskurstheorie, ihre Forschungsinteressen sind jedoch verschieden.
Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Forschungsparadigmen ist ihr Diskursbegriff oder vielmehr ihre jeweils spezielle Perspektive. Die amerikanische Diskursanalyse legt ihr Hauptaugenmerk auf das „Primat gesprochener Rede, die in den dynamischen Kontext einer Sprechsituation eingebunden ist“ (Angermüller 2001: 15). Die diskursive Ordnung entsteht in diesem Sinne im Verlauf jeder Sprechsituation aufs Neue bzw. wird von den Beteiligten neu konstituiert. Daher steht die konkrete einzelne Interaktionssituation im Mittelpunkt des amerikanischen Forschungsinteresses.
Die Diskursanalyse im Zeichen des europäischen Paradigmas dagegen beschäftigt sich weniger mit kommunikativen Prozessen als mit den Regeln, die die Diskurse großflächig organisieren. Daher wird die europäische Diskursanalyse auch als makro-perspektivisch bezeichnet. Stärker als die Diskursforschung in den USA stützt sie sich auf die Auflösung des Subjekts, wie sie von Foucault konstatiert wurde (Angermüller 2001: 15).
Auf nationaler Ebene sind in der Literaturwissenschaft zwei Verfahren der Diskursanalyse entstanden. Zwar gibt es zwischen den Vertretern dieser beiden Schulen Unterschiede und auch Meinungsverschiedenheiten. Im allgemeinen kann man im deutschen Sprachraum aber zwischen der historischen Diskursanalyse nach Klaus-Michael Bogdal und der von Jürgen Link entwickelten interdiskursiven Literaturanalyse unterscheiden. Bevor die Methoden von Bogdal und Link näher erläutert werden, sollen hier die sich überschneidenden theoretischen Prämissen dargestellt werden.
3.1 Gemeinsame Voraussetzungen der historischen
Diskursanalyse und der Interdiskursanalyse
Grundlegende Gemeinsamkeit der historischen Diskursanalyse und der Interdiskursanalyse ist der ihnen zugrunde liegende Diskursbegriff. Beide gehen gleichermaßen davon aus, ein Diskurs sei „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (Bogdal 1997: 39). Anders formuliert bedeutet das, dass ein Diskurs einerseits aus einem Regelwerk, nämlich der Diskursordnung und andererseits aus den sprachlichen Äußerungen innerhalb des Diskurses besteht. Dabei müssen sich die Äußerungen der Diskursordnung unterwerfen, um nicht aus dem Diskurs ausgeschlossen zu werden. Die beiden diskursanalytischen Ansätze rekurrieren also auf den Diskursbegriff, der sich in Foucaults „Archäologie des Wissens“ findet (siehe hierzu Kapitel 2.2).
Mit dem genannten Diskursbegriff geht immanent der Autor- und Textbegriff Foucaults einher. Denn wie in Kapitel 2.3 erläutert, sind durch die Ordnungen der Diskurse alle Äußerungen, gleich ob in schriftlicher oder in mündlicher Realisierung, in ihrer Form stets begrenzt und determiniert. Da alle Äußerungen somit vorbestimmt sind, gibt es auch keine freien Subjekte mehr, da nichts Neues und Unvorhergesehenes zum Diskurs beigesteuert werden kann. Innovation kann also nicht stattfinden, womit es auch keine genial schöpferischen Autoren geben kann.
In Folge dieser ontologischen Grundannahmen sind die beiden diskursanalytischen Ansätze als Gegenmodelle zur traditionellen Hermeneutik zu verstehen. Wie Foucault lehnen sie die klassische Trias Autor, Werk und Leser im hermeneutischen Sinne ab und begreifen Text jeglicher Art als bloße Effekte der diskursiven Ordnung.
3.2 Historische Diskursanalyse
Die historische Diskursanalyse wurde im Wesentlichen von Klaus-Michael Bogdal entwickelt. Konstituierendes Moment seiner Theorie bildet die Kritik der Hermeneutik. Interessant ist hierbei folgende Aussage: Die „historische Diskursanalyse geht zur Hermeneutik zwar auf Distanz, bleibt aber partiell auf ihre Methoden angewiesen. […]“ (Landwehr 2001: 104).
Das Forschungsinteresse Bogdals liegt darin, die Ordnung der Diskurse zum Entstehungszeitpunkt des zu analysierenden Textes zu rekonstruieren. Diese Fragestellung alleine wäre jedoch von rein historischem Interesse. Darüber hinaus möchte Bogdal erforschen, in welcher Weise der betreffende Text in das Netzwerk der zeitgenössischen Diskurse eingebunden war. Wobei nicht nur inspirierende Einflüsse gemeint sind, sondern vor allem auch die Machtmechanismen der Diskurse, die den zu untersuchenden Text determinierten und begrenzten. (vgl. Bogdal 1993: 50).
Der soeben beschriebene Blickwinkel ergibt sich aus Bogdals Text- und Autorbegriff. Im Geiste Foucaults begreift er Text und Autor als unabhängige Größen, die im diskursiven System aufgehen. Da Bogdal also davon ausgeht, dass nicht dem Autor sondern den Diskursordnungen Subjektcharakter zukommt, bezieht er den Autor und sein Werk nicht in seine Analyse ein und beschränkt sich auf die bloße Materialität des Textes. (vgl. Bogdal 1999: 22). Die Beschränkung auf die Materialität des Textes impliziert erneut die Ablehnung der Hermeneutik, denn eine Beschränkung auf die Materialität des Textes heißt, den Inhalt des Textes wahrzunehmen, ohne ihn tiefergehend, hermeneutisch zu interpretieren. Die Materialität des Textes wird aber, wie im vorherigen Abschnitt erläutert, von den herrschenden Diskursordnungen konstituiert. Bogdal selbst schreib dazu: „Bedeutung haben Texte aus dieser Sicht nicht von ‚innen’; sie wird innerhalb kultureller Entwicklungen und vor allem durch Machtbeziehungen von ‚außen’ je historisch hergestellt“ (Bogdal 1999: 22). Die von außen hergestellte Bedeutung meint diejenige, die das zum Entstehungszeitpunk herrschende Dispositiv dem Text zuwies bzw. ihm gestattete anzunehmen.
Etwas enttäuschend bzw. ernüchternd wirkt jedoch Bogdals Resümee. „Ungelöst bleibt bisher die Frage, wie sich ein Text in seiner historischen Einmaligkeit und Vernetzung rekonstruieren läßt, […]. Die Zeit […] kann nicht übersprungen werden. Genau das versucht die historische Diskursanalyse“ (Bogdal 1999: 22 f.). Dieses Zitat verdeutlicht, dass das Ziel der historischen Diskursanalyse zu hoch gesteckt ist, denn eine tatsächlich realitätsgetreue Rekonstruktion eines historischen Zeitpunkts ist bis dato eine Unmöglichkeit geblieben, erst recht mit dem hohen Anspruch, die gesamte Komplexität eines historischen Diskursnetzwerkes abzubilden.
3.3 Interdiskursanalyse
Ebenfalls durch Foucault inspiriert entwickelte Jürgen Link die interdiskursive Literaturanalyse. Zugrunde gelegt wurde dabei der oben bereits dargestellte Diskursbegriff, der Diskurs „als großer Haufen von Aussagen definiert, die nur in ihm und durch ihn möglich sind“ (Link 1999: 155). Zentrales Element in seiner Theorie ist die begriffliche Differenzierung zweier Sorten von Diskursen, dem Spezialdiskurs und dem Interdiskurs, was Jürgen Link in folgendem Zitat erläutert.
„Allgemein sind meines Erachtens Spezial- und Interdiskurse wie folgt zu unterscheiden: Spezialdiskurse tendieren gerade aufgrund der Spezialität ihres Wissens, die unter modernen Bedingungen zudem stets mehr oder weniger mit technischer Operationalität gekoppelt sind, zum Vorherrschen der Denotation und der Eindeutigkeit […], während Interdiskurse umgekehrt Spezialwissen überbrückende, integrative Funktionen bedienen und v.a. an Subjektapplikationen gekoppelt sind, woraus sich das Vorherrschen der Konnotationen und Mehrdeutigkeit erklärt“ (Link 1999: 155).
Wenn Link von Diskursen spricht, stellen diese für ihn über die in ihnen enthaltenen Aussagen hinaus auch Wissensarchive dar, denn Diskurse „produzieren und enthalten spezielle Wissensmengen“ (Link 1999: 152). Der Unterschied zwischen Spezial- und Interdiskurs ist gewissermaßen ein thematischer aber auch ein struktureller Unterschied. Ein Spezialdiskurs ist auf ein eng eingegrenztes Themengebiet beschränkt. Er umfasst nur Aussagen zu diesem Themengebiet und beinhaltet daher auch nur Wissen zu seinem speziellen Thema. Als Beispiel können hier wissenschaftliche Diskurse herangezogen werden, die v.a. im naturwissenschaftlichen Bereich einen sehr hohen Grad der Spezialisierung aufweisen. Das begriffliche Instrumentarium dieser Diskurse muss aufgrund ihrer hohen Spezialisierung sehr präzise sein, um ihre Forschungsgegenstände gut abgrenzen und beschreiben zu können. Daher schreibt Link den Spezialdiskursen ein höheres Maß an Operationalität und Denotation zu als den Interdiskursen. Denn die Interdiskurse sind thematisch nicht eingegrenzt. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, die vorhandenen Spezialdiskurse vereinfacht in sich aufzunehmen.
Die Funktion der Interdiskurse sei hier an einem fiktiven Beispiel veranschaulicht, das Link in ähnlicher Form gebraucht (vgl. Link 1988: 285). Man nehme an, ein Ehepaar sitzt beisammen und unterhält sich über den vergangenen Arbeitstag. Die Frau ist von Beruf Biochemikerin und der Mann Kfz-Mechaniker. Da beide Personen in ihrem Berufsleben jeweils in einen andern Spezialdiskurs eingebunden sind als ihr Ehepartner, müssen sie eine gemeinsame Kommunikationsbasis finden, auf der sie sich über ihre Arbeit verständigen können. Diese gemeinsame Kommunikation findet naturgemäß auf einer weitaus weniger komplexen Ebene statt, als die Kommunikation innerhalb des jeweiligen Spezialdiskurses, d.h. das Ehepaar wird erheblich weniger Fachbegriffe benutzen und einzelne Abläufe ihres Arbeitsalltags vereinfacht darstellen oder ganz aussparen, um die wesentlichen Zusammenhänge verständlicher erklären zu können. Dennoch wird das Wissen der beiden Spezialdiskurse in ihre Kommunikation integriert, auch wenn dabei das Spezialwissen in seiner Komplexität reduziert wird und infolgedessen keine vollständige sondern eine selektive Integration stattfindet.
Interdiskurse zeichnen sich also durch Komplexitätsreduzierung und Selektivität aus, wodurch eine Verständlichkeit über die Grenzen der jeweiligen Spezialdiskurse hinaus gewährleistet wird. Daher sind Interdiskurse in ihrem Vokabular jedoch ungenauer als die Spezialdiskurse, weshalb Link ihnen eher die Eigenschaft der Konnotation und Mehrdeutigkeit zuschreibt.
Interdiskursivität ist, wie unser Beispiel zeigt, durchaus als ein alltägliches Phänomen zu betrachten. Außerdem existieren in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt unzählige Interdiskurse parallel. Für die vorliegende Arbeit sind jedoch nur die institutionalisierten Formen des Interdiskurses und hier speziell die Literatur von Interesse.
„Auf der Basis der in allen modernen Kulturen zu beobachtenden spontanen Interdiskursivität können […] institutionalisierte Interdiskurse entstehen. Deren kulturelle Funktion liegt eben in der […] Re-Integration […] des in den Spezialdiskursen […] zerstreuten Wissens. […] heute wäre v.a. der Interdiskurs der Massenmedien zu nennen. Zu diesen gesonderten Interdiskursen ist […] auch die moderne Literatur zu zählen“ (Link/Link-Heer 1990: 93).
Als institutionalisierte Form der Interdiskursivität hat die Literatur laut Link die Aufgabe, Spezialdiskurse in sich zu integrieren. Das Interessante dabei ist, dass Literatur nicht als bloßer Interdiskurs aufgefasst wird, sondern durch seine Institutionalisierung selbst wieder zu einem Spezialdiskurs wird. „Wir haben es dabei sozusagen mit der paradoxen Verwandlung des Interdiskurses in einen eigenen Spezialdiskurs zu tun“ (Link 1988: 300 f.). Demnach ist Literatur quasi zugleich Interdiskurs und Spezialdiskurs. Es würde jedoch zu weit führen, diesen Doppelcharakter der Literatur zu vertiefen, und ist im folgenden nicht weiter relevant.
Die Integration der Diskurse in die Literatur kann methodisch unterschiedlich verlaufen. Verallgemeinernd kann man zwischen zwei Haupttendenzen unterscheiden. „Zum einen kann literarische Diskursintegration extensiv durch enzyklopädische Reihung und durch Akkumulation von Wissen verschiedener Spezial- und Interdiskurse erfolgen […]. Zweitens lässt sich literarische Diskursintegration auf intensivem Wege durch polysemische Konzentration erreichen“ (Link/Link-Heer 1990: 96). Die erste Methode der extenisven Integration zeichnet sich durch die Erzeugung mystischer Szenarien aus. Als Beispiele können das Sciencefiction-Genre sowie die Romane von Jules Verne angeführt werden. Typisch für die zweite Methode hingegen sei das Arbeiten mit Symbolen, die in sich mehrere Spezialdiskurse konnotieren (vgl. Link/Link-Heer 1990: 96).
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