Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) wurde mit § 2 der Verordnung des Rates der Volksbeauftragten über Tarifverträge, Arbeiterausschüsse und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23.12.1918 in das deutsche Recht eingefügt. Zuletzt geändert wurde die AVE durch Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes (TASG) vom 11.8.2014.
Wesentliche Umgestaltung war dabei die Aufhebung des 50 % – Quorums. Nunmehr ist ein konkretisiertes öffentliches Interesse maßgeblich, vgl. § 5 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) n.F. Hintergrund der Änderung war eine Abnahme der Tarifbindung und des Organisationsgrades, sowohl auf Seiten der Arbeitnehmer, als auch auf Seiten der Arbeitgeber. So nahm in der Gesamtwirtschaft die Flächentarifbindung der Beschäftigten in Westdeutschland von 70 % (1996) auf 49 % (2018) und in Ostdeutschland von 56 % (1996) auf 35 % (2018) ab. Konsequenz war, dass das 50 % – Quorum des § 5 Abs. 1 TVG a.F. häufig nicht mehr erreicht werden konnte und damit die AVE von Tarifverträgen gehemmt wurde. Mit dem TASG verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, „die Tarifautonomie zu stärken und angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen“.
Gegenstand dieser Arbeit ist die Frage, ob die AVE mit der Änderung des § 5 TVG durch das TASG im Jahre 2014 eine notwendige Stärkung oder eine (verfassungswidrige) Schwächung der Tarifautonomie darstellt.
Gliederung
Literaturverzeichnis
A) Einleitung
B) Die Erleichterte AVE
I) Sinn und Zweck der AVE
II) Voraussetzungen und Verfahren der AVE
III) Wirkungsweise der AVE
C) Verhältnis zur Tarifautonomie
I) Verständnis von Tarifautonomie
a) Delegationstheorie
b) Legitimationstheorie
c) Kritik
d) Stellungnahme
e) Zwischenergebnis
II) Lage der Tarifautonomie in Deutschland
III) Notwendige Stärkung oder Schwächung der Tarifautonomie?
1) Zwei unterschiedliche Ansatzpunkte
a) Wirkungsintensive Tarifverträge als Ausgangspunkt
b) Mitgliederstarke Verbände als Ausgangspunkt
2) Stellungnahme
3) Zwischenergebnis
D) Verfassungsrechtliche Bedenken
I) Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG
1) Kollektive Koalitionsfreiheit (Tarifautonomie)
2) Negative Koalitionsfreiheit
II) Eingriff in die Tarifautonomie
1) Eingriff in die Tarifautonomie der beteiligten Koalitionen
a) Staatl. Regelungen in dem von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Bereich
b) Staatsabhängigkeit
c) Attraktivitätsverlust
2) Eingriff in die Tarifautonomie der unbeteiligten Koalitionen
a) Attraktivitätsverlust
b) Verdrängung des mitgliedschaftlich legitimierten Tarifvertrags
c) Staatliche Neutralität
III) Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit
IV) Rechtfertigung
V) Zwischenergebnis
E) (aktuelle) Reformvorschläge
F) Ausblick – Die Zukunft der Tarifautonomie
G) Gesamtergebnis
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A) Einleitung
Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) wurde mit § 2 der Verordnung des Rates der Volksbeauftragten über Tarifverträge, Arbeiterausschüsse und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23.12.1918 in das deutsche Recht eingefügt.1 Zuletzt geändert wurde die AVE durch Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes (TASG) vom 11.8.2014.2 Wesentliche Umgestaltung war dabei die Aufhebung des 50 % – Quorums.3 Nunmehr ist ein konkretisiertes öffentliches Interesse maßgeblich, vgl. § 5 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) n.F. Hintergrund der Änderung war eine Abnahme der Tarifbindung und des Organisationsgrades, sowohl auf Seiten der Arbeitnehmer, als auch auf Seiten der Arbeitgeber.4 So nahm in der Gesamtwirtschaft die Flächentarifbindung der Beschäftigten in Westdeutschland von 70 % (1996) auf 49 % (2018) und in Ostdeutschland von 56 % (1996) auf 35 % (2018) ab.5 Konsequenz war, dass das 50 % – Quorum des § 5 Abs. 1 TVG a.F. häufig nicht mehr erreicht werden konnte und damit die AVE von Tarifverträgen gehemmt wurde.6 Mit dem TASG verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, „die Tarifautonomie zu stärken und angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen“.7
Gegenstand dieser Arbeit ist die Frage, ob die AVE mit der Änderung des § 5 TVG durch das TASG im Jahre 2014 eine notwendige Stärkung oder eine (verfassungswidrige) Schwächung der Tarifautonomie darstellt.
Zunächst soll auf den Sinn und Zweck der erleichterten AVE eingegangen werden, auf den i.R.d. verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zurückzukommen sein wird (B) I)). Sodann werden die Voraussetzungen, das Verfahren und die Rechtswirkungen der AVE, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von Bedeutung sind, dargestellt (B) II), III)). Anschließend wird das Verhältnis der AVE zur Tarifautonomie untersucht (C)). Hierzu soll anfangs auf das Verständnis von Tarifautonomie, das dieser Arbeit zugrunde gelegt werden soll, eingegangen (C) I)) und im Anschluss hieran dargestellt werden, was die deutsche Rechtsordnung unter einer starken Tarifautonomie versteht und ob die AVE, unter Zugrundlegung dieser Verständnisse, eine Stärkung oder Schwächung der Tarifautonomie darstellt (C) III)). Darauf aufbauend sollen verfassungsrechtliche Bedenken der erleichterten AVE aufgezeigt werden (D)). Hierbei wird zwischen den beteiligten und unbeteiligten Koalitionen unterschieden. Darüber hinaus wird auf die negative Koalitionsfreiheit eingegangen und der Frage nachgegangen, ob Art. 9 Abs. 3 GG eine negative Tarifvertragsfreiheit umfasst. Ferner ist auf (aktuelle) Reformvorschläge (E)) und abschließend, als Ausblick, auf die Zukunft der Tarifautonomie einzugehen (F)).
Auf die AVE nach § 5 Abs. 1a TVG sowie den § 5 Abs. 4 S. 2 TVG wird nur am Rande eingegangen.
B) Die Erleichterte AVE
I) Sinn und Zweck der AVE
Die AVE hat in einem sehr großen Ausmaß sozialpolitische Funktion, da sie innerhalb ihres Geltungsbereichs angemessene Arbeitsbedingungen für nichtorganisierte Arbeitnehmer und solche Arbeitnehmer schafft, die zwar organisiert sind, aber aufgrund ihres nichtorganisierten Arbeitgebers nicht in den Genuss des Tarifvertrages kommen.8
Die AVE will darüber hinaus sicherstellen, dass die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien i.S.v. § 4 Abs. 2 TVG funktionieren.9 Dies bestätigt auch der neu durch das TASG eingeführte § 5 Abs. 1a TVG.10 Für eine gemeinsame Einrichtung ist es unabdingbar, dass die tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Arbeitgeber zusammen für die Beiträge der Einrichtung (insb. Versorgungseinrichtungen) aufkommen, da nur so eine hinreichende finanzielle Basis für die gemeinsame Einrichtung geschaffen werden kann.11
Einige Stimmen in der Literatur erkennen auch eine Wettbewerbsfunktion der AVE an.12 Da die Regelungen des Tarifvertrages mit normativer Wirkung nur für die Mitglieder der Tarifvertragsparteien gelten (vgl. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG), könnten nichtorganisierte Arbeitnehmer organisierte Arbeitnehmer, vor allem in Zeiten einer schlechten wirtschaftlichen Lage, im Wettbewerb dadurch verdrängen, dass sie ihre Arbeit zu untertariflichen Bedingungen anböten.13 Ebenso könnten Arbeitgeber sich erhebliche Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren tarifgebundenen Wettwerbern verschaffen, indem sie lediglich nichtorganisierte Arbeitnehmer einstellten, diese unter den tariflichen Arbeitsbedingungen beschäftigten, und damit weniger Personalkosten hätten.14 Die AVE wirke einem solchen Außenseiterwettbewerb entgegen und habe daher eine wettbewerbsrechtliche Funktion, da sie die Normen des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags innerhalb seines Geltungsbereichs auf die nicht tarifgebunden Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstreckt (§ 4 Abs. 5 TVG).15
Der AVE eine solche wettbewerbsbeschränkende Funktion zuzuerkennen, widerspräche dem im TVG angelegten System, das gerade den Außenseiterwettbewerb zulässt und nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien dem Tarifvertrag unterwirft.16 Auch ändert der Umstand nichts, dass die AVE faktisch wettbewerbesbeschränkend gegenüber den Außenseitern wirkt, denn zwischen der Wirkung der AVE und den mit ihr verfolgten Zwecken ist zu differenzieren.17 Für dieses Ergebnis spricht auch der Umstand, dass die Nichtbeachtung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags keinen unlauteren Wettbewerb darstellt.18
Namentlich das BVerwG und das BVerfG können dahingehend verstanden werden, dass der AVE darüber hinaus der Zweck zukommt, die Koalitionen zu stärken. Das BVerwG sieht in der AVE ein Mittel zur Stärkung der Koalitionen, weil das TVG die Betätigungsfreiheit der Koalitionen, einschließlich der Tarifautonomie, ausgestalte, wie auch schütze und daher für § 5 TVG nichts anderes gelten könne, da die AVE die Normsetzung der Tarifvertragsparteien effektiv erhalte.19
So geht auch das BVerfG davon aus, dass die eigenverantwortliche Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen, wie sie durch Art. 9 Abs. 3 GG vorgegeben ist, durch die Allgemeinverbindlicherklärung abgestützt werde, weil sie den tariflichen Normen eine stärkere Durchsetzungskraft zukommen lasse.20
Der AVE einen solchen Zweck zuzuerkennen, widerspricht aber der staatlichen Unabhängigkeit von Koalitionen.21 Der Staat ist im Verhältnis zu den Koalitionen zur Neutralität verpflichtet.22 Infolgedessen ist es dem Staat verwehrt, den Koalitionen zu Erfolgen zu verhelfen, die sie selbständig nicht leisten können.23 Insbesondere verkennt das BVerwG, dass es sich bei § 5 TVG lediglich um eine Ausnahmevorschrift handelt, da die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien auf ihre Mitglieder beschränkt ist (vgl. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG) und mit § 5 TVG nur ausnahmsweise, mittels staatlichem Akt, auf Nichtmitglieder erstreckt wird.24
Mithin verfolgt die AVE einerseits den Zweck die Funktionsfähigkeit von gemeinsamen Einrichtungen und andererseits angemessene Arbeitsbedingungen (Arbeitnehmerschutz) zu gewährleisten.
II) Voraussetzungen und Verfahren der AVE
Nachfolgend sollen zunächst die wesentlichen materiellen Voraussetzungen der AVE gem. § 5 Abs. 1 TVG erläutert werden. Sodann ist noch auf die wichtigsten Verfahrensschritte einzugehen.
Eine AVE nach § 5 Abs. 1 TVG verlangt stets einen wirksamen Tarifvertrag nach dem TVG.25 Inhaltlich dürfen die Tarifnormen des für zu allgemeinverbindlich erklärenden Tarifvertrags nicht abgeändert werden.26 Die AVE kann sich aber auf nur einen Teil der Normen des zu erstreckenden Tarifvertrags beschränken, da die Tarifvertragsparteien den Inhalt in zwei oder mehreren separaten Tarifverträgen regeln könnten.27 Gleichfalls sind Begrenzungen des Geltungsbereichs (räumlich, persönlich, fachlich) zulässig.28
Des Weiteren muss an der AVE ein „öffentliches Interesse“ bestehen, § 5 Abs. 1 S. 1 TVG. Ein öffentliches Interesse liegt vor, sofern durch die AVE aufgrund einer Interessenabwägung, unter Zugrundelegung ihres Sinnes und Zweckes29, erhebliche Nachteile für eine Großzahl von Arbeitnehmer verhindert werden können.30 Dieses öffentliche Interesse wird durch § 5 Abs. 1 S. 2 TVG konkretisiert.31 Nach § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TVG ist die AVE in der Regel im öffentlichen Interesse geboten, wenn der zu erstreckende Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich „überwiegende Bedeutung“ hat. Die Zahl der Arbeitsverhältnisse, die von dem Tarifvertrag erfasst werden (kleine Zahl), muss in Relation zu der Anzahl, der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer (große Zahl), größer sein.32 Für die Bestimmung der kleinen Zahl sind nicht nur Arbeitsverhältnisse maßgeblich, für die der Tarifvertrag normative Wirkung entfaltet (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG), sondern all diejenigen, die entsprechend den tariflichen Regelungen ausgerichtet (bspw. individualvertragliche Inbezugnahme) sind.33
Gem. § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 TVG ist eine AVE ferner in der Regel im öffentlichen Interesse geboten, wenn „die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt“. Der Gesetzgeber geht von einer solchen wirtschaftlichen Fehlentwicklung namentlich dann aus, wenn die Tarifordnung so sehr erschüttert ist, dass sie den Arbeitsfrieden bedroht oder tarifliche Strukturen in einem bestimmten Wirtschaftsbereich zurückgehen.34
Wenn eines der soeben dargestellten Regelbeispiele erfüllt ist, hat die AVE – sofern keine gewichtigen Gründe einer AVE entgegenstehen – zu erfolgen.35
§ 5 Abs. 1 a TVG enthält eine Spezialregelung für die AVE von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen, mit Regelungen über den Beitragseinzug und die Leistungsgewährung für im Einzelnen aufgeführte Regelungsgegenstände.36
Das Verfahren der AVE ergibt sich aus § 5 TVG und der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes (TVGDV)37. Erforderlich für eine AVE ist stets ein gemeinsamer Antrag der Tarifvertragsparteien, vgl. § 5 Abs. 1, 1 a TVG. Unerlässliche Voraussetzung für die AVE ist letztlich das Einvernehmen mit dem Tarifausschuss, § 5 Abs. 1, 1 a TVG i.V.m. § 7 TVGDV.38
III) Wirkungsweise der AVE
Infolge der AVE werden auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber von den Rechtsnormen des Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich erfasst, § 5 Abs. 4 S. 1 TVG. Dies stellt eine Ausnahme von der grundsätzlich nur normativen Wirkung des Tarifvertrages zwischen den beiderseitigen tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, dar, §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG.39 Die Erstreckung erfasst lediglich den normativen Teil des Tarifvertrages.40 Kommt es infolge der AVE mit einem Tarifvertrag zur Kollision, gelten die allgemeinen Regeln zur Tarifkollision.41 Etwas anderes gilt nur für einen nach § 5 Abs. 1 a TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag. Ein solcher geht nach § 5 Abs. 4 S. 2 TVG stets vor.
C) Verhältnis zur Tarifautonomie
I) Verständnis von Tarifautonomie
Als Ausgangspunkt für das Verständnis von Tarifautonomie ist die Frage zentral, ob es sich bei der Rechtsetzung durch die Tarifvertragsparteien, um eine vom Staat auf die Tarifparteien delegierte oder um eine mitgliedschaftlich legitimierte Regelungsmacht handelt.
a) Delegationstheorie
Die Delegationstheorie geht davon aus, dass der Staat durch das TVG den Tarifvertragsparteien sein Recht übertragen habe, Normen zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu schaffen.42 Es handele sich bei der Rechtssetzungsmacht durch die Tarifparteien um eine vom Staat auf die Tarifpartner, delegierte Regelungsmacht.43 Die Tarifvertragsparteien seien als vom Staat Beliehene anzusehen und setzten objektives Recht.44 Demnach werden die Tarifnormen nach dieser Ansicht „von oben nach unten“, kraft der Delegation staatlicher Befugnisse, gesetzt.45 Der Wortlaut des § 1 TVG spreche eindeutig davon, dass der Tarifvertrag Rechtsnormen enthält und stelle daher die Befugnis für die Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien dar.46 Ein möglicher Verstoß gegen Art. 80 GG sei mit der Begründung zurückzuweisen, dass Art. 80 GG sich der Tarifautonomie anpassen und sich nicht andersrum die Tarifautonomie an Art. 80 GG messen lassen müsse.47 Die Notwendigkeit von staatlicher Aufsicht sei zum einen nicht mit der Tarifautonomie vereinbar und, zum anderen, bestehe schon gar kein so großes Erfordernis nach staatlicher Aufsicht, weil sich mit den Tarifvertragsparteien zwei gleichstarke Parteien, die Arbeitgeberverbände oder der einzelne Arbeitgeber auf der einen Seite und die Gewerkschaften auf der anderen Seite, mit divergierenden Interessen gegenüberstehen würden.48
b) Legitimationstheorie
Die Legitimationstheorie sieht, anders als die Delegationstheorie, die Befugnis zur Normsetzung der Tarifvertragsparteien nicht in einer vom Staat auf die Tarifvertragsparteien verliehenen Befugnis, sondern nach dieser wurzelt die Normsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien in der Mitgliedschaft und ist mithin mitgliedschaftlich legitimiert.49 Nach dieser Theorie ist der Abschluss eines Tarifvertrages das Produkt kollektiv ausgeübter Privatautonomie.50 Es handelt sich demnach nicht um eine Normsetzung „von oben nach unten“, sondern umgekehrt, um eine mitgliedschaftlich legitimierte Normsetzung „von unten“.51 Diesem Verständnis von Tarifautonomie liegt die Annahme zugrunde, dass sich innerhalb einer Demokratie die Regelungsmacht stets auf die Normunterworfenen zurückführen lassen muss, also gerade durch diese legitimiert ist.52 Mit dem Entschluss des Arbeitnehmers oder des Arbeitgebers, sich einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband freiwillig anzuschließen, machen die einzelnen Arbeitsvertragsparteien von ihrer grundgesetzlich gewährleistete Privatautonomie dahingehend Gebrauch, dass sie sich unter die Herrschaft ihres Verbandes bzw. ihrer Gewerkschaft stellen und damit ihrer Regelungsmacht unterwerfen.53 Maßgeblich für die mitgliedschaftlich privatautonome Legitimation ist mithin der freiwillige Beitritt in die jeweilige Koalition.54 So geht auch das BVerfG davon aus, dass sich die Normsetzungsmacht der Verbände im Grundsatz nur auf ihre Mitglieder erstrecken könne, da diese zur Regelungsbefugnis gegenüber Außenseitern nicht legitimiert seien.55 Bestimmungen aus dem TVG, namentlich §§ 3 Abs. 1 und 4 Abs. 1 TVG, untermauern dieses Verständnis von Tarifautonomie, weil sie zeigen, dass auch der Gesetzgeber nur von einer Regelungsmacht gegenüber den Mitgliedern der Verbände ausgegangen ist.56
c) Kritik
Gegenüber der Legitimationstheorie wird vor allem eingewendet, sie könne die fortgeltende Tarifbindung gem. § 3 Abs. 3 TVG trotz des Austritts aus dem jeweiligen Verband nicht erklären, denn mit dem Austritt werde die Legitimation gerade aufgehoben.57 Ferner wird bemängelt, die auf Mitgliedschaft aufbauende Legitimation könne die Geltung von betrieblichen Normen gem. § 3 Abs. 2 TVG auf Außenseiter nicht begründen, weil diese Normen durch sie gerade nicht legitimiert seien und reine Zweckmäßigkeitserwägungen eine solche Erstreckung nicht begründen könnten.58 Gamillscheg hält die Legitimationstheorie auch deshalb für verfehlt, weil der den Tarifvertragsparteien zugewiesene Auftrag, das Arbeitsleben umfassend zu ordnen, nicht erfüllt werden könne, wenn die Mehrheit der Gesellschaft nicht organisiert sei und damit die Verbände nur für eine Minderheit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen regeln könnten.59
Auch gegenüber der Delegationstheorie bestehen erhebliche Bedenken. So wird gegen diese Theorie eingewendet, dass sie mit Art. 80 GG schwer zu vereinbaren sei, da sie dessen Anforderungen, insbesondere im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot, nicht gerecht werde.60 Ebenso wird bemängelt, dass eine staatliche Aufsicht der „Bevollmächtigten“ i.S.v. Art. 80 GG, also der Tarifvertragsparteien, nicht erfolge.61 Die Delegationstheorie übersehe überdies, dass es sich bei dem Abschluss von Tarifverträgen um die Ausübungen des den Koalitionen zustehenden Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG gehe, sie deshalb Grundrechtsberechtigte seien und gerade nicht staatlich tätig würden.62 Die Folge der Annahme, dass Tarifvertragsparteien staatlich handeln würden, wäre, dass es ihnen verwehrt bliebe, sich auf ihr aus Art. 9 Abs. 3 GG zustehendes Grundrecht berufen zu können.63
d) Stellungnahme
Die Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien als vom Staat delegierte Regelungsmacht und damit die Tarifautonomie als „von oben her“ zu begreifen, überzeugt nicht. Die Rechtsetzungsmacht der Tarifpartner legitimiert sich durch den freiwilligen Beitritt der Arbeitsvertragsparteien in den jeweiligen Verband.64 Die Tarifautonomie ist „von unten her“ zu verstehen.65 Sie ist „kollektiv ausgeübte Privatautonomie“.66
Soweit vorgebracht wird, Bedenken gegen die Delegationstheorie im Hinblick auf Art. 80 GG würden sich damit zurückweisen lassen, dass das Bedürfnis nach staatlicher Aufsicht geringer sei, da sich zwei gleichstarke Parteien mit divergierenden Interessen gegenüberstünden und damit eine gewisse Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags bestünde, überzeugt schon deshalb nicht, weil es sich hier gerade um keine staatliche Kontrolle handelt, sondern lediglich um eine Selbstkontrolle der Beteiligten.67 Entscheidend gegen die Delegationstheorie spricht, dass sie übersieht, dass die Koalitionen Grundrechtsträger (Art. 9 Abs. 3 GG) und nicht Grundrechtsverpflichtete sind.68 Des Weiteren gelingt es dieser Theorie nicht, überzeugend darzulegen, aus welchem Grund die Normsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien gem. § 3 Abs. 1 TVG auf ihre Mitglieder beschränkt ist.69
Soweit gegen die Legitimationstheorie der Einwand erhoben wird, dass sie die fortgeltende Tarifgebundenheit des § 3 Abs. 3 TVG nicht erklären könne, ist dem entgegenzuhalten, dass sich die Rechtssetzungsmacht durch § 3 Abs. 3 TVG gerade nicht auf Außenseiter erstreckt, sondern vielmehr nur dazu führt, dass die früher durch den Verbandsbeitritt legitimierten tariflichen Normen, trotz des Austritts, weitergelten.70 Auch Sittard sieht die Vorschriften des §§ 3 Abs. 2, Abs. 3 TVG als Ausnahmeregelungen an, die nur „aufgrund ganz spezifischer Motive eine Geltung des Tarifvertrags für Außenseiter anordne[n]“.71 § 3 Abs. 2 TVG ordnet die Geltung von Betriebsnormen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen für Außenseiter an, weil solche nur dann ihre Funktion erfüllen können, wenn diese, unabhängig von der Mitgliedschaft in der tarifschließenden Koalition, einheitlich im Betrieb zur Anwendung kommen.72 Auch kann dem Argument nicht gefolgt werden, dass die Tarifvertragsparteien ihrem Auftrag, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen vollumfänglich zu regeln, nicht nachkommen könnten, wenn nur eine geringe Anzahl von Arbeitnehmern in Gewerkschaften organisiert sei, da dieses bereits im Ausgangspunkt verkennt, dass die Tarifvertragsparteien gerade keine umfassende Regelungskompetenz für die gesamte Arbeitswelt innehaben.73
Art. 9 Abs. 3 GG sieht wie Art. 2, 12 u. 14 GG vor, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre privatrechlichen Rechtsbeziehungen primär, soweit es ihnen möglich ist, selbst und in eigener Verantwortung gestalten.74 Die Koalitionsfreiheit ist mithin ein liberales Freiheitsrecht.75 Dieses verwirklicht der Einzelne, indem er sich mit seinem Entschluss, einem Verband beizutreten, aus eigener Kraft bindet.76 Stellt Art. 9 Abs. 3 GG ein liberales Freiheitsrecht, so wäre es mit jenem gerade unvereinbar, wenn der Staat den Tarifparteien die Befugnis zur Rechtssetzung übertragen würde.77 Die Mitglieder der Tarifvertragsparteien haben diese dazu ermächtigt, ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und frei von staatlichem Einfluss zu regeln.78 Folgerichtig lässt sich dann auch von einem doppelt autonom geprägten Tarifvertrag sprechen: Einerseits weil es den Tarifvertragsparteien ohne Staatseinfluss gewährleistest ist, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu gestalten und andererseits aufgrund der Ermächtigung ihrer Mitglieder durch den Verbandsbeitritt.79 Damit ist aber die mitgliedschaftliche Legitimation der Tarifvertragsparteien durch den Beitritt charakteristisch für die Rechtssetzungsbefugnis jener und nicht, wie Gamillscheg behauptet, lediglich „eine erfreuliche Verstärkung des demokratischen Elements im Gesamtbereich der Tarifautonomie“80.81
e) Zwischenergebnis
Die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien ist mitgliedschaftlich legitimiert. Tarifautonomie ist kollektiv ausgeübte Privatautonomie.
II) Lage der Tarifautonomie in Deutschland
Sowohl bei Arbeitnehmern als auch bei Arbeitgebern nimmt der Organisationsgrad in Verbänden und die Tarifbindung weiter ab.82 Die Mitgliederanzahl des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ist von 1991 bis 2018 um über 50 % gefallen. Hatten die Gewerkschaften des DGB 1991 noch in etwa 11,8 Millionen Mitglieder, waren es 2018 nur noch ca. 5,97 Millionen.83 Der gewerkschaftliche Nettoorganisationsgrad betrug 18,9 % im Jahr 2002 und im Jahr 2014 nur noch 15,6 %.84 Gleichfalls ist ein erheblicher Rückgang hinsichtlich der Flächentarifbindung in der Gesamtwirtschaft zu verzeichnen. Die Flächentarifbindung der Beschäftigten in der Gesamtwirtschaft lag in Westdeutschland im Jahre 1996 bei 70 % und im Jahr 2018 nur noch bei 49 %.85 In Ostdeutschland nahm die Flächentarifbindung von 56 % (1996) auf 35 % (2018) ab.86 Ein Grund für die zurückgehende Mitgliedschaft auf Seiten der Arbeitnehmer könnte dem Umstand geschuldet sein, dass die Arbeitnehmer auch ohne Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft in den Genuss des Tarifvertrages, durch Bezugnahmeklauseln, gelangen können oder der Tarifvertrag wegen des nichtorganisierten Arbeitgebers nicht zur Anwendung gelangt.87 Für die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems ist eine solche Entscheidung indes wenig fördernd, denn dieses System lebt davon, durch kollektive Zusammenschlüsse die strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber zu überwinden.88 Damit korreliert die schwindende Tarifbindung und der zurückgehende Organisationsgrad der Arbeitgeber, da es für diese kaum Gründe geben wird, sich in Bereichen, die von mitgliederarmen und an fehlender Durchsetzungskraft leidenden Gewerkschaften geprägt sind, an einen Tarifvertag zu binden oder zu organisieren.89
Ausgehend von diesen tatsächlichen Gegebenheiten, soll im Folgenden untersucht werden, ob die erleichterte AVE gem. § 5 TVG eine notwendige Stärkung oder eine Schwächung der Tarifautonomie darstellt.
III) Notwendige Stärkung oder Schwächung der Tarifautonomie?
Nachfolgend soll darauf eingegangen werden, ob die erleichterte AVE gem. § 5 TVG eine notwendige Stärkung oder eine Schwächung der Tarifautonomie darstellt. Hierfür soll auch das oben unter C) I) gefundene Verständnis von Tarifautonomie zugrunde gelegt werden.
1) Zwei unterschiedliche Ansatzpunkte
Ob man die erleichterte AVE als Stärkung oder Schwächung der Tarifautonomie verstehen kann, hängt zunächst davon ab, ob sich eine „starke Tarifautonomie“ durch starke wirkungsintensive Tarifverträge auszeichnet, also Tarifverträge, die für den Inhalt zahlreicher Arbeitsverhältnisse maßgebend sind, welche unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen; oder liegt eine „starke Tarifautonomie“ nur dann vor, wenn sich (mitglieder-)starke Verbände vorfinden lassen, denen es gelingt, für ihre Mitglieder Arbeitsbedingungen auszuhandeln, die die Mitglieder individualvertraglich, aufgrund der strukturellen Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber, nicht aushandeln könnten und in der Folge, aufgrund des hohen Organisationsgrades, weit verbreitet sind?90
a) Wirkungsintensive Tarifverträge als Ausgangspunkt
Versteht man unter einer „starken Tarifautonomie“ wirkungsintensive Tarifverträge, die für eine große Anzahl der Arbeitsverhältnisse, welche unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestimmen, so stellt die erleichterte AVE eine Stärkung der Tarifautonomie dar. Denn unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG kann ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden, mit der Folge, dass gem. § 5 Abs. 4 TVG auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, von dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag erfasst werden.91 Das hat zur Folge, dass die Einwirkung des Tarifvertrages auf die Arbeitsverhältnisse, die unter seinen Geltungsbereich fallen, erheblich erweitert wird.92 So geht auch das BVerfG davon aus, dass die eigenverantwortliche Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen, wie sie durch Art. 9 Abs. 3 GG vorgegeben ist, durch die AVE gesichert werde, weil sie die Wirkungskraft der Tarifverträge verstärke.93
Ferner wird angeführt, dass Anreize, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten, durch die AVE gemindert würden, weil der Tarifvertrag dann ohnehin allgemeinverbindlich ist und der Arbeitgeber trotz des Austritts aus dem Verband nach § 5 Abs. 4 TVG an den Tarifvertrag gebunden wäre.94 Es würde nicht nur der Anreiz zum Austritt aus dem Verband genommen, vielmehr sähen die Arbeitgeber sich dazu veranlasst, sich einem Arbeitgeberverband anzuschließen, um über die nun ohnehin geltenden tariflichen Regelungen mitbestimmen zu können.95
Bleibt also die Frage nach der Notwendigkeit der Stärkung durch die erleichterte AVE. Infolge der Abnahme des Organisationsgrades und damit einhergehend der Rückgang der normativen Tarifbindung auf Seiten der Arbeitgeber, konnte das 50 % – Quorum des § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TVG a.F. nicht mehr (so leicht) erreicht werden.96 Nach § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TVG a.F. war es notwendig, dass ein tarifgebundener Arbeitgeber mindestens 50 % der, unter den Geltungsbereich (räumlich, fachlich und persönlich) des Tarifvertrages fallenden, Arbeitnehmer beschäftigte. Entscheidend für das Erreichen des 50 % – Quorums war mithin die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers.97 Kumulativ musste die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheinen, § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TVG a.F. Das öffentliche Interesse, das Tarifsystem durch staatliche Hilfe abzustützen, sei umso größer, je geringer die Bindung der Arbeitgeber an Tarifverträge kraft Mitgliedschaft sei.98 Gleichwohl verhinderte das 50 % – Quorum, wegen der sinkenden Tarifbindung, die AVE nach § 5 Abs. 1 TVG a. F. Daher kann man unter dem Gesichtspunkt der sinkenden Tarifbindung und unter Zugrundelegung, dass eine „starke Tarifautonomie“ sich durch wirkungsintensive Tarifverträge auszeichnet, die erleichterte AVE als „notwendige Stärkung“ der Tarifautonomie begreifen.
b) Mitgliederstarke Verbände als Ausgangspunkt
Versteht man indes unter einer „starken Tarifautonomie“ (mitglieder-)starke Verbände, denen es aufgrund ihres hohen Organisationsgrades gelingt, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu regeln, die der einzelne Arbeitnehmer aufgrund seiner strukturellen Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitgeber nicht in der Lage ist auszuhandeln, so läuft die erleichterte AVE der Tarifautonomie geradezu zuwider.99 Legt man dieses Verständnis von einer „starken Tarifautonomie“ zugrunde, so stellt die Änderung des § 5 TVG durch das TASG im Jahre 2014100, konträr zu der Gesetzesbezeichnung, keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Tarifautonomie dar.101 Denn versteht man unter einer „starken Tarifautonomie“ mitgliederstarke Verbände, so würde die Tarifautonomie durch eine hohe Mitgliederanzahl in den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gestärkt werden.102 Die Erleichterung der Erstreckung von Tarifnormen durch den geänderten § 5 Abs. 1 TVG, führt – vorrauschauend gedacht – zu einer „Erosion der Tarifautonomie“.103 Die Erstreckung tariflicher Normen auf Außenseiter bedingt, dass sich diese nicht dazu veranlasst sehen, einer Gewerkschaft beizutreten, da sie in den Genuss der tariflichen Arbeitsbedingungen – in gewisser Weise – „umsonst“, ohne eine Mitgliedschaft mit Beitragspflichten, gelangen.104 Eine solche Entwicklung bestätigt der Blick nach Frankreich: 90 % der Arbeitnehmer werden dort infolge von AVE und der sog. erga-omnes- Wirkung durch Tarifverträge gebunden, gleichwohl beträgt die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in Gewerkschaften nur 8 %.105 Durch die erleichterte Zulassung der Tarifnormerstreckung wird darüber hinaus die Autonomie von anderen Tarifvertragsparteien eingeschränkt, da ihre Tarifpolitik durch die erstreckten Tarifnormen bereits vorgeprägt wird.106 Des Weiteren ist die Autonomie der Tarifvertragsparteien, die am Abschluss des zu erstreckenden Tarifvertrags beteiligt sind, gefährdet, weil einerseits das Verhalten durch die Erstreckung des Tarifvertrages beeinflusst werden könnte und andererseits die Tarifvertragsparteien von der staatlichen Hilfe abhängig werden könnten, weil sie zu autonomen Tarifabschlüssen nicht mehr in der Lage sind.107 Letzteres lässt sich aber gerade nicht mit dem Grundsatz der Staatsunabhängigkeit der Koalitionen vereinbaren.108
[...]
1 RGBl. 1918, S. 1456.
2 Art. 5 des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 11.8.2014 (BGBl. 2014 I, S. 1356).
3 BT-Drucks. 18/1558, S. 27.
4 BT-Drucks. 18/1558, S. 26; vgl. Seiwerth, RdA 2014, 358 (358); derselbe, EuZA 2014, 450 (450 f.).
5 Https://www.iab-forum.de/tarifbindung-weiterhin-deutliche-unterschiede-zwischen-ost-und-westdeutschland/ (zuletzt besucht: 26.9.2019 um 8:45 Uhr).
6 BT-Drucks. 18/1558, S. 26 f.
7 BT-Drucks. 18/1558, S. 1.
8 Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 16 f.; Preis/Povedano, S. 15 f.; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 2.
9 Preis/Povedano, S. 18; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 6.
10 Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 27; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 6.
11 Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 25 f.; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 4 u. 6.
12 Die Wettbewerbsfunktion anerkennend: Preis/Povedano, S. 18 ff.; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 7 f.; H/W/K- Henssler, § 5 Rn. 3.
13 BVerfG vom 24.5.1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322 (323); vgl. Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 8.
14 BVerfG vom 24.5.1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322 (323); vgl. Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 8.
15 BVerfG vom 24.5.1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322 (323 f.); Preis/Povedano, S. 20; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 8.
16 Prokop, Allgemeinverbindlicherklärung, § 7 S. 199.
17 Vgl. EK- Franzen, § 5 Rn. 2; Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 32 f.; a.A. Preis/Povedano, S. 19 f.
18 EK- Franzen, § 5 Rn. 2; Prokop, Allgemeinverbindlicherklärung, § 7 S. 199 ff.; a.A. Preis/Povedano, S. 19, die diesem Umstand keine Bedeutung beimessen wollen.
19 BVerwG vom 3.11.1988 – 7 C 115/86 –, BVerwGE 80, 355 (368).
20 BVerfG vom 24.5.1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322 (342).
21 H/M/B- Sittard, Teil 7 Rn. 12.
22 Sittard, Tarifnormerstreckung, § 1 S. 119; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte AVE, S. 111.
23 H/M/B- Sittard, Teil 7 Rn. 12; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte AVE, S. 111.
24 Sittard, Tarifnormerstreckung, § 1 S. 118.
25 BeckOK ArbR- Giesen, § 5 Rn. 8; Forst, RdA 2015, 25, 28.
26 Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 93 f.
27 EK- Franzen, § 5 Rn. 8; Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 117 ff.; a.A. Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 95 ff.
28 EK- Franzen, § 5 Rn. 9; Wiedemann- Wank, § 5 Rn. 100.
29 Zum Sinn und Zweck der AVE B) I).
30 EK- Franzen, § 5 Rn. 12.
31 BeckOk ArbR- Giesen, § 5 Rn. 9; EK- Franzen, § 5 Rn. 11.
32 Forst, RdA 2015, 25 (28); NK GA- Forst, § 5 TVG Rn. 87.
33 BT-Drs. 18/1588, S. 48 f.
34 BT-Drs. 18/1588, S. 49.
35 Forst, RdA 2015, 25 (30).
36 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen: Forst, RdA 2015, 25 (30 ff.).
37 BGBl. 1989 I, S. 76.
38 Zur Zusammensetzung des Tarifausschusses und dem Verfahrensablauf: §§ 1 ff. TVGDV.
39 Kempen/Zachert- Seifert, § 5 Rn. 77.
40 BeckOK ArbR- Giesen, § 5 Rn. 25.
41 BeckOK ArbR- Giesen, § 5 Rn. 27.
42 Gamillscheg, § 15 S. 557; Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 879; Wiedemann- Jacobs, Einl. Rn. 6.
43 Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 879; Wiedemann- Jacobs, Einl. Rn. 6.
44 Löwisch/Rieble, Grundl. Rn. 30; Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 879.
45 Vgl. Hofbauer, Rechtscharakter, S. 36; Wiedemann- Thüsing, § 1 Rn. 43.
46 Gamillscheg, § 15 S. 557.
47 Gamillscheg, § 15 S. 557.
48 Gamillscheg, § 15 S. 557; vgl. zu dem Gedanken der Kontrolle: Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 879.
49 EK- Franzen, § 1 Rn. 6; Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 886.
50 BAG vom 26.4.2017 – 10 AZR 856/15 –, NZA-RR 2017, 478 (481); BAG vom 21.7.2004 – 7 AZR 589/03 –, ZTR 2005, 255 (256); Dietrich, FS Schaub 1998, 117 (121).
51 Vgl. Lobinger, JZ 2014, 810 (812).
52 Gamillscheg, § 15 S. 559.
53 Vgl. Dietrich, FS Schaub 1998, 117 (121); Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 886.
54 Vgl. Dietrich, FS Schaub 1998, 117 (121); EK- Franzen, § 1 Rn. 6; Höpfner, Tarifgeltung, S. 316; Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 892.
55 BVerfG vom 24.5.1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322 (347 f.).
56 Vgl. zum Gedanken Höpfner, Tarifgeltung, S. 321; ausdrücklich Sittard, Tarifnormerstreckung, § 2 S. 34.
57 Gamillscheg, § 15 S. 562; Wiedemann- Jacobs, Einl. Rn. 38.
58 Däubler- Ulber, Einl. Rn. 250; Gamillscheg, § 15 S. 563; Wiedemann- Jacobs, Einl. Rn. 33.
59 Gamillscheg, § 15 S. 562.
60 Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 880; Wiedemann- Thüsing, § 1 Rn. 44.
61 Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 880; zu diesem Gedanken auch Wiedemann- Thüsing, § 1 Rn. 44, der davon spricht, dass Vereinbarungen auf der Kollektivebene nicht der staatlichen Aufsicht unterlägen.
62 Däubler- Ulber, Einl. Rn. 247; Löwisch/Rieble, Grundl. Rn. 31 sprechen zutreffend davon, dass es nicht möglich ist, Grundrechtsträger und Grundrechtsverpflichteter zugleich zu sein.
63 Däubler- Ulber, Einl. Rn. 248.
64 Höpfner, Tarifgeltung, S. 316.
65 So zutreffend Lobinger, JZ 2014, 810 (812).
66 Zum Begriff der kollektiv ausgeübten Privatautonomie siehe die Nachweise in Fn. 50.
67 Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 880.
68 Zu diesem Argument bereits Fn. 62.
69 Höpfner, Tarifgeltung, S. 321.
70 Buchner, Tarifvertragsgesetz und Koalitionsfreiheit, S. 86 spricht von der „Auswirkung des eigenen Handelns“; Konzen, ZfA 1975, 401, 408 f.; Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 887.
71 Sittard, Tarifnormerstreckung, § 2 S. 34 f.
72 EK- Franzen, § 3 Rn. 16; Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 890.
73 Preis, Kollektives Arbeitsrecht, Rn. 887.
74 Bayreuther, Tarifautonomie, S. 58.
75 Bayreuther, Tarifautonomie, S. 59; Dietrich, RdA 2002, 1 (9); vgl. Lobinger, JZ 2014, 810 (811).
76 Bayreuther, Tarifautonomie, S. 59.
77 Bayreuther, Tarifautonomie, S. 59.
78 Bayreuther, Tarifautonomie, S. 59.
79 Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte AVE, S. 84.
80 Gamillscheg, § 15 S. 560.
81 So auch Bayreuther, Tarifautonomie, S. 91, der von „wesenseigen“ spricht.
82 Seiwerth, RdA 2014, 358 (358); derselbe, EuZA 2014, 450 (450 f.).
83 Https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/2010 (zuletzt besucht: 9.9.19 um 8:45 Uhr); https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/1950-1993 (zuletzt besucht: 9.9.19 um 8:45 Uhr).
84 Dieke/Lesch, IW-Trends 3/2017, 25 (27); Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, S. 14.
85 Https://www.iab-forum.de/tarifbindung-weiterhin-deutliche-unterschiede-zwischen-ost-und-westdeutschland/ (zuletzt besucht: 9.9.2019 um 8:45 Uhr).
86 Https://www.iab-forum.de/tarifbindung-weiterhin-deutliche-unterschiede-zwischen-ost-und-westdeutschland/ (zuletzt besucht: 9.9.2019 um 8:45 Uhr).
87 Seiwerth, RdA 2014, 358 (361).
88 Seiwerth, RdA 2014, 358 (361).
89 Franzen, NZA-Beilage 2017, 66 (71); Seiwerth, RdA 2014, 358 (362); derselbe, EuZA 2014, 450 (451).
90 Zu diesem Ausgangspunkt: Eindeutig Lobinger, JZ 2014, 810 (810 f.); vgl. Seiwerth, NZA 2014, 708 (708 f.); vgl. derselbe, RdA 2014, 358 (359 f.).
91 Zu den Voraussetzungen und Wirkungen der AVE siehe B) II), III).
92 Vgl. Sittard, Tarifnormerstreckung, § 1 S. 113; vgl. Preis/Povedano, S. 16 f.
93 Vgl. zu dieser Aussage des BVerfG i.R.d. Rechtfertigung einer Tariftreueerklärung: BVerfG vom 11.7.2006 – 1 BvL 4/00 –, NZA 2007, 42 (45 f.); ausdrücklich so BVerfG vom 24.5.1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322 (342).
94 Greiner, FS v. Hoyningen-Huene 2014, 103 (108); Junker, ZfA 2016, 81 (90); Preis/Povedano, S. 17.
95 Preis/Povedano, S. 17.
96 Vgl. BT-Drucks. 18/1558, S. 26 f.; vgl. Greiner, FS v. Hoyningen-Huene 2014, 103 (118); vgl. Höpfner, Tarifgeltung, S. 486.
97 Greiner, FS v. Hoyningen-Huene 2014, 103 (118).
98 Greiner, FS v. Hoyningen-Huene 2014, 103 (119).
99 Vgl. Franzen, SR 2017, 14 (15 f.); ausdrücklich: Höpfner, Tarifgeltung, S. 487; so auch Junker, ZfA 2016, 81 (90).
100 Hierzu Fn. 2.
101 Höpfner, Tarifgeltung, S. 487; Junker, ZfA 2016, 81 (90).
102 Vgl. Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, S. 13.
103 Höpfner, Tarifgeltung, S. 487; Junker, ZfA 2016, 81 (90).
104 Vgl. Bepler, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, S. B111; vgl. Greiner, FS v. Hoyningen-Huene 2014, 103 (109); derselbe, NZA 2018, 563 (564); Junker, ZfA 2016, 81, (90); vgl. Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 10; Höpfner, Tarifgeltung, S. 487.
105 Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte AVE, S. 98.
106 Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 10; MHzA- Klumpp, § 248 Rn. 19.
107 Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 11; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte AVE, S. 96 ff.
108 Löwisch/Rieble, § 5 Rn. 11; Rieble, Stärkung der Tarifbindung durch erleichterte AVE, S. 98; MHzA- Rieble, § 218 Rn. 69.