„Wenn sie wählen müssen, zwischen ihrer Berufung oder ihrer Familie, entscheiden sie sich immer für die Berufung.“
Diese Aussage Kazuo Ishiguros aus einem Interview mit der ZEIT hat den Anstoß zu dem Thema dieser Arbeit gegeben. Mit „sie“ bezieht sich der preisgekrönte Autor auf die Protagonisten seiner Romane, die zugleich immer die Rolle von Ich-Erzählern übernehmen. Nicht nur Ishiguros Charaktere entscheiden sich gegen ihre Familien. Auch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Kazuo Ishiguros hat die Rolle der Familie und deren Struktur weitgehend vernachlässigt. Es steht in der Forschung außer Frage, dass seine Romane „deeply discouriging conditions of family life“ 2 präsentieren, doch eine umfassende Betrachtung des Themas hat bislang nicht stattgefunden. Diese Arbeit hat sich deshalb in den Romanen Kazuo Ishiguros auf Spurensuche begeben und plädiert dafür, dass die familiären Strukturen und ihre Darstellung für die Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihrer Vergangenheit sowie ihren Weg in die Zukunft äußerst bedeutungsvoll sind. Die soziale Einheit Familie spielt gewiss nicht die zentrale Rolle in den Romanen Kazuo Ishiguros. Die Abwesenheit von funktionierenden und harmonischen Familien lässt jedoch die Vermutung aufkommen, dass hierin ein Pläydoyer Ishiguros für die Wichtigkeit von Familie zu lesen ist. Dabei stellt sich die Frage, wie die Fragmentierung der Familien sich in den Romanen äußert, und welche Rolle hierbei die Erzähler spielen. Sabine Birchall formuliert in Hinblick auf das Werk Graham Swifts, dass Eltern-Kind-Beziehungen den „Nexus zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ bilden. 3 Dies trifft auch auf Ishiguros Erzählungen zu. Wir erleben die Protagonisten in einem Moment ihres Lebens, an dem familiäre Umstände sie zwingen, sich ihres gegenwärtigen Status bewusst zu werden und sich kritisch mit Entscheidungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei entwickeln sie ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer eigenen Person und ihrem Umfeld, das sie zu einer Neukonstruktion ihrer Identität herausfordert.
Die Charaktere bauen nicht nur ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Familie, sondern ihrer gesamten Lebenswelt auf. Ausgehend davon stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine räumliche Dimension für die Romane Ishiguros hat. Orte, die für die Protagonisten einmal ein Zuhause waren, werden zu fremden Orten und verleihen ihnen das Gefühl der Orientierungslosigkeit.[...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Kazuo Ishiguro - eine Einführung
- 2.1 Kazuo Ishiguro und der zeitgenössische englische Roman
- 2.2 Kazuo Ishiguro in der Forschung – eine Bestandsaufnahme
- 2.3 Struktur und Zielsetzung der Arbeit
- 3. Die fragmentierte Darstellung familiärer Beziehungen
- 3.1 Die Erzählsituation als Ausgangspunkt der Analyse
- 3.1.1 First-person-narration
- 3.1.2 Das Problem des unreliable narrators
- 3.2 Eltern-Kind Beziehungen und die Darstellung des Generationenkonflikts
- 3.2.1 Kommunikationsdefizite
- 3.2.2 Autoritätsverluste
- 3.2.3 Entfremdung
- 3.3 Schuldfragen
- 3.3.1 Etsuko und der Selbstmord ihrer Tochter
- 3.3.2 Ono und das Scheitern der marriage negotiations
- 4. Familie und Identität im Spiegel von Heimat und Raum
- 4.1 Das Konzept von „Zuhause“ bei Kazuo Ishiguro
- 4.2 Kulturelle Entfremdung und die Rolle Amerikas
- 4.3 Identität und Heimatlosigkeit – zur Begrifflichkeit
- 4.4 Konstruktion von Identität zwischen zwei Welten – der Fall Christopher Banks
- 5. Zusammenfassung & Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit zielt darauf ab, die Bedeutung der fragmentierten Darstellung familiärer Beziehungen in den Romanen von Kazuo Ishiguro zu untersuchen und aufzuzeigen, wie sie die Konstruktion von Vergangenheit und Identität der Protagonisten beeinflusst.
- Die Rolle der Erzählsituation und des unreliable narrators
- Die Darstellung von Eltern-Kind-Beziehungen und Generationenkonflikten
- Die Bedeutung von Schuld und Vergebung
- Der Einfluss von Heimat und Raum auf die Identität der Protagonisten
- Die Konstruktion von Identität zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt das Thema der Arbeit und den Ausgangspunkt der Untersuchung dar. Kapitel 2 bietet eine Einführung in das Werk von Kazuo Ishiguro, beleuchtet seine Biografie und seinen Werdegang als Schriftsteller im Kontext des zeitgenössischen englischen Romans. Kapitel 3 analysiert die Darstellung von familiären Beziehungen in den Romanen, wobei insbesondere die Erzählsituation, Eltern-Kind-Beziehungen und Schuldfragen beleuchtet werden. Kapitel 4 befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Familie und Identität, betrachtet das Konzept von "Zuhause" bei Ishiguro und untersucht den Einfluss von Heimat und Raum auf die Konstruktion von Identität.
Schlüsselwörter
Kazuo Ishiguro, englischer Roman, Familie, Identität, Vergangenheit, Erzählsituation, unreliable narrator, Generationenkonflikt, Schuld, Heimat, Raum, kulturelle Entfremdung.
- Quote paper
- Katharina Semmler (Author), 2005, Fragmentierte Familie und die Konstruktion von Vergangenheit und Identität - Eine Untersuchung ausgewählter Romane Kazuo Ishiguros, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/67869