Der dem Lehrstuhl für Erwachsenenbildung/Weiterbildung der Universität zu Köln angegliederte Projektbereich UNIvation nahm sich 1997 eines interkulturellen Problemfeldes an, dem bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ausgangspunkt der Initiative waren Beobachtungen, dass im Strafvollzug nicht selten brisante interkulturelle Konflikte zwischen Bediensteten und Inhaftierten sowie zwischen den Gefangenen selbst ausgetragen werden.
Im Unterschied zu anderen Bereichen multikulturellen Zusammenarbeitens, in denen es nicht mehr ungewöhnlich ist, ethnisch geprägten Problemen mit speziell zugeschnittenen Bildungskonzepten zu begegnen, stellte sich der Strafvollzug in dieser Hinsicht als kaum bearbeitetes Feld dar. Vor allem Bedienstete des Allgemeinen Vollzugsdienstes erscheinen, was die Bearbeitung interkultureller Fragen im Rahmen einer zeitgemäßen Fortbildung angeht, weitgehend unversorgt.
In Zusammenarbeit mit dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, der Justizakademie Recklinghausen sowie den Justizvollzugsanstalten Köln, Siegburg und Willich wurde ein Pilotprojekt ins Leben gerufen, mit dem Ziel, durch die Entwicklung eines zielgruppenspezifischen Fortbildungskonzeptes eine Lücke im Bildungsangebot der Justiz zu schließen.
Im diesem Buch werden neben der vorgefundenen Ausgangslage vor allem der Planungsprozess, die Durchführung sowie zentrale Ergebnisse dieses Modellprojektes vorgestellt und bewertet. Bevor die konzeptionellen Eckpunkte der Pilotmaßnahme beleuchtet werden, sind zunächst die Hintergründe und die mit dem Gesamtprojekt verbundene Problemlage darzustellen. Im Anschluss daran wird im "Evaluationsreport" dezidiert auf die Inhalte sowie die Bewertung der Modellmaßnahme durch die Zielgruppe eingegangen. Abschließend werden begründet Möglichkeiten aufgezeigt, wie interkulturelle Lernangebote für Bedienstete in den Institutionen des Strafvollzugs verfestigt werden könnten. Außer der Absicht, mehr über die Notwendigkeit eines interkulturellen Lernangebotes zu erfahren, geht es bei der Evaluation vor allem um die Überprüfung, was getan werden kann/muss, damit interkulturelle und arbeitsplatznahe Bildungsinhalte sowie deren Vermittlung von der Zielgruppe akzeptiert werden. Auf der Grundlage dieser Untersuchung ist ein Fortbildungsmanual erarbeitet worden, das außer in NRW auch von der Justiz in Sachsen´erfolgreich eingestetzt wurde.
Hinweis: Das vorliegende Buch folgt den Regeln der „alten“ Rechtschreibung!
INHALTSVERZEICHNIS
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen
2.1 Grundzüge der Entwicklung und Intentionen des Strafvollzugs
2.2 Zur Situation des Behandlungs- bzw. Resozialisierungsvollzugs
2.3 Anforderungen an den allgemeinen Vollzugsdienst
2.3.1 Problemskizze einer Berufsgruppe
2.3.2 Ausländische Inhaftierte im Strafvollzug
2.4 Aus- und Weiterbildungssituation des allgemeinen
Vollzugsdienstes
2.4.1 Ausbildung des AVD am Beispiel der Justizvollzugsschule Wuppertal
2.4.2 Weiterbildung des AVD am Beispiel der Justizakademie
Recklinghausen
2.5 Zusammenfassende Betrachtung
3. Interkulturelles Lernen in einer multikulturellen
Gesellschaft
3.1 Daten und Fakten zu relevanten Migrationsprozessen
3.1.1 ‘Zu Gast auf dem deutschen Arbeitsmarkt’: Arbeitsmigration
3.1.2 ‘Sturm auf die Festung Europa’: Flüchtlingsmigration
3.1.3 ‘Aus historischer Verantwortung’: Aussiedlermigration
3.2 Entwicklung und Zielsetzung interkulturellen Lernens
3.2.1 Von der ‘Ausländerpädagogik’ zum ‘interkulturellen Lernen’
3.2.2 Zielsetzungen interkulturellen Lernens
3.3 Interkulturelles Lernen in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung
3.3.1 Interkulturelles Lernen in der Erwachsenenbildung
3.3.2 Interkulturelles Lernen in der Weiterbildung
3.3.2.1 Interkulturelles Lernen in Betrieben mit hohem Ausländeranteil
3.3.2.2 Interkulturelles Lernen für Führungskräfte
3.3.2.3 Interkulturelles Lernen für spezielle Berufsgruppen
3.4 Zusammenfassende Betrachtung
4. Zur Bedeutung von Arbeiten und Lernen in der
Weiterbildung
4.1 Geteilte Erwachsenenbildung: Ein ‘Schisma‘?
4.2 Qualifikationsanforderungen zwischen ‘Realität’ und ‘Reflexivität’
4.3 Arbeitsplatznahes Lernen in der Weiterbildung
4.4 Zusammenfassende Betrachtung
5. Das Projekt ‘Möglichkeiten interkultureller Weiterbildung
im Strafvollzug‘
5.1 Projektverlauf im Überblick
5.2 Ausgangslage und Zielsetzung
5.3 Projektphasen
6. Das Konzept des Pilotseminars
6.1 Vorüberlegungen
6.2 Grundlagen der Planung
6.2.1 Bedingungsfelder der Planung
6.2.2 Entscheidungsfelder der Planung
6.2.3 Seminarbeteiligte
6.2.4 Termine und Veranstaltungsorte
7. Einleitung des empirischen Teils der Untersuchung
8. Evaluation des Pilotseminars aus Sicht der Teilnehmer
8.1 Evaluationsforschung in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung
8.1.1 Begriffsbestimmung
8.1.2 Historischer Abriß
8.1.3 Evaluationsmodelle in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung
8.1.4 Von den Schwierigkeiten der Evaluation in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung
8.2 Evaluationsdesign
8.2.1 Methodologischer Begründungszusammenhang
8.2.2 Erhebungsmethode
8.2.3 Rolle des Forschers
8.2.4 Durchführung der Untersuchung
8.2.5 Dokumentation und Aufbereitung der Daten
8.3 Evaluationsreport
8.3.1 Erster Seminartag ‘Einführung‘
8.3.1.1 Kennenlernen
8.3.1.2 Vorstellen des Seminarkonzeptes und des Programmablaufs
8.3.1.3 Wanderungsbewegungen
8.3.1.4 Gruppengespräch mit Zeitzeugen
8.3.1.5 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.1.6 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.2 Zweiter Seminartag ‘Interkulturelle Grundlagen‘
8.3.2.1 Begriffe
8.3.2.2 Fremdheit
8.3.2.3 Vorurteile
8.3.2.4 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.2.5 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.3 Dritter Seminartag ‘Die Türkei zwischen Vergangenheit und Moderne‘
8.3.3.1 Kleine Geschichtskunde
8.3.3.2 Atatürk – Lehrer der Nation
8.3.3.3 Deutschland – Türkei – EU. Ein spannendes Verhältnis!?
8.3.3.4 Aktuelle Probleme
8.3.3.5 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.3.6 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.4 Vierter Seminartag ‘Der Islam – Eine Exkursion‘
8.3.4.1 Einführung in den Islam
8.3.4.2 Das Gebetsritual
8.3.4.3 Muslimische Organisationen in Deutschland
8.3.4.4 Führung durch die Moschee
8.3.4.5 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.4.6 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.5 Fünfter Seminartag ‘Strategien der Polizei im Umgang mit Fremden‘
8.3.5.1 Strategien der Polizei im Umgang mit Fremden
8.3.5.2 Problemanalyse
8.3.5.3 Perspektiven türkischer Jugendlicher
8.3.5.4 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.5.5 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.6 Sechster Seminartag ‘Ehre wem Ehre gebührt‘
8.3.6.1 Einführung ins Thema
8.3.6.2 Ehrverständnis im Vergleich
8.3.6.3 Gruppenarbeit zum Thema ‘Ehre‘
8.3.6.4 Ehre türkischer Jugendlicher
8.3.6.5 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.6.6 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.7 Siebenter Seminartag ‘Türkische Feiern, Gebräuche und Musik‘
8.3.7.1 Buchbesprechung
8.3.7.2 Bauchtanz
8.3.7.3 Einführung in die arabeske Musik
8.3.7.4 Bedeutung der Musik für Türken in Deutschland
8.3.7.5 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.7.6 Konsequenzen für den Seminarverlauf
8.3.8 Achter Seminartag ‘Kosovo / Albanien‘ und ‘Aussiedler aus den
G.U.S.-Staaten‘
8.3.8.1 Einführung: Kosovo und Albanien
8.3.8.2 Politisches Leben in Albanien
8.3.8.3 Aussiedler aus den G.U.S.-Staaten
8.3.8.4 Integrationsschwierigkeiten von Aussiedler
8.3.8.5 Bilanz der TN zum Seminartag
8.3.9 Neunter Seminartag ‘Seminarabschluß‘
8.3.9.1 Programmpunkt ‘Selbstformulierter Lerntest‘
8.3.9.2 Programmpunkt ‘Rollenspiel‘
8.3.9.3 Programmpunkt ‘Satzergänzung‘
9. Diskussion der Ergebnisse
9.1 Bewertung des Pilotseminars im Kontext interkulturellen Lernens
9.2 Bewertung des Pilotseminars vor dem Hintergrund der Arbeitsplatzanforderungen
10. Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Erklärung
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Aufgabenfelder in der Berufsausbildung des AVD in Stunden
Tabelle 2: Themenfelder des Seminars
Tabelle 3: Seminarteilnehmer
Tabelle 4: Veranstaltungstermine und –orte
Tabelle 5a: Evaluationsmodelle im Vergleich 100
Tabelle 5b: Evaluationsmodelle im Vergleich
Abbildung 1: Projektverlauf im Überblick 65/66
Abbildung 2: Eröffnungsmatrix
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Ende 1997 lebten offiziell rund 7.314.000 Menschen nicht-deutscher Nationalität in der Bundesrepublik. Das entspricht ca. 9% der Gesamtbevölkerung[1]. Nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit können ca. 150 verschiedene nationale Gruppen unterschieden werden[2]. Ergänzt um andere Kriterien wie Sprache, ethnische Zugehörigkeit oder religiöses Bekenntnis sind es sogar weit über 200 unterschiedliche Minderheitengruppen, die dauerhaft in der Bundesrepublik leben[3]. Das klassische Modell des europäischen Nationalstaates, das sich als fest abgegrenztes Territorium mit eigener Bevölkerung und Kultur definierte, entspricht nicht mehr der Wirklichkeit Deutschlands am Ausgang des 20. Jahrhunderts.
Die Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten, wie viele andere westeuropäische Industrienationen auch, faktisch zu einem Einwanderungsland geworden. Wenngleich immer wieder Stimmen zu hören sind, die diese Entwicklung zu negieren suchen, gibt es wohl kaum mehr einen gesellschaftspolitisch relevanten Bereich, der sich dieser Tatsache verschließen könnte. Überlegungen und Anstrengungen, wie auf die mit dem Migrationsphänomen einhergehenden vielfältigen sozialen Herausforderungen zu reagieren sei, gehen nicht nur quer durch Parteien, Verbände, Kirchen oder Gewerkschaften, sondern lassen auch die Sozial- und Geisteswissenschaften nicht unberührt.
Der dem Lehrstuhl für Erwachsenenbildung/Weiterbildung der Universität zu Köln angegliederte Projektbereich UNIvation nahm sich 1997 eines interkulturellen Problemfeldes an, dem bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ausgangspunkt der Initiative von UNIvation waren Beobachtungen, daß sich im Strafvollzuges spezifische und nicht selten brisante interkulturelle Konflikte zwischen Bediensteten und Inhaftierten sowie innerhalb der Gefangenenklientel selbst abbilden. Im Unterschied zu anderen multikulturell geprägten Bereichen des Zusammenlebens und Arbeitens, in denen es nicht mehr ungewöhnlich ist, interethnischen Problemstellungen mit speziellen Bildungskonzepten zu begegnen, identifizierte UNIvation den Strafvollzug in dieser Hinsicht als ‘Tabula rasa‘. Ins wissenschaftliche Visier der Erwachsenenbilder von UNIvation gerieten nun aber nicht – wie man vermuten könnte – die ausländischen Inhaftierten, die immerhin ca. 32% der Gefangenen des nordrhein-westfälischen Strafvollzuges darstellen. Im Zentrum des Forschungsinteresses stand die Berufsgruppe der Justizvollzugs-bediensteten. Unter dem Titel ‘Möglichkeiten interkultureller Weiterbildung im Strafvollzug‘ wurde ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, mit dem ambitionierten Ziel, durch die Entwicklung eines zielgruppenspezifischen Fortbildungskonzeptes eine Lücke im Weiterbildungsangebot der für die Justiz zuständigen Stellen zu schließen.
Die vorliegende Diplomarbeit verdankt ihr Entstehen der Mitarbeit des Verfassers an eben diesem Forschungsprojekt. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein ‘Pilotseminar‘, als zentraler Gegenstand der Forschungs- und Planungsarbeit des UNIvations-Teams. Mit dieser Bildungsmaßnahme wurde versucht, eine Art Proto-typ hervorzubringen, der - orientiert an der berufsspezifischen Problem- und Interessenlage der Justizvollzugsbediensteten – die wesentlichen Aspekte arbeits-platznahen und interkulturellen Lernens berücksichtigt. Vor dem Hintergrund, daß es sich dabei um eine Erstmaßnahme mit Modellcharakter handelt und erwachsenen-pädagogisches ‘Neuland‘ betreten wurde, entwickelte sich das Interesse, sowohl die theoretische Plattform als auch die praktische Erprobung des Pilotseminars wissenschaftlich zu dokumentieren. Mit dieser Diplomarbeit verbindet sich dann auch das Ziel, eine Ausgangsbasis für weitere andragogische Überlegungen zu schaffen, insofern sie beabsichtigen, interkulturelle Bildung in die Aus- und Weiterbildung von Justizvollzugsbediensteten zu implementieren.
Zu diesem Zweck soll in der Untersuchung der Frage nachgegangen werden, wie das Pilotseminar vor dem Hintergrund seiner interkulturellen und arbeitsplatznahen Bildungsintentionen zu bewerten ist. Um diese Frage einer Beantwortung näher zu bringen, wurde neben der Analyse der relevanten Literatur ein empirischer Zugang gewählt, der dem qualitativen Forschungsparadigma verpflichtet ist.
Im Anschluß an diese Einleitung wird im 2. Kapitel ein ‘Lagebericht‘ über den nordrhein-westfälischen Strafvollzug gegeben. Nach einer Darstellung der Ent-wicklung und der Intentionen des Strafvollzugs steht die Berufsgruppe des allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) im Zentrum. Hier interessieren vor allem die spezifischen Arbeitsplatzanforderungen sowie die Aus- und Weiterbildungssituation des AVD. Informationen darüber sind für das Gesamtverständnis der Arbeit sehr wichtig, da sie Ausgangspunkt und Ziel der pädagogischen Bemühungen von UNIvation umfassen.
Dem Phänomen der Migrationsprozesse widmet sich das 3. Kapitel. In einem ersten Schritt werden dort die Migrationsbewegungen beschrieben, die das multikulturelle Gesellschaftsbild der Bundesrepublik maßgeblich geprägt haben. Ihr Einfluß spiegelt sich nicht nur in der Vollzugswirklichkeit deutscher Haftanstalten wider, sondern war und ist auch Anlaß unterschiedlicher pädagogischer Reflexionen. Vor diesem Hintergrund geht es in einem zweiten Schritt darum, die theoretischen wie praktischen Dimensionen des ‘interkulturellen Lernens‘ in der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung nachzuzeichnen. Diese Analyse dient zum einen der Orientierung auf einem Wissensgebiet, das den Planungsprozeß von UNIvation maßgeblich geleitet hat. Zum anderen ist dieser Hintergrund zur Verortung und Bewertung des Pilot-seminars erforderlich.
Durch sich verändernde Qualifikationsanforderungen rücken zunehmend Konzepte in den Blick der berufliche Weiterbildung, die eine Verbindung von Arbeiten und Lernen einfordern. Auch die konzeptionellen Bemühungen von UNIvation folgen der Idee, daß Weiterbildung in einem möglichst engen Bezug zum Arbeitsplatz stehen soll. Anliegen des 4. Kapitels ist es, diese zweite konzeptionell Planungsgröße des Pilotseminars herauszustellen.
In dem 5. Kapitel folgt eine Skizze des gesamten Forschungsprojektes ‘Möglichkeiten interkultureller Weiterbildung im Strafvollzug‘, in dessen Rahmen das Pilotseminar entstanden ist. Eng damit verbunden ist das 6. Kapitel, das den konkreten Entstehungsprozeß des Pilotseminars dokumentiert, indem einerseits die planungsrelavanten Voraussetzungen und andererseits die didaktischen Entscheidungen der Bildungsplaner und -planerinnen beschrieben werden. Erst mit Kenntnis dieser beiden Aspekte kann das konzeptionelle Gerüst der Maßnahme, das anschließend erläutert wird, hinreichend erfaßt werden.
Die Überleitung vom theoretischen zum empirischen Teil der Untersuchung wird im 7. Kapitel vollzogen. Dabei wird deutlich werden, welche Gesichtspunkte nachfolgend im Forschungsinteresse stehen sollen.
Die Evaluation des Pilotseminars steht im Zentrum des 8. Kapitels. Nach einer Bestandsaufnahme und Problematisierung der Beziehungen zwischen der Erwachsenenbildung/Weiterbildung und der Evaluationsforschung wird das Design der Datenerhebung begründet und erläutert. Der ‘Evaluationsreport‘, der dieses Kapitel beschließt, folgt konsequent der formativen Anlage des empirischen Teils und bietet dem Leser einen ausführlichen Einblick in das Meinungsbild der Personen, die als Vertreter der Zielgruppe an der Pilotmaßnahme teilgenommen haben.
Die Seminarbewertung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird im 9. Kapitel zum Ausgangspunkt genommen, um aus erwachsenenpädagogischer Sicht zu diskutieren, wie das Pilotseminar hinsichtlich seines konzeptionellen Anspruches und der tatsächlichen Durchführung einzuschätzen ist.
Im 10. Kapitel folgt ein Ausblick. Hier gilt es, Perspektiven und Aspekte zu formulieren, die über den Forschungsrahmen dieser Arbeit hinausreichen.
2. Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen
Verbindlich für den gesamten Strafvollzug gilt das Strafvollzugsgesetz[4], dessen Ausführung die einzelnen Bundesländer durch spezielle Ausführungsvorschriften, Erlasse und Rundverfügungen in eigener Angelegenheit unterschiedlich gestalten. So verfügen die Bundesländer über eigene Vollzugssysteme, mit unterschiedlicher materieller und personeller Ausstattung sowie divergierenden Richtlinien für die Beamtenausbildung (vgl. BÖHM 1986, S. 50f)[5].
Da sich die vorliegende Untersuchung auf ein Weiterbildungsprojekt im nordrhein-westfälischen Erwachsenenstrafvollzug stützt, konzentrieren sich die nachfolgenden Betrachtungen in erster Linie auf diese Vollzugsform und die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW). Bundeseinheitliche Richtlinien, Untersuchungen und weitere Beiträge ergänzen die Darstellung, sofern sie auch für den nordrhein-westfälischen Strafvollzug aussagekräftig und bedeutend sind[6].
Der Schwerpunkt dieses Kapitel liegt auf einer Erörterung der beruflichen Situation des allgemeinen Vollzugsdienstes (vgl. 2.3) und der Frage, wie die Bediensteten durch Aus- und Weiterbildung bei ihrer Berufsausübung unterstützt werden (vgl. 2.4). Zum besseren Verständnis ihrer vielfältigen Aufgaben und der beruflichen Belastungen ist es notwendig, zuvor einen Blick auf die Intentionen des Strafvollzuges (vgl. 2.1) sowie auf die tatsächlichen Situation in deutschen Gefängnissen zu werfen (vgl. 2.2). Abschnitt 2.5 bietet dem Leser eine zusammen-fassende Betrachtung des Kapitels.
2.1 Grundzüge der Entwicklung und Intentionen des Strafvollzugs
Ausgehend vom Wortsinn, meint Strafvollzug die Durchführung aller strafrechtlichen Sanktionen schlechthin und bleibt in diesem weiten Begriffsverständnis nicht auf eine bestimmte Sanktionskategorie beschränkt. Die herrschende Meinung faßt den Begriff des Strafvollzugs allerdings enger, d. h. man versteht darunter „die Art und Weise von freiheitsentziehenden Kriminalsanktionen, und zwar von der Aufnahme des Verurteilten bis zu dessen Entlassung“ (KAISER/KERNER/SCHÖCH 1992, S. 3; vgl. auch CALLIESS 1992, S. 9). Rechtsgrundlage des Strafvollzugs in der Bundesrepublik ist das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) vom 16. März 1976[7], das die Umsetzung angeordneter Kriminal-sanktionen regelt. Verbindlicher Maßstab für die Durchführung des Vollzugs, ist das Vollzugsziel, das in § 2 Satz 1 StVollzG geregelt ist. Bevor der Blick auf das vom Gesetzgeber intendierte Ziel des Strafvollzugs gerichtet wird, soll zunächst ein Abriß der Entwicklung des Strafvollzugsgedankens gegeben werden. Ausgangspunkt der Betrachtungen ist das deutsche Kaiserreich. Denn erst mit der Reichsgründung 1871 waren die notwendigen Voraussetzungen einer reichseinheitlichen Regelung der Vollzugsvorschriften geschaffen, die sich wegbereitend für den heutigen Strafvollzug auswirken sollten.
Das Bemühen, die im Kaiserreich auf bundesstaatlicher Ebene und damit unein-heitlich geregelte Ausgestaltung des Strafvollzugs zu kodifizieren, war begleitet von einer Reformdiskussion um das richtige Vollzugssystem. Die auch als ‘Schulenstreit‘ (vgl. KAISER/KERNER/SCHÖCH 1992, S. 16) bezeichnete Auseinandersetzung über die Richtung einer Strafrechtsreform und den Zweckgedanken des Strafvollzugs spaltete die an der Diskussion Beteiligten in zwei Lager. Auf der einen Seite standen die Verfechter eines auf Vergeltung und Generalprävention ausgerichteten Vollzugs, auf der anderen Seiten fanden sich die Anhänger eines vom Besserungs- bzw. Behandlungsgedanken geprägten Strafvollzugs (vgl. ebd. S. 91).[8]
Begünstigt durch die Situation der Neuorientierung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918, begann sich der Erziehungs- und Besserungsgedanke nach dem Ende des Ersten Weltkriegs umfassend in Deutschland durchzusetzen. In der Weimarer Republik wurde der sog. ‘Stufen- oder Progressivstrafvollzug’ eingeführt, der dem Gefangenen durch abgestufte Lernschritte und wachsende Vergünstigungen eine Eingliederung in die freiheitliche Gesellschaft ermöglichen sollte. 1927 legte die Reichsregierung den ‘Amtlichen Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes nebst Begründung’ vor, der dem Erziehungsgedanken verpflichtet war und erstmals die rechtliche Stellung des Inhaftierten im Vollzug regelte (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 41f).
Mit Beginn der nationalsozialistischen Zeit ab 1933 erhielten die von Humanität und Erziehung geprägten Reformbestrebungen einen herben Rückschlag. Der Gedanke des Strafvollzugs als Erziehungs- und Besserungsmittel wich in der Zeit der Gewaltherrschaft einem menschenfeindlichen, auf Abschreckung und Unschädlichmachung ausgerichteten, rigiden Vergeltungs- und Sicherungsvollzug. Die Schaffung sog. Paralleleinrichtungen des Strafvollzugs in Form von Arbeits- und Vernichtungslagern sind grausamer Ausdruck dieser Entwicklung (vgl. HOTTES 1991, S. 66ff). Eine Ausnahme bildete der Jugendstrafvollzug in der NS-Zeit. Er war die einzige Vollzugsform, die sich zu einem – wenngleich nationalsozialistisch geprägten - Erziehungsgedanken bekannte. Aber auch hier konnten als Schwer-verbrecher eingestufte Jugendliche nach dem wesentlich härteren Erwachsenen-strafrecht abgeurteilt und in spezielle Lager verbracht werden (vgl. KAISER/ KERNER/SCHÖCH 1992, S. 97).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Konzept des Vernichtungs- und Abschreckungsvollzugs in Deutschland endgültig aufgegeben[9]. Unter dem Eindruck der alliierten Kontrollratsdirektive Nr. 19 (‘Grundsätze für die Verwaltung der deutschen Gefängnisse und Zuchthäuser’) vom 12.11.1945, die die Ausgestaltung des Strafvollzugs auf die Basis von Besserung und Erziehung stellte, wandte man sich erneut den Weimarer Reformgedanken zu. Der (alte) Konflikt zwischen den Vollzugszielen, Abschreckung, Vergeltung und Sicherheit auf der einen sowie Erziehung und Besserung zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung Straffälliger auf der anderen Seite, war damit aber noch nicht überwunden. Die erste bundeseinheitliche Verordnung zur Regelung des Strafvollzugs aus dem Jahre 1961, die Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO), versuchte die widerstreitenden Interessen zu verknüpfen, blieb dadurch aber uneindeutig in ihrer Zielsetzung:
Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll dazu dienen, die Allgemeinheit zu schützen, dem Gefangenen zu der Einsicht zu verhelfen, daß er für begangenes Unrecht einzustehen hat und ihn wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Der Vollzug soll den Willen und die Fähigkeit des Gefangenen wecken und stärken, künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen. (Nr. 57 Abs. 1 DVollzO)
Im Zuge des politisch reformfreudigen Klimas der 60er und 70er Jahre, „erblühte im Bereich der Sanktionsforschung ein Behandlungsoptimismus, der über ausländische Vorbilder [...] auch die Bundesrepublik erreichte“ (WALTER 1991, S. 33). Hier fand diese Entwicklung ihren Niederschlag u. a. in dem 1972 vorgelegten Regie-rungsentwurf, der darauf ausgerichtet war, die aus dem Jahre 1961 stammende und bislang gültige DVollzO zugunsten eines eindeutig am Behandlungsvollzug orientierten, bundesweit geltenden Gesetzes abzulösen (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 46f). Wie schon erwähnt, verabschiedete der Deutsche Bundestag am 12.2.1976 schließlich das Strafvollzugsgesetz (StVollzG), das am 1.1. 1977 in Kraft trat und bis heute gilt. Nach § 2 StVollzG dient der Vollzug von Freiheitsstrafen nunmehr zwei Aufgaben:
Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. (§ 2 StVollzG).
Es wird deutlich, daß der Gesetzgeber als Vollzugsziel eindeutig und einheitlich allein die soziale Wiedereingliederung, die Resozialisierung des Delinquenten festgelegt hat. Nach heute üblicher Auffassung kann unter Resozialisierung „die Summe der Bemühungen verstanden werden, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (WALTER 1991, S. 192; vgl. auch KAISER/KERNER/SCHÖCH 1992, S.138 ; LAUBENTHAL 1998, S. 52). In einem ‘Stufenverhältnis’ (vgl. HAUF 1994, S. 33) folgt im Satz 2 § 2 StVollzG als eine weitere Aufgabe des Strafvollzugs „auch [der] Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ (s.o.). Die Sicherung ist zwar im Wesen der Freiheitsstrafe impliziert, „aber keine zentrale Gestaltungsmaxime innerhalb des Vollzugs, sie ist weder dessen Zweck noch Ziel“ (CALLIESS 1992, S. 25). Von einem Zielkonflikt, wie er noch in der DVollzO bestand, kann heute demnach faktisch kaum mehr gesprochen werden (vgl. KAISER/KERNER/ SCHÖCH 1992, S. 143f; vgl. auch LAUBENTHAL 1998, S. 67).
Die Umsetzung dieses Vollzugsziels soll durch ‘Behandlung’ des Delinquenten geschehen. Nach der Intention des Gesetzgebers umfaßt der Behandlungsbegriff;
[...] sowohl die besonderen therapeutischen Maßnahmen als auch die Maßnahmen allgemeiner Art, die den Gefangenen durch Ausbildung und Unterricht, Beratung bei der Lösung persönlicher und wirtschaftlicher Probleme und Beteiligung an gemeinschaftlichen Aufgaben der Anstalt in das Sozial- und Wirtschaftsleben einbeziehen und der Behebung krimineller Neigungen dienen. (BT-Drs. VII/918, S. 41)
Grundlage der Behandlung im Resozialisierungsvollzug ist die Erstellung eines Rahmenplans, an der der Gefangene aktiv mitwirken (vgl. § 4 Satz 1, § 6 Satz 3 StVollzG) und der die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Straffälligen berücksichtigen soll (vgl. § 6 Satz 1 StVollzG). Nach den Buchstaben des Gesetzes entsteht so ein für jeden Gefangenen individueller Vollzugsplan, der mindestens die folgenden Behandlungsmaßnahmen regelt:
1. die Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug,
2. die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt,
3. die Zuweisung zu Wohn- und Behandlungsgruppen,
4. den Arbeitseinsatz sowie Maßnahmen der beruflichen Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung,
5. die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen,
6. besondere Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen,
7. Lockerung des Vollzugs und
8. notwendige Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung (vgl. § 7 Satz 2 StVollzG).
Zusammenfassend kann bis hierhin festgehalten werden, daß der heutige Strafvollzug de jure die Antinomie zwischen repressiver Vergeltung und spezial-präventiver Behandlung zu Gunsten eines Resozialisierungsvollzugs überwunden hat, der dem Gefangenen individuelle Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen anbietet und ihn bewußt an der konstruktiven Ausgestaltung des Freiheitsentzugs beteiligt. Die Betrachtungen wären jedoch unvollständig, wenn nicht auch der Blick auf die Umsetzung des Vollzugsziels Resozialisierung in der Praxis gerichtet werden würde. Denn - so wird sich zeigen - die Vollzugswirklichkeit weicht z. T. erheblich von der gesetzlichen Vorgabe ab.
2.2 Zur Situation des Behandlungs- bzw. Resozialisierungsvollzugs
Zur Umsetzung des Behandlungsgedankens im Vollzugsplan stehen unterschiedliche Methoden, Konzepte und Modelle zur Verfügung, die - ausgerichtet an der Persönlichkeit und der individuellen Problemlage des Inhaftierten - insgesamt dem Aufbau sozialer Kompetenz dienen sollen. Mit Beginn des modernen Strafvollzugs wurde der defizitorientierte Ansatz des ‘Sozialen Trainings’ favorisiert, der die gegenwärtigen und künftigen Kernprobleme der Realitätsbewältigung bei den Gefangenen unmittelbar angeht und aufzuarbeiten sucht. In (Klein-)Gruppen soll die positive Wirkung menschlicher Beziehungen zwischen den Inhaftierten und den Gruppenbeamten zum Erlernen sozialer Kompetenz ausgenutzt werden – idealer-weise unterstützt durch sozialtherapeutische Begleitung. (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 59ff; KAISER/KERNER/ SCHÖCH 1992, S. 479ff)
Nach Inkrafttreten des StVollzG Ende der 70er Jahre wurden vielfältige Bemühungen unternommen, einen bundesweiten Resozialisierungsvollzug entsprechend aufzubauen: Neubau von Vollzugsanstalten, drastische Erhöhung des Vollzugspersonals, Ausbau allgemeiner und beruflicher Bildungsmöglichkeiten sowie Errichtung von Wohngruppen, Freigängerhäusern und Anstalten mit speziellen Therapieangeboten waren die zentralen Schritte, um den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Doch seit Ende der 80er Jahre scheinen diese infrastrukturellen und personellen Maßnahmen nicht nur zu stagnieren sondern sogar rückläufig zu sein. Als Gründe für diese Entwicklung können v. a. die folgenden benannt werden: Die strittige Frage, ob überhaupt und wenn, dann welche Behandlungsmaßnahmen als erfolgversprechend gelten können, wurde erneut diskutiert. Infolge dieser Diskussion verloren Behandlungsmaßnahmen vielfach an Akzeptanz. Ferner geriet durch die zunehmende Verknappung finanzieller Mittel der personal- und kostenintensive Behandlungsvollzug zusätzlich unter erheblichen Druck[10]. (vgl. ROTTHAUS 1994, S. 247; SCHWIND 1995, S. 217)
Betrachtet man die heutige Situation des Strafvollzug, dann scheinen sich die dargestellten Tendenzen in den 90er Jahren verfestigt zu haben. Obwohl ein sozialtherapeutisch gestütztes Behandlungskonzept für alle Inhaftierten der Ziel-vorgabe des § 2 Satz 1 StVollzG am ehesten gerecht werden würde, gibt es nur wenige Beispiele für eine konsequente Umsetzung. Faktisch bleibt eine derartige Behandlung auf besondere Anstalten bzw. Abteilungen beschränkt (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 62). WAGNER spricht in diesem Zusammenhang von ‘Inseln’ der Behandlung, die - realistisch betrachtet - nicht das Wesen des Strafvollzugs kennzeichnen (vgl. WAGNER 1995, S. 97). Die Frage, was unter den oben aufgeführten Umständen von der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers übrig geblieben ist, wird von SCHWIND pointiert wie folgt beantwortet:
[Da] fällt einem spontan nur das Fernsehen ein, das zweifellos beruhigend wirkt; auf der anderen Seite allerdings auch die Lust unterdrückt, therapeutischen Angeboten zu erliegen. Da es solche inzwischen kaum oder gar nicht mehr gibt, sind solche Sorgen aber auch noch nicht berechtigt. (SCHWIND 1995, S. 218)
Bereits 1991 gelangt WALTER zu einer ähnlichen Einschätzung, nämlich: Resozialsierungs- bzw. Behandlungsvollzug sei zwar gesetzlich verankertes Ideal, der Verwahrvollzug, allein auf kustodiale Tätigkeiten beschränkt, hingegen die Realität des bundesdeutschen Regelvollzugs. Bestimmte Behandlungsprogramme, so WALTER weiter, würden nur mit erheblichen Abstrichen und halbherzig realisiert (vgl. WALTER 1991, S. 193). Zu den zuvor genannten Gründen, die einer wirklichen Behandlung der Inhaftierten entgegenstehen, fügt WALTER einen weiteren hinzu: Ein Grund für unzureichende Umsetzung des Vollzugsziels liege auch im Verhalten eines Teils der Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes begründet, die sich eher ablehnend in der Umsetzung des Resozialisierungs-gedankens verhielten (vgl. ebd. S. 195).
Mit welchen Anforderungen bzw. Problemen sich Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes im besonderen auseinandersetzen (müssen) und wie sie durch Aus- und Fortbildung dabei unterstützt werden, soll im folgenden angesprochen werden.
2.3 Anforderungen an den allgemeinen Vollzugsdienst
In § 155 Abs. 2 StVollzG werden acht unterschiedliche Berufsgruppen benannt, die den Vollzugsstab in den Strafanstalten bilden: Allgemeiner Vollzugsdienst, Verwaltungs- und Werkdienst, sowie Seelsorger, Ärzte, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeiter. Die exponierte Stellung der Anstaltsleitung wird gesondert in § 156 StVollzG erwähnt.
Der allgemeine Vollzugsdienst (AVD), fast ausschließlich bestehend aus Beamtinnen und Beamten des mittleren Dienstes, stellt zahlenmäßig die weitaus stärkste Personalgruppe in den Justizvollzugsanstalten dar. Im nordrhein-westfälischen Strafvollzug waren 1997 insgesamt 8.087 Personen beschäftigt, davon gehörten allein dem allgemeinen Vollzugsdienst 5.776 Beschäftigte (darunter 11,2% Frauen) an. Das entspricht über 71,4% der Gesamtbeschäftigtenzahl des Vollzugspersonals des Landes NRW. (vgl. MINISTERIUM FÜR INNERES UND JUSTIZ / NRW 1998a, o. S.)
War der AVD, der vormals als Aufsichtsdienst bezeichnet wurde, bis zum Inkrafttreten des StVollzG fast ausschließlich mit Bewachungstätigkeiten betraut, hat sich sein Aufgabenbereich seit 1977 erheblich ausgeweitet. Die bundeseinheitlichen Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug (DSVollz) regeln neben der Aufsichtspflicht (vgl. Nr. 20 DSVollz) auch das weitere Aufgaben- und Funktionsspektrum des allgemeinen Vollzugsdienstes:
1. die Mitwirkung bei der Gefangenenaufnahme,
2. die sichere Unterbringung der Gefangenen,
3. die Mitwirkung bei der Behandlung, Beurteilung und Freizeitgestaltung der Gefangenen,
4. die Sorge für Ordnung und Sauberkeit in allen Räumen mit ihren Einrichtungs- und Lagerungsgegenständen,
5. die Sorge für Reinlichkeit der Gefangenen, ihrer Wäsche und Kleidung,
6. die Mitwirkung bei der Pflege erkrankter Gefangener und
7. nach örtlichen Bestimmungen die Führung von Büchern, Listen und Nachweisungen sowie die Entgegennahme von Anträgen (vgl. Nr. 12 Abs. 2 DSVollz).
Alle am Vollzug beteiligten Berufsgruppen sind aufgrund der ‘Kooperationsklausel’ (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 105) des § 154 Abs. 1 StVollzG zur Zusammenarbeit und Mitwirkung verpflichtet, um das in § 2 Satz 1 StVollzG bestimmte Vollzugsziel zu erfüllen. Somit gilt auch oder gerade für den allgemeinen Vollzugsdienst, an der Resozialisierung durch Behandlung aktiv mitzuwirken (vgl. KAISER/KERNER /SCHÖCH 1992, S. 363f).
Gerade die Beamtinnen und Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes [...] sind es, die durch ihren ständigen Kontakt mit den Gefangenen auf diese einen starken Einfluß ausüben und die Atmosphäre in einer Anstalt entscheidend prägen. (MINISTERIUM FÜR INNERES UND JUSTIZ / NRW 1997, S. 13)
Dadurch, daß die Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes im Vergleich zu den weiteren Berufsgruppen des Strafvollzugs die weitaus meiste Zeit mit den Inhaftierten verbringen, kommen ihnen besonders umfangreiche Betreuungs- und Behandlungsaufgaben zu. Zu nennen wären hier insbesondere.:
-Unterstützung bei Problemen oder in Konfliktsituationen,
-Vermittlung von Kontakten innerhalb und außerhalb der Anstalt,
-Führen regelmäßiger Einzelgespräche und Leitung von Gruppengesprächen,
-Mitwirkung bei der Gestaltung des Vollzugsplanes,
-Mitarbeit in Therapiegruppen und einzeltherapeutischen Maßnahmen,
-Mithilfe bei der Klärung finanzieller oder familiärer Probleme,
-Initiierung, Förderung und Leitung von Freizeitangeboten,
-Erstellung von Berichten sowie Beobachtungsprotokollen (vgl. HELLSTERN 1997, S. 5ff).
Am hier skizzierten Aufgabenspektrum wird ersichtlich, daß von Bediensteten des AVD neben einer charakterlich gefestigten Persönlichkeit für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung v. a. kommunikative Fähigkeiten, Einfühlungsver-mögen, Kooperationsbereitschaft, Toleranz und Engagement gefordert wird. Doch angesichts der vorgegebenen Aufgabenvielfalt von Beaufsichtigung, Betreuung, Versorgung und Behandlung befindet sich gerade der AVD im Zwiespalt zwischen Resozialisierungsauftrag einerseits und Sicherungs- und Verwahraufgaben andererseits (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 107). Hinzu treten spezifische Probleme, die sich aus einer im Wandel befindlichen Gesellschaft ergeben und eine Verdichtung im Strafvollzug erfahren - von ihnen ist der AVD im besonderen betroffen.
2.3.1 Problemskizze einer Berufsgruppe
Bereits 1989 haben MEY und MOLITOR Ergebnisse einer organisations- und persönlichkeitspsychologischen Untersuchung in der ZfStrVo veröffentlicht (vgl. MEY/MOLITOR 1989). Ausgangspunkt der Untersuchung war die Fragestellung, ob sich die schwer miteinander zu vereinbarenden Vollzugsaufgaben für das Strafvollzugspersonal in wahrnehmbaren Rollenspannungen niederschlagen. Sie befragten u. a. 89 Beamte des allgemeinen Vollzugsdienstes aus drei geschlossenen nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten danach, wie sich der Konflikt zwischen Resozialisierung und Sicherung in den arbeitsplatzbezogenen Rollenanforderungen widerspiegelt. In der Zusammenschau zeigt sich für die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes, daß sie den als widersprüchlich erlebten Berufsanforderungen zwar gerecht werden wollen, allerdings meinen sie „ für diese Haltung bei Kollegen und Anstaltsleitung keinen Rückhalt zu finden“ (ebd. S. 220). Daher messen sie im Ergebnis den Sicherheits- und Ordnungsanforderungen in der täglichen Arbeit die höchste Bedeutung bei, den Betreuungsaufgaben die wenigste[11] (vgl. ebd. S. 216). Tatsächlich aber fordere die Anstaltsleitung von den Bediensteten des AVD eher ein Eintreten für Behandlung und Betreuung als für die Sicherheit (vgl. ebd. S. 221). Die aufgefundenen Rollenkonflikte führten zu einer Überforderung des AVD und seien mitverantwortlich für die allgemeine berufliche Unzufriedenheit dieser Berufsgruppe (vgl. MOLITOR 1989, S. 36ff).
Zusätzlich zu den innerpersönlichen Spannungen, die sich aus der verzerrten Wahrnehmung von Verhaltensanforderungen ergeben (können), stößt man bei Durchsicht einschlägiger Literatur wiederholt auf weitere Problembereiche, die sich z. T. gegenseitig bedingen und ebenfalls zu Überforderung und Unzufriedenheit des allgemeinen Vollzugsdienstes führen. Zusammenfassend für die „schlechte Stimmung“ (ROTTHAUS 1994, S. 241) in den Vollzugsanstalten im allgemeinen und beim AVD im besonderen konnten besonders die folgenden Gründe bzw. Mißstände ausgemacht werden[12]:
-fehlende soziale Anerkennung durch Kollegen, Vorgesetzte und Gesellschaft,
-als ungerecht erlebte Beförderungssituation,
-mangelnder Einbezug in Entscheidungs- und Informationsprozesse der (un-) mittelbaren Vorgesetzten,
-Ausbleiben von Erfolgserlebnissen und dadurch mangelnde Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Tuns,
-dauerhafte Überbelegung der Vollzugsanstalten,
-Personalmangel und daraus resultierende hohe Überstundenbelastung,
-zunehmende Zahl behandlungsunwilliger Inhaftierter,
-wachsender Anteil verwahrloster und gewalttätiger Gefangener,
-besondere Anforderungen durch den hohen und weiter wachsenden Ausländeranteil
-steigender Drogenkonsum der Inhaftierten.
Wie der Problemaufriß belegt, sind die Arbeitsbedingungen des AVD in den JVAen aus unterschiedlichen Gründen erschwert und es wird nachvollziehbar, daß diese Situation nicht ohne Folgen bleibt. Als negative Auswirkungen der Arbeitsbelastungen gelten v. a. die Zunahme frühzeitiger Pensionierungen und der überdurchschnittlich hohe Krankenstand dieser Berufsgruppe (vgl. BÖHM 1995, S. 38; ROTTHAUS 1994, S. 242).
So fällt gerade wegen der bekannten und vielfach reklamierten Mißstände nach Ansicht von SCHWIND die Zukunftsprognose für den Strafvollzug ungünstig aus: Prävention werde nicht ausgebaut, Resozialisierungsprogramme würden weiterhin reduziert und überdies werde Deutschland „wegen seiner Wirtschaftskraft und seiner zentralen Lage [...] die Straftäter aus allen Himmelsrichtungen anziehen. [Ferner werde] der Import von Drogen zunehmen: nicht zuletzt durch das organisierte Verbrechen, dessen Fangarme [...] auch in den deutschen Strafvollzug hineinreichen werden“ (vgl. SCHWIND 1995, S. 199f).
2.3.2 Ausländische Inhaftierte im Strafvollzug
SCHWIND macht auf ein Problemfeld aufmerksam, dessen Virulenz bereits im vorstehenden Problemaufriß angedeutet wurde, nämlich daß der z. T. erhebliche Anteil ausländischer Inhaftierter die Bediensteten des Strafvollzugs vor besondere Anforderungen stellt und zunehmend stellen wird.[13] Da dieses Phänomen gleichzeitig die Grundlage der Initiative von UNIvation und Ausgangspunkt der Planung und Durchführung des Projektes ‘Möglichkeiten interkultureller Weiterbildung im Strafvollzug’ bildet, erscheint es angebracht, den Leser hier mit aktuellen Daten einen Einblick zu versorgen[14].
-Am 30. September 1998 standen im nordrhein-westfälischen Vollzug insgesamt 17.631 Haftplätze zur Verfügung, die mit 18.398 Inhaftierten, davon 5.879 Menschen nicht-deutscher Nationalität, (über-)belegt waren. In den 58 Vollzugseinrichtungen des Landes war damit durchschnittlich jede/r dritte Inhaftierte (32,0%) ausländischer Herkunft bzw. staatenlos. Abgesehen von den Abschiebehafteinrichtungen, die zu 100% mit Migranten belegt sind, waren es Ende letzten Jahres vor allem die folgenden Vollzugseinrichtungen, deren Ausländeranteil überdurchschnittlich hoch lag: Kleve (55,6%), Düsseldorf (52,0%), Gerresheim (51,3%), Wuppertal (47,5%), Köln (45,3%), Aachen (43,5%), Essen (42,7%), Duisburg (42,4%), Detmold (41,7%) und Münster (41,1.%)[15].
-Nach Angaben des Ministeriums für Inneres und Justiz des Landes NRW stammen die 5.879 ausländischen Inhaftierten aus 87 statistisch erfaßten Nationen. Den weitaus größten Anteil bilden Menschen aus der Türkei mit 1.699, das entspricht 28,9% aller ausländischen Inhaftierten, gefolgt von Jugoslawien[16] mit 570 (9,7%), Polen mit 323 (5,5%) und Marokko mit 307 (5,2%) Inhaftierten.
Das Zusammenleben verschiedener Ethnien unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs und ein durchschnittlicher Ausländeranteil von 32,0% in den Vollzugsanstalten des Landes bringt eine Vielzahl besonderer Probleme mit sich. Unter dem bezeichnenden Titel ‘Gefangen in Babylon’ befaßte sich der SPIEGEL im Februar 1999 mit der momentanen Situation im bundesdeutschen Strafvollzug. Die Reportage bestätigt das ernüchternde Bild eines Verwahrvollzugs, das vorangehend dargestellt wurde. Trotz seines feuilletonistischen Duktus‘ sei der Bericht nachfolgend in Auszügen zitiert, da er die Brisanz einer Situation widerspiegelt, die im wesentlichen mit den Erhebungen und Erfahrungen von UNIvation übereinstimmt (vgl. Kapitel 5).
Gewalt, Drogen und aufeinanderprallende Kulturen können jeden Tag explodieren. Der Personalrat der JVA Kassel warnt: ‘Die katastrophale Überbelegung mit aggressiver Klientel’ nehme bedrohliche Ausmaße an. [...] Ob Kassel, Berlin-Tegel oder Hamburg, 40 Prozent aller Gefangenen im Bundesschnitt sind Zuwanderer und deren Kinder[17], Glücksritter, die der Wohlstand anlockte, und kriminelle Kurzbesucher. In Berlin sitzen Gefangene aus 80 Nationen. In der Hessischen Untersuchungshaftanstalt Weiterstadt hat von fünf Gefangenen nur noch einer einen deutschen Paß. Da hat der Verlegemeister, der sie auf die Zellen verteilt, manche Nuß zu knacken. [...] Oft werden nationale Konflikte mit Faust und Messer ausgetragen. In Berlin haben Russen und Polen den Krieg gegen die türkische Hegemonialmacht begonnen. In Hamburg bildet die PKK ein Machtzentrum. Und auch der Darmstädter Anstaltsleiter Bickler ist mit ethnischen Charakteristika vertraut: ‘Wenn wir ein Messer finden, dann gehört es fast immer einem Jugoslawen.’ Bickler kennt auch die Nöte seiner Gefangenen in der Fremde. Wie soll er etwa den beiden Indern, die mit großen traurigen Augen in der Zelle sitzen klarmachen, daß sie zwar brave Leute sind, aber trotzdem kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben? Wie soll er dem Mann aus Ghana erklären, daß der weiße Gefangene, der viel mehr auf dem Kerbholz hat, Freigang bekommt, der schwarze aber nicht, weil er in Zukunft nur noch in Afrika spazieren gehen darf? Das kulturstiftende Element in jeder deutschen Vollzugsanstalt ist die Droge. (DER SPIEGEL vom 1.2.1999, Heft 5, S. 59ff)
2.4 Aus- und Weiterbildungssituation der Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes
Ungeachtet der unter 2.3.1 und 2.3.2 genannten Belastungen bleibt der deutsche Strafvollzug dem gesetzlich verankerten Vollzugsziel der Resozialisierung verpflichtet, zu dessen Erreichung ein motivierter und engagierter Vollzugs-bediensteter eine wesentliche und notwendige Voraussetzung ist (vgl. DOLDE 1995, S. 54). Was von Seiten der Aus- und Weiterbildung getan werden kann bzw. getan wird, um den Anforderungen des Behandlungsgedankens zu entsprechen und der nachweislichen „Unzufriedenheit und der Depression beim Personal des Strafvollzugs“ (ROTTHAUS 1994, S. 241) entgegenzuwirken, soll nachfolgend thematisiert werden.
2.4.1 Ausbildung des AVD am Beispiel der Justizvollzugsschule in Wuppertal
Die Ausbildung des allgemeinen Vollzugsdienstes wird für das Land NRW über die Ausbildungs- und Prüfungsordnung (VAPaVollzd) vom 3.8.1984 geregelt. Mit Inkrafttreten dieser Verordnung wurde die vormals 18monatige Ausbildung auf 24 Monate ausgeweitet. Die Ausbildung umfaßt die folgenden Einheiten:
1. Eine praktische Einführung von zwei Monaten, die in der Anstalt stattfindet, von der der Anwärter/die Anwärterin eingestellt wurde und v. a. dem Einblick in das zukünftige Praxisfeld dient, nebst begleitendem Unterricht (vgl. § 12 VAPaVollzd).
2. Einen fünfmonatigen Einführungslehrgang, der die praktische Ausbildung im Unterricht vorbereiten soll (vgl. § 14 VAPaVollzd).
3. Eine zwölfmonatige praktische Ausbildung, währender in der Stammanstalt alle Arbeitsbereiche durchlaufen werden, die zum Aufgabenspektrum des allgemeinen Vollzugsdienstes gehören, begleitet von Lehrveranstaltungen durch Ausbildungsleiter bzw. Ausbildungsleiterinnen in den JVAen (vgl. § 13 VAPaVollzd).
4. Ein Abschlußlehrgang von fünf Monaten, der der Ergänzung und Vertiefung der praktischen Ausbildung dient und auf die abschließende Laufbahnprüfung vorbereitet (vgl. § 14 VAPaVollzd).
Die berufspraktischen Tätigkeiten des allgemeinen Vollzugsdienstes haben bereits weiter oben Erwähnung gefunden und mögen hier als Anhaltspunkte für die Tätigkeiten während der Ausbildung der Aspiranten in der Praxis genügen. Vor dem Hintergrund des gespannten Verhältnisses von Vollzugsideal und Vollzugsrealität soll hier der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag die Ausbildung des AVD zu einer Spannungsreduktion leistet bzw. leisten kann. Daher wird im weiteren zuerst der Blick auf die Inhalte der theoretischen Ausbildung gerichtet werden, um anschließend ihren Auswirkungen in der Praxis nachzugehen.
Grundlage der theoretischen Ausbildung sind die Stoffverteilungspläne der Justizvollzugsschule in Wuppertal, die landesweit die insgesamt zehnmonatige theoretische Ausbildung (Einführungslehrgang plus Abschlußlehrgang) aller Anwärterinnen und Anwärter für den AVD durchführt. Die in Wuppertal unterrichteten 14 Fächer gliedern sich in sechs inhaltliche Aufgabenfelder. Die Verteilung der Gesamtstundenzahlen pro Fach bzw. Aufgabenfeld ist tabellarisch auf der nächsten Seite dargestellt. Die angegebenen Zahlen beziehen sich jeweils zu Hälfte aus den Einführungs- bzw. den Abschlußlehrgang.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Tab. 1: Aufgabenfelder in der Berufsausbildung des AVD in Stunden)
Den Schwerpunkt der theoretischen Ausbildung bildet - dem Stundenumfang nach - das Aufgabenfeld II, auf das mit 440 Stunden fast ein Drittel des Gesamtunterrichts entfällt. Die Gewichtung der menschenkundlichen Fächer Psychologie, Pädagogik, Kriminologie und Sozialkunde korrespondiert deutlich mit dem vom Gesetzgeber vorgegebenen Vollzugsziel und unterstreicht die Bedeutung, die dem AVD bei seiner Umsetzung beigemessen wird (vgl. BURGHEIM 1997, S. 141).
Oben wurde dargestellt, daß das Vollzugsgeschehen in der Praxis vom Ideal des Resozialisierungs- bzw. Behandlungsvollzugs z. T. erheblich abweicht. Betroffen von dieser Diskrepanz ist nicht zuletzt die Berufsgruppe der Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes. Gleichzeitig finden sich alle Anwärterinnen und Anwärter für 14 von insgesamt 24 Monaten in dieser nicht eben problemfreien Vollzugswirklichkeit wieder und zwar maßgeblich angeleitet durch die teilweise stark belasteten Kollegen des AVD. Geht man nun davon aus, daß die theoretische Ausbildung im Lande NRW von der originären Intention des Gesetzgebers geleitet ist, befinden sich die Aspiranten bereits während ihrer Ausbildung im Widerstreit zwischen legislativem Ideal und exekutiver Realität, im Konfliktbereich zwischen ‘Schein und Sein’ des Strafvollzugs. Eine zukünftig sinnstiftende Verknüpfung von Theorie und Praxis im Vollzugsalltag scheint aufgrund der aufgezeigten Widersprüchlichkeiten bereits in der Ausbildung - vorsichtig formuliert - zumindest erschwert zu sein.
Folgt man RASCHE, so bestätigt sich das hier dargestellte Problem für die Ausbildung an der Justizvollzugsschule in Wuppertal tatsächlich (vgl. RASCHE 1996):
Das Strafvollzugsgesetz setzt hinsichtlich des zu erreichenden Vollzugsziels hohe Maßstäbe. Diese werden bereits während der Ausbildung durch die Praxis in Frage gestellt, wodurch schon zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn Demotivation und Frustration bei Bediensteten entstehen. [...] Der Auszubildende muß den Eindruck gewinnen, daß seine Ausbildung eher als eine Farce betrachtet werden kann. (ebd. S. 208)
Der Einfluß des Unterrichts der Justizvollzugsschule stelle, so RASCHE, die Weichen für die berufliche Einstellung, die Motivation und das Selbstbild der Vollzugsbeamtinnen und -beamten. Dieses Bemühen werde allerdings in der Vollzugspraxis konterkariert und führe bei Rückkehr der Schülerinnen und Schüler aus der Praxisausbildung dazu, daß sie Sinn und Anspruch der Ausbildung auf unzulässige und demotivierende Weise hinterfragen. Verantwortlich dafür macht RASCHE insbesondere unreflektiert und abwertend urteilende Kollegen und Vorgesetzte, denen die Anwärterinnen und Anwärter während ihrer Praxisausbildung begegnen. Dieser Mißstand sei mitverantwortlich dafür, daß es langfristig zu psychischen wie physischen Schäden der zukünftigen Bediensteten komme. Daher dürfe man sich dann auch nicht „über frustrierte und jammernde Bedienstete wundern, die ihren Auftrag nicht - mehr - kennen (wollen)“ (ebd. S. 208ff).
Zur Abwendung bzw. Verbesserung dieser von RASCHE als destruktiv bezeichneten Tendenzen, stellt er einen umfangreichen Katalog von Forderungen und Anregungen auf, der eine deutliche Stärkung der Arbeit der Justizvollzugsschule beinhaltet (vgl. ebd. S. 209ff). So solle etwa der Justizvollzugsschule durch Erweiterung ihrer Kompetenzen u. a. die Verantwortung für die gesamte Ausbildung übertragen werden (vgl. ebd. S. 211). Außerdem wäre es hilfreich für die Glaubwürdigkeit der Ausbildung, wenn die Schule „die Federführung auch in erweiterten Bereichen der Fort- und Weiterbildung sowie Betreuung aller Vollzugsbediensteten übernehmen [würde] “ (ebd. S. 212).
Bis hierhin dürfte deutlich geworden sein, daß die Ausbildung des AVD in NRW, wenn überhaupt, dann nur marginal in der Lage ist, die motivierten und engagierten Bediensteten auszubilden, die ein dem Resozialisierungsgedanken verpflichteter Strafvollzug benötigt. Das Handeln und somit der Einfluß ‘frustrierter Praktiker’ im Vollzugsalltag spricht scheinbar eine deutlichere Sprache, als daß die Widersprüchlichkeiten allein durch die theoretische Ausbildung handhabbarer werden würden.
Ob eine Verlagerung der gesamten Ausbildung in die Verantwortung der Justizvollzugsschule alleine die gewünschten Veränderungen erzielen kann, darf bezweifelt werden. Da die Ursachen der oben aufgezeigten Mißstände und Probleme mehrheitlich struktureller Art sind (vgl. WALTER 1991, S. 194), wird eine Zusammenlegung der Ausbildung ohne weiteres kaum erfolgversprechend sein. Vielleicht, so kann man vermuten, verzögert eine zentralisierte Ausbildung auch nur das vielzitierte ‘Theorie-Praxis-Gefälle’ bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Schülerinnen und Schüler endgültig in die Berufswirklichkeit entlassen werden. Es scheint wenig dafür zu sprechen, daß der ‘Praxis-Schock’ bzw. das Transferproblem dadurch vermieden werden könnte. Interessanter ist hingegen RASCHES Vorschlag, daß die Justizvollzugsschule Einfluß- und Steuerungsmöglichkeiten bei der Fort- und Weiterbildung sämtlicher Bediensteter des Strafvollzugs erhalten solle.
Ungeachtet dessen, wie diese Forderung organisatorisch oder rechtlich zu realisieren wäre, spricht einiges für den Gedanken, einer Vernetzung von Aus- und Weiterbildung des AVD. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Diskrepanz, birgt ein pädagogisch initiierter Austausch zwischen ‘altgedienten‘ Abteilungs-beamten - v.a. wenn sie mit der Praxisanleitung betraut sind - und Aspiranten meines Erachtens durchaus Möglichkeiten zu Synergieeffekten.
Eine Koordination der Aus- und Weiterbildung könnte sowohl dazu dienen, aktuellen Problemen gezielter zu begegnen als auch die Bediensteten zu erreichen, die oben als ‘frustrierte Praktiker’ bezeichnet wurden. Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung, entsprechende Koordination und Kontinuität vorausgesetzt, könnten einen sinnvollen und gewinnbringenden Beitrag zur Verknüpfung von Theorie und Praxis für nachfolgende AVD-Generationen leisten. Gleichwohl ist eine solche Kooperation bzw. Koordination, wie sie RASCHE fordert, bislang nicht Realität. Daher soll nachfolgend der Blick auf die bestehende Fort- und Weiterbildungssituation des allgemeinen Vollzugsdienstes in NRW gerichtet werden.
2.4.2 Weiterbildung des AVD am Beispiel der Justizakademie Recklinghausen
Die zentrale Fortbildungsstätte für den gesamten Justizbereich des Landes Nordrhein-Westfalen ist die Justizakademie in Recklinghausen[18]. Sie ist die maßgebliche Weiterbildungseinrichtung für die mehr als 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Berufsgruppen und Hierarchieebenen des Strafvollzuges. Dort werden allein für den Strafvollzug jährlich über 100 Tagungen mit insgesamt nahezu 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt (vgl. MINISTERIUM FÜR INNERES UND JUSTIZ / NRW 1997, S. 19).
Die Veranstaltungen des Jahres 1999 für Bedienstete des Strafvollzugs werden in sieben Themenblöcke bzw. nach Zielgruppen unterteilt, nämlich:
1. Personalführung und Organisation,
2. Allgemeine und besondere Probleme des Berufsalltages,
3. Besondere Vollzugsformen und Aufgabenstellungen,
4. Fachgruppen und Funktionsbereiche,
5. Organisationsentwicklung und Organisationsberatung,
6. Weiterbildungsveranstaltungen der Fachschule für Rechtspflege und
7. Ausbilderseminare (vgl. MINISTERIUM FÜR INNERES UND JUSTIZ / NRW 1998b, S. 10-16)
Ein Teil des gesamten Angebotsspektrums für den Strafvollzug richtet sich explizit an Bedienstete des gehobenen und höheren Dienst sowie an besondere Funktionsträger. Da hier die Berufsgruppe des allgemeinen Vollzugsdienstes im Vordergrund stehen soll, werden im folgenden diese Angebote nicht vertiefend betrachtet. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß eine große Zahl der Seminare vertikal strukturiert ist. D. h. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus unterschiedlichen Funktions- und Hierarchieebenen erörtern als Team Fragestellungen, die ihr gemeinsames Arbeitsfeld betreffen. Da detaillierte, quantitative Angaben zur Belegung der Seminare durch den AVD leider nicht vorliegen, konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen schwerpunktmäßig auf die Veranstaltungen, die den AVD direkt ansprechen.
Die mit 30 bzw. 15 Veranstaltungen im Jahre 1999 meisten Seminare für den AVD finden in den Themenbereichen ‘Allgemeine und besondere Probleme des Berufs-alltages’ respektive ‘Besondere Vollzugsformen und Aufgabenstellungen’ statt. Beide Themenbereiche konzentrieren sich auf „Akzente und Problemlagen der gesellschaftlichen Entwicklung [, die im Strafvollzug; Anm. d. Verf.] in brenn-glasartiger Verdichtung in Erscheinung treten“ (vgl. ebd. S. 35).
In der Zusammenschau des Angebotes der ersten Bereiches wird deutlich, daß dort zu den vier folgenden Themen gearbeitet wird:
-Umgang mit besonderen und z. T. problematischen Gefangenengruppen (Drogenabhängige, Ausländer[19], Schwerkriminelle, Abschiebehäftlinge),
-Rollenverständnis und Kommunikation am Arbeitsplatz,
-Möglichkeiten der Streßreduzierung im Berufsalltag und
-Erörterung besonderer Sicherheitsfragen (vgl. ebd. S. 36ff).
Die Seminarangebote des Themenblocks ‘Besondere Vollzugsformen und Aufgabenstellungen’ sind hauptsächlich auf Fragestellungen ausgerichtet, die sich aus spezifischen Anforderungen des Resozialisierungs- bzw. Behandlungsvollzugs ergeben. Zusammenfassend werden in den Seminaren dieses Blocks folgende Schwerpunkte thematisiert:
-spezielle Behandlungs- und Betreuungsansätze (Soziales Training, Arbeits-therapie, Freizeitgestaltung),
-Verbesserung der justizinternen Zusammenarbeit und Kommunikation (z. B. zwischen AVD und sozialpädagogischen Fachdiensten) und
-jugendliche Inhaftierte (vgl. ebd. S. 46ff).
Anhand der überblickartig dargestellten Seminarschwerpunkte für den AVD läßt sich erkennen, daß das Angebot der Justizakademie durchaus auch jene Problemkreise thematisiert, die bereits unter 2.3.1 und 2.3.2 herausgearbeitet worden sind. Es ist anzunehmen, daß die angebotenen Seminare sowohl zu einer wirksamen Entlastung des AVD als auch zur Umsetzung des Behandlungsgedankens beitragen können – vorausgesetzt, sie werden ‘flächendeckend’ durchgeführt. So unterstreicht z. B. eine Untersuchung an der Justizakademie über wiederholt durchgeführte Seminare zum Streßabbau die Notwendigkeit und v. a. den Erfolg dieser Maßnahmen für den AVD (vgl. RASCHE/WIECZOREK 1996, S. 205-208). Darüber hinaus ist auf die bedeutende psychohygenische Funktion von Fortbildungsmaßnahmen im allgemeinen zu verweisen, die sich allein schon darin begründet, daß die Bediensteten überhaupt Zuwendung für ihre Belange erfahren (vgl. BRUGHEIM/OSTHEIMER 1994, S. 208).
Inwiefern der Fortbildung des AVD von institutioneller Seite Bedeutung beigemessen wird und wie sich die Teilhabe an Fort- und Weiterbildung tatsächlich gestaltet, kann hier nur indirekt erschlossen werden. Denn zum einen gibt es keine speziellen rechtlichen Grundlagen für die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen (vgl. BURGHEIM 1997, S. 140f), zum anderen fehlt nach Kenntnis des Verfassers bislang aussagekräftiges quantitatives Datenmaterial. Vor der idealtypischen Folie eines Fortbildungsszenarios, wie es BÖHM vorschlägt, soll nachfolgend versucht werden, die tatsächliche Weiterbildungsituation des AVD zu erhellen.
BÖHM plädiert dafür, daß aus gegebenem Anlaß pro Bediensteter und Monat ein Fortbildungstag in den Dienstplan einzurechnen sei. Dies würde beispielsweise bei 100 Bediensteten bedeuten, daß der Anstalt 1.200 Arbeitstage fehlen würden, die nur durch Schaffung von 6 zusätzlichen Stellen abgedeckt werden könnten. Dem zwangsläufig zu erwartenden Kostenargument hält BÖHM entgegen, daß durch ein solches Vorgehen der Dienstherr motiviertere und qualifiziertere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erhielte. Andererseits - unter betriebswirtschaftlichen Aspekten - wäre gleichzeitig zu erwarten, daß die Zahl derer abnehmen würde, die frühzeitig dienstunfähig werden und dadurch ähnlich hohe Kosten verursachen. (vgl. BÖHM 1995, S. 38f)
Trotz der nachvollziehbaren Argumentation von BÖHM scheint die Fortbildungswirklichkeit in NRW anders auszusehen. Geht man allein von den oben genannten Zahlen aus (insgesamt über 8.000 Bedienstete arbeiten im Strafvollzug des Landes NRW von denen jährlich knapp 2000 die Justizakademie besuchen), läßt sich leicht errechnen, daß jede Mitarbeiterin / jeder Mitarbeiter nur durchschnittlich alle vier Jahre (!) an einer Fortbildungsmaßnahme teilnimmt[20]. Dieses Beispiel bezieht sich auf alle im Strafvollzug Beschäftigten. Die Vermutung, daß der AVD evtl. besonders häufig an Fortbildungsmaßnahmen teil hat, erscheint - von besonders ‘Bildungsengagierten’ einmal abgesehen - eher zweifelhaft. Denn es ist nicht zu erkennen, warum gerade Bedienstete des AVD prozentual öfter an Fortbildungs-veranstaltungen teilnehmen sollten als andere Berufsgruppen des Strafvollzugs. Drei Gründe sprechen dafür, daß eher das Gegenteil der Fall sein wird:
-Erstens ist bekannt, daß es mehrheitlich Führungskräfte bzw. hierarchisch exponierte Berufsgruppen sind, die an Weiterbildung teilhaben.
-Zweitens sind es v. a. die Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes, die rund um die Uhr an jedem Tag des Jahres die Funktionsfähigkeit der Justizvollzugsanstalten gewährleisten (müssen). Angesichts der chronischen Personalengpässe und des hohen Krankenstandes im allgemeinen Vollzugsdienst erscheint eine Freistellung gerade dieser Berufsgruppe für Bildungsmaßnahmen problematisch zu sein.
-Und drittens wird eine Teilhabe des AVD an Weiterbildungsmaßnahmen erschwert bzw. einschränkt durch die ablehnende Haltung von Verantwortlichen des Strafvollzuges, die Weiterbildung häufig „zu ‘organisationsfeindlichen’ Sabotageakten exzentrischer Psychologen oder Pädagogen [degradieren] , die kein Verständnis für die Schwierigkeiten einer ordnungsgemäßen Dienstplangestaltung haben“ (BURGHEIM 1997, S. 141).
2.5 Zusammenfassende Betrachtung
Die Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes sind aufgrund ihrer spezifischen Berufsanforderungen von den bestehenden Strukturschwächen des Strafvollzugs besonders betroffen. Sie haben eine anspruchsvolle und belastende Aufgabe, für die sie nicht genügend ausgerüstet sind. Das Angebot der Justizakademie für den AVD legt nahe, daß man sich auf Seiten der Weiterbildungsplaner der aktuellen Problemfelder und Mißstände zumindest bewußt ist. Auch wenn die Rahmen-bedingungen des Strafvollzugs (noch) nicht optimal gestaltet sind, scheinen besonders die flexiblen Instrumente der Fort- und Weiterbildung geeignet, situativ zu reagieren, um Motivation und Engagement der Bediensteten positiv zu beeinflussen.
Dennoch konnte auch gezeigt werden, daß konstruktiven Veränderungsbemühungen durch Aus- und Fortbildung neben sachlichen Zwängen ein z. T. ausgeprägtes institutionsimmanentes Beharrungsvermögen entgegensteht und daher notwendige Weiterbildungsmaßnahmen für den AVD nicht ausreichend gefördert werden. Will man den vielseitigen und sich wandelnden Anforderungen des Strafvollzugs gerecht werden und berücksichtigt man ferner die Fürsorgepflicht jedes Dienstherrn für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erscheinen intensive und nachhaltige Bemühungen um die Aus- und Fortbildung besonders des allgemeinen Vollzugsdienstes für die Zukunft angezeigt zu sein.
Bezogen auf den hier interessierenden Bereich der interkulturellen Fortbildung ist zu sagen, daß - trotz der hohen Zahl ausländischer Inhaftierter und der damit verbundenen offenkundigen Probleme - von Seiten der für die Aus- und Fortbildung des AVD zuständigen Stellen bislang kaum etwas getan wurde. Inwiefern sich ‘interkulturelles Lernen‘ in anderen Bildungsbereichen etabliert hat, soll u. a. im nachfolgenden Kapitel erörtertet werden.
3. Interkulturelles Lernen in einer multikulturellen Gesellschaft
In diesem Kapitel wird zu zeigen sein, inwieweit die Pädagogik sich der sozialen Tatsache einer ‘multikulturellen Gesellschaft‘ annimmt. Dabei konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen vor allem auf den Bereich des Erwachsenenlernens unter interkulturellem Vorzeichen. Eine sorgfältige Erörterung dieses Spezial-bereichs interkulturellen Lernens ist notwendig, um die konzeptionelle Arbeit im Rahmen des Forschungsprojektes ‚Möglichkeiten interkultureller Weiterbildung im Strafvollzug‘ aus der erziehungswissenschaftlichen Perspektive einordnen zu können. Da es sich bei dem UNIvations-Projekt gleichzeitig um eine berufsbezogene Fortbildung handelt, soll ein besonders Augenmerk auf interkulturelles Lernen in der beruflichen Bildung gelegt werden.
Bevor näher auf die Bedeutung interkulturellen Lernens in der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung eingegangen wird (vgl. 3.3), sollen zunächst unter 3.1 aktuelle Hintergrundinformationen dargelegt werden, die den gesell-schaftlichen und kulturellen Wandel in Deutschland – im Hinblick auf Migrations-prozesse - maßgeblich kennzeichnen. Vor dem Hintergrund des Migrations-phänomens und der Entstehung eines multikulturellen Gemeinwesens entwickelten sich die Ansätze interkultureller Bildungsarbeit. Auf den Gang dieser Entwicklung und die Zielsetzungen interkulturellen Lernens soll unter 3.3 eingegangen werden. Abschließend bietet 3.4 dem Leser eine zusammenfassende Betrachtung der wesentlichen Ergebnisse dieses Kapitels.
3.1 Daten und Fakten zu relevanten Migrationsbewegungen
Migrationsprozesse sind weder eine neues Phänomen, noch stellen sie den historischen Ausnahmefall dar[21]. So können viele Länder (auch Deutschland) auf unterschiedlich veranlasste Migrationsbewegungen zurückblicken. Unter internationalen Gesichtspunkten können mit MÜNZ sechs verschiede Migrationstypen unterschieden werden, von denen drei auf die spezifische Situation der Bundesrepublik Deutschland übertragbar sind (vgl. MÜNZ 1997, S. 36ff). Prägend für das mulitikulturelle Gesellschaftsbild der heutigen Bundesrepublik waren und sind vor allem die drei folgenden Migrationstypen: ‘Arbeitsmigration’, ‘Flüchtlingsmigration’ und ‘Aussiedlermigration’[22].
3.1.1 ‘Zu Gast auf dem deutschen Arbeitsmarkt’: Arbeitsmigration
Als eine insgesamt für Westeuropa typische Migrationserscheinung gilt die Arbeitsmigration, die ihren Anfang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm (vgl. MÜNZ 1997, S. 39f). Auf Deutschland bezogen waren es v. a. Polen und Masuren aus den strukturell schwachen Ostprovinzen des Kaiserreiches, die sich v. a. im Ruhrgebiet niederließen und dort als sog. Ruhrpolen erheblichen Anteil am Aufbau dieses Industrieraumes hatten[23]. Einen weitaus nachhaltigeren Eindruck als Arbeitsmigranten des 19. Jahrhunderts hinterließen die Einwanderungswellen ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter seit den 50er Jahren dieses Jahrhunderts.
Die wirtschaftliche Expansion der jungen Bundesrepublik führte zu einer steigenden Nachfrage an Arbeitskräften, die der heimische Markt nicht decken konnte[24]. Als Konsequenz wurde die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zwischen Bundesregierung, Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften verabredet. Infolgedessen wurden in den Jahren von 1955 bis 1968 mit den Regierungen der Mittelmeeranrainer Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien sog. Anwerbeabkommen geschlossen[25]. Diese Anwerbevereinbarungen regelten u. a. die Auswahl und den Einsatz der Arbeitskräfte sowie die Aufenthaltsdauer und die anschließende Rückführung der angeworbenen Frauen und Männer in ihre Heimatländer. Mit dem eigentlich vertraglich befristeten Aufenthalt sollte ein dauerhafter Zuzug der ‘Gastarbeiter’ verhindert werden, diese Idee war jedoch nicht umzusetzen[26]. Auf Druck der deutschen Industrie wurde das Rotationsmodell aufgeweicht, demnach an die Stelle der Zurückkehrenden wieder neue ausländische Arbeitskräfte nachrücken sollten. Durch eine längere Verweildauer beabsichtigten die Industrieunternehmen, kostspielige Anlern- bzw. Einarbeitungszeit der Arbeitsmigranten möglichst zu reduzieren (SCHAD 1997, 11f). Durch eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1969 wurde der Arbeitsaufenthalt schließlich von der wirtschaftlichen Lage und Entwicklung abhängig gemacht, was in Zeiten ökonomischer Prosperität die geplante Rückführung der ‘Gastarbeiter‘ nahezu ausschloß (vgl. AUERNHEIMER 1995, S. 45).
Die Anzahl der ausländischen Arbeitnehmer stieg seit Mitte der 60er Jahre sprunghaft an, bereits 1968 wurde die Ein-Millionen-Grenze überschritten. Als Deutschland 1973 im Schatten der Weltwirtschaftskrise mit einem Anwerbestopp den weiteren Zuzug begrenzen wollte, lebten bereits ca. 4 Millionen Nicht-Deutsche in der BRD, von denen 2,6 Millionen erwerbstätig waren. Der Anwerbestopp führte jedoch entgegen seiner Intention dazu, daß die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen verstärkt den Nachzug ihrer Familien organisierten. Sicherlich auch aus Angst, bei einer evtl. Ausreise ins Heimatland nicht wieder nach Deutschland zurückkehren zu können. Dies traf vor allem die Menschen aus sog. ‘Drittstaaten’ bzw. Nicht-EG-Staaten zu, denen die Freizügigkeitsregelungen der wachsenden Europäischen Gemeinschaft versagt blieben (vgl. MEHRLÄNDER/ SCHULTZE 1992, S. 11 ff).
Wirft man vor diesem Hintergrund einen Blick auf die heutige Bundesrepublik und die ausländische (Wohn-) Bevölkerung aus den ehemaligen Anwerbeländern, dann zeigt sich, daß es vor allem Menschen türkischer Nationalität sind, die in Deutschland eine ‘zweite Heimat’ gefunden haben. Am 31.12.1997 lebten offiziell insgesamt 4.678.700 Ausländerinnen und Ausländer aus den ehemaligen Anwerbe-staaten in Deutschland. Sie verteilen sich wie folgt[27]:
-2.049.100 aus der Türkei,
-754.300 aus der BR Jugoslawien,
-599.400 aus Italien,
-362.500 aus Griechenland,
-340.500 aus Bosnien-Herzegowina
-201.900 aus Kroatien;
-132.500 aus Spanien,
-130.800 aus Portugal,
-82.000 aus Marokko und
-25.700 aus Tunesien (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 1998, S. 66).
Ende 1973 lebten ca. 4 Millionen Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland, von denen ca. 65% einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Trifft für die 70er Jahre der Begriff des Arbeitsmigranten demnach noch zu, so hat sich das Bild in den folgenden Jahrzehnten deutlich verändert (vgl. auch 3.1.2). Ende 1996 waren insgesamt 7.314.046 Migrantinnen und Migranten registriert, von denen 2.077.682, das entspricht 28,4%, einer sozialversichungspflichtigen Tätigkeit nachgingen. Demnach hat sich der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter, gemessen an der Gesamtzahl der Migrantinnen und Migranten, mehr als halbiert[28]. (vgl. BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG 1998, S. 27, 45 u. 49) Von einer konjunkturellen Arbeitsmigration, wie sie in den 50er bis 70er Jahren anzutreffen war, kann heute demnach nicht mehr die Rede sein. Vielmehr entwickelte sich die temporäre Arbeitsmigration zu einer „strukturellen Minderheitenfrage“ (SCHLUTE 1995, S. 8).
Zusammenfassend können mit CASTLES drei Phasen der Arbeitsmigration unterschieden werden, nämlich:
1. die Phase der massenhaften Arbeitsmigration,
2. die Phase der Familienzusammenführung und
3. die Phase der Niederlassung und Herausbildung neuer ethnischer Minderheiten (vgl. CASTELS zit. n. AUERNHEIMER 1995, S. 44).
3.1.2 ‘Sturm auf die Festung Europa’: Flüchtlingsmigration
Kriege und Bürgerkriege, repressive gesellschaftliche Strukturen und Systeme totalitärer und autoritärer Natur, wirtschaftliche Probleme, Belastungen und Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen sowie ökologische Katastrophen veranlassen immer wieder Menschen dazu, aus ihrer Heimat zu fliehen[29]. Aufgrund der wirtschaftlichen Stärke und der rechtspolitischen Sicherheit der westeuropäischen Staaten wächst vor allem dort die Zahl der asylsuchenden Menschen. Wie stark die Fluchtbewegungen nach Europa zugenommen haben, zeigen die folgenden Zahlen: Einen Antrag auf politisches Asyl in Westeuropa stellten 1983 lediglich 65.000 Personen. Bereits 1986 hatte sich die Zahl verdreifacht. Der Höhepunkt wurde 1992 erreicht, als 693.000 Menschen politisches Asyl beantragten, zwei Drittel davon allein in Deutschland. (vgl. MÜNZ 1997, S. 42)
Welche quantitative Dimension Flüchtlingsbewegungen speziell für Deutschland erhalten, wird anschaulicher, wenn nicht nur die Zahl derjenigen, die in das Asylverfahren aufgenommen wurden (vgl. Art. 16, 16a GG), berücksichtigt werden. Die absoluten Flüchtlingszahlen sind um ein Vielfaches höher. Zum vertiefenden Verständnis bietet es sich an, zunächst einen differenzierten Blick auf die Flüchtlingsgruppen zu werfen, die das deutsche Ausländer- und Asylrecht unterscheidet.
-Asylbewerber sind Personen, über deren Asylantrag noch nicht rechtskräftig entschieden wurde. Sie unterliegen je nach Stand des Verfahrens unterschiedlichen Bedingungen. Die Möglichkeiten zur eigenen Lebensgestaltung sind stark eingeschränkt, solange sie in einer zentralen Aufnahmestelle untergebracht sind (z. B. durch das Verbot einer Erwerbsarbeit nachzugehen).
-Asylberechtigte wurden nach Artikel 16 bzw. 16a GG als politisch Verfolgte anerkannt. Sie haben den Nachweis erbracht, daß sie von gezielten Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Organe im gesamten Gebiet ihres Herkunftslandes betroffen sind. Sie besitzen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, sie können einer Erwerbsarbeit nachgehen oder sich eine eigene Existenz aufbauen.
-Konventionsflüchtlinge sind Personen, die zwar nach den Kriterien des deutschen Asylrechtes nicht anerkannt sind, jedoch aufgrund der Genfer Flüchtlingskonventionen vom 28.7.1954 Abschiebeschutz genießen und geduldet werden.
-Kontingentflüchtlinge erhalten im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen durch eine Übernahmeerklärung der Bundesregierung dauerhaftes Bleiberecht (vgl. Asylberechtigte), ohne daß sie sich zuvor einem Anerkennungsverfahren unterziehen mußten.
-De-facto-Flüchtlinge sind derzeit die größte Flüchtlingsgruppe. Diese Personen haben entweder keinen Asylantrag gestellt oder ihr Asylantrag ist abgelehnt worden. Ihre Abschiebung wurde vorübergehend ausgesetzt, weil im Herkunftsland eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht. Zu dieser Gruppe gehören maßgeblich Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge.
-Heimatlose Ausländer und Ausländerinnen werden ebenfalls unter die Kategorie Flüchtlinge gefaßt. Dabei handelt es sich vor allem um Personen, die während des Zweiten Weltkrieges verschleppt wurden sowie um Nachkommen dieser Personen. (vgl. BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG 1998, S. 17-18, AUERNHEIMER 1995, S. 51-55)
Die Gesamtzahl der Flüchtlinge - mit und ohne Rechtsstatus - in der Bundesrepublik Deutschland stieg von 700.000 im Jahre 1987 auf rund 1,9 Millionen im Jahre 1993 (vgl. BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG 1998, S. 9 u. 26). Seit 1994 nehmen die Flüchtlingszahlen in der BRD ab, was ursächlich mit der Grundgesetzänderung vom 26. Mai 1993 zusammenhängt. Seitdem hat, wer über einen sog. ‘sicheren Drittstaat’ oder aus einem ‘Nichtverfolgerland’ einreist, kaum mehr Aussicht auf Asyl, sondern wird (bestenfalls) vorübergehend geduldet[30]. Trotz der Gesetzesänderung wurden 1994 immerhin noch 1,7 Millionen und in den Jahren 1995 und 1996 1,6 Millionen Flüchtlinge in Deutschland gezählt (vgl. ebd.). Aufgrund sog. ‘Pull-Faktoren’, d. h. aufgrund der geo-politischen Lage und der wirtschaftlichen Anziehungskraft der Bundesrepublik, ist auch zukünftig mit hohen - legalen wie illegalen - Flüchtlingsströmen zu rechnen.
3.1.3 ‘Aus historischer Verantwortung’: Aussiedlermigration
Die dritte Gruppe von Einwanderern, die das multikulturelle Bild der Bundesrepublik maßgeblich prägen, bilden die Aussiedler und Aussiedlerinnen aus den osteuropäischen Staaten. Aussiedler sind allerdings keine Ausländer, sondern nach den Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 116 Abs. 1 GG) Deutsche[31]. Dabei wird zum einen auf das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 abgestellt, das die ehemaligen deutschen Ostprovinzen Schlesien, Ostbrandenburg, Pommern und Ostpreußen mit einschließt. Migranten aus diesen Gebieten respektive ihre Nachkommen haben de jure automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Zum anderen zählen zur Gruppe der Aussiedler auch diejenigen, die ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen deutsche Volkszugehörige sind. Die deutsche Volkszugehörigkeit besitzt, wer „sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“ (MEHRLÄNDER/SCHULTZE 1992, S. 20). Volksdeutsche im obigen Sinne sind im wesentlichen Nachkommen der Deutschen, die im 18. und 19. Jahrhundert v. a. ins zaristische Rußland bzw. nach Rumänien ausgewandert sind (z. B. die sog. ‘Wolgadeutschen’ bzw. ‘Siebenbürger Sachsens’).
Zwischen 1950 und 1997 sind insgesamt ca. 3,8 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt, über 2,5 Millionen davon alleine seit 1987. Der Höhepunkt der Aussiedlermigration war 1990 erreicht als insgesamt 307.036 Zuwanderungen gezählt wurden. Kamen in den 70er und 80er Jahren noch die meisten Aussiedler aus Polen und Rumänien, änderte sich die Situation als auch die ehemalige UdSSR die Ausreisemodalitäten erheblich erleichterte. Infolgedessen überstieg 1990 die Zahl der Aussiedler aus der vormaligen Sowjetunion erstmals die Zahl der Aussiedler aus allen anderen osteuropäischen Ländern. Seit 1993 stammen die Aussiedler fast ausschließlich aus den heutigen G.U.S.-Staaten. (vgl. DIETZ/ROLL 1998, S. 18f)
Bis 1987 scheint es, gemessen an Zeitungsberichten und der öffentlichen Diskussion, keine großen Integrationsprobleme mit den aus dem Osten eintreffenden ‘Deutschen’ gegeben zu haben. Als jedoch seit Ende der 80er Jahre die Zahl der Aussiedler drastisch anstieg, änderte sich die Einstellung der Bevölkerung, da sich v. a. Probleme in bezug auf Arbeitsplatz und Wohnung mehrten. (vgl. MEHRLÄNDER/ SCHULTZE 1992, S. 21) In diesem Zusammenhang sah sich die Bundesregierung zum Handeln veranlaßt: das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1.1.1993 in Kraft trat, begrenzte die jährliche Zuwanderung auf ein Kontingent von höchstens 225.000 Personen.
Die festgelegte Kontingentierung der Aussiedlerzuwanderung wurde bis Ende 1995 ausgeschöpft. In den Jahren 1996 und 1997 reduzierte sich die Zahl der Zuwanderung um 18% bzw. um 22%. Verantwortlich dafür ist v. a. die im Mai 1996 eingeführte Sprachprüfung, der sich die Migrationswilligen im jeweiligen Ausreiseland unterziehen müssen. Aufgrund der nur noch rudimentär ausgeprägten deutschen Sprachkenntnisse bestehen ca. 30% den Sprachtest nicht und verlieren damit das Anrecht auf Zuwanderung. (vgl. DIETZ/ROLL 1998, S. 20) Aussiedler kommen in den meisten Fällen im Familienverband in die Bundesrepublik. Da die Sprachprüfung jedoch nicht für alle Familienangehörigen gleich verbindlich ist, sondern maßgeblich für den Antragsteller gilt (vgl. §§ 4-8 BVFG), haben viele Zuwanderer kaum deutsche Sprachkenntnisse zum Zeitpunkt ihrer Einreise, was als grundsätzliche Integrationserschwernis verstanden werden kann.
Im Vergleich der drei Migrantengruppen können die Aussiedler und Aussiedlerinnen als privilegierte Gruppe angesehen werden. Aufgrund ihres Rechtsstatus’ kommen sie automatisch in den Genuß weitreichender Eingliederungshilfen, die Arbeitsmigranten und Flüchtlingen versagt bleiben[32].. Dennoch kann gesagt werden, daß dauerhafte und tragfähige Orientierungsmöglichkeiten für ein Leben in der BRD nur selten aus der eigenen Vergangenheit der Aussiedler übernommen werden können[33]. Für eine gelungene Integration müssen sie, ähnlich wie bei anderen Migranten auch, erst entwickelt bzw. erlernt werden. Die deutsche Abstammung oder ein deutscher Paß wird diesen Prozeß nicht ersetzen können.
Zu beobachten ist ferner, daß die unterschiedlichen Rechtsstellungen innerhalb der Migrantengruppen zu einer Hierarchiesierung führt, die nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis der einzelnen Gruppen untereinander bleibt. Ein erschreckendes Phänomen in diesem Zusammenhang sind die oft bandenkriegsähnlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Jugendlichen und Aussiedler-jugendlichen[34].
3.2 Entwicklung und Zielsetzung interkulturellen Lernens
Bezogen auf die Entwicklung einer durch Multikulturalität geprägten Pädagogik in Deutschland haben ebenfalls vornehmlich die oben genannten Migrationstypen entscheidenden Einfluß ausgeübt (AUERNHEIMER 1995, S. 38-83; SCHULTE 1995, S. 8; HAMBURGER 1992, S. 37-40; SCHNEIDER-WOHLFAHRT et. al. 1990, S. 39). Interkulturelle Bildungsarbeit kann vor diesem Hintergrund allgemein als eine pädagogische Reaktion auf eine sich verändernde Gesellschaft verstanden werden, in der in zunehmendem Maße Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und ethnischer Zugehörigkeiten dauerhaft zusammenleben (vgl. SCHULTE 1995, S. 13). Während mit dem Attribut ‘interkulturell’ in dem hier vorliegenden Zusammenhang die Gesamtheit der programmatisch-pädagogischen Ziele und Konzepte gemeint ist, kennzeichnet ‘mulitkulturell’ in einem eher deskriptiven Sinne die durch Migrationprozesse hervorgerufene Koexistenz verschiedener Kulturen in einem Gemeinwesen.
Weder in der Geschichte der Pädagogik noch in der Entwicklung des modernen Bildungswesens ist eine differenzierte Tradition des interkulturellen Lernens feststellbar. Erst mit dem Entstehen der multikulturellen Gesellschaft wurden die empirischen Voraussetzungen einer diesbezüglichen pädagogischen Reflexion geschaffen (vgl. HAMBURGER 1992, S. 36f). Im Rahmen des oben dargestellten Migrationskontextes haben sich in den vergangenen fast drei Jahrzehnten unterschiedliche Schwerpunkte pädagogischer Reflexion herausgebildet. Ausgehend von der Schulpädagogik, die sich als erster Bildungsbereich mit den Auswirkungen der Arbeitsmigration auseinandersetzte, soll nachfolgend die Entwicklung der wesentlichen Zielsetzungen bzw. Prinzipien interkutureller Bildungsbemühungen erörtert werden.
3.2.1 Von der ‘Ausländerpädagogik’ zum ‘interkulturellen Lernen’
Im Zuge der Familienzusammenführung und der sich abzeichnenden längeren Verweildauer von Gastarbeiterfamilien wurde seit Beginn der 70er Jahre verstärkt die Frage diskutiert, wie pädagogisch auf diese veränderte Situation zu reagieren wäre. Neben Einrichtungen der Erwachsenen- und außerschulischen Jugendbildung war es vor allem die Institution Schule, die aufgerufen wurde zu handeln. In diesem Zusammenhang ist zunächst die ‘Ausländerpädagogik’ entstanden, die sich schwerpunktmäßig auf ausländische Kinder und deren Lehrkräfte konzentrierte. Zwar reagierten auch die Volkshochschulen auf die veränderte Lage, indem sie (fast ausschließlich) Deutschkurse für erwachsene Ausländerinnen und Ausländer anboten (vgl. SCHNEIDER-WOHLFAHRT et al. 1990, S. 53), dennoch blieb die Ausländerpädagogik weitgehend auf das Praxisfeld der Schule beschränkt. Sie verstand sich dort als „kompensatorische Erziehung und Assimilationspädagogik“ (NIKE 1986 zit. n. AUERNHEIMER 1995, S. 5), die auf Sprach- und Verhaltensdefizite fokussiert war und durch deren Behebung einen reibungslosen Schulbetrieb zu erreichen suchte (vgl. HAMBURGER 1992, S. 46). Mit der intendierten schulischen Anpassung waren nicht automatisch auch langfristige Integrationsabsichten verbunden, vordringlich war nach damaligem Verständnis vielmehr die „Integration auf Zeit“ (STEFANNSKI 1994 zit. n. SCHAD 1997, S. 12). Es galt - unter anderem durch muttersprachlichen Ergänzungsunterricht - die kulturelle Identität der Migrantenkinder zu bewahren, um so ihre Rückkehrbereitschaft und Rückkehrfähigkeit zu erhalten (vgl. AUERNHEIMER 1995, S. 7). Konsequenterweise schloß die kompensationsorientierte Ausländerpädagogik inländische Kinder weitgehend aus dem Adressatenkreis der pädagogischen Bemühungen aus. Die kulturelle Kreativität einer bikulturellen Sozialisation und das reflexive Veränderungspotential der Migranten wurde nicht wahrgenommen. So trug sich die Ausländerpädagogik das Stigma einer ‘Spezial- oder Sonderpädagogik’ allein für Ausländer ein (vgl. NIEKRAWITZ 1990, S. 23).
An der Ausländerpädagogik wurde Anfang der 80er Jahre Kritik laut. Wesentlicher Grund für das Überdenken der ausländerpädgogischen Perspektive war der Umstand, daß trotz entsprechender Bemühungen der Bundesregierung, die Bereitschaft der Migrantenfamilien zur Rückkehr in ihre Heimatländer ausblieb. „Der Übergang von der ‘Gastarbeiterbeschäftigung zur ‘Einwanderung’ markiert den entscheidenden Problemwandel“ (HAMBURGER 1983, S. 276), der in der pädagogischen Fachdiskussion nicht unberücksichtigt blieb. Eine nur an Sprach- und Sozialisationsdefiziten ausgerichtete Pädagogik ausschließlich für Ausländerkinder galt als zu einseitig und nicht mehr angemessen für die sich wandelnde soziale Wirklichkeit (vgl. SCHULTE 1995, S. 13). Zunehmend wurden auch die spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Migranten sowie ihre religiöse und kulturelle Identität als gegenseitig befruchtendes Element in die pädagogischen Überlegungen mit einbezogen.
Bedeutend für eine nunmehr interkulturell ausgerichtete Diskussion war die Abkehr vom statischen und ideologisch überhöhten Kulturbegriff der Ausländerpädagogik (vgl. SCHNEIDER-WOHLFAHRT et al. 1990, S. 25 u. 53f). Ein dynamisches und reflexives Kulturverständnis und die damit verbundene - mehr oder minder - wertneutrale pädagogische Annäherung an interkulturelle Fragestellungen sollte die Grundlage interkulturellen Lernens bilden. Mit BENDER kann die „Initiierung einer Metakommunikation über kulturelle Werte und Normen, die das eigene Leben und Erleben beeinflussen“ (BENDER 1995, S. 20) als wichtiger Ansatz interkulturellen Lernens festgehalten werden.
[...]
[1] vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 1998, S. 66
[2] vgl. SCHMALZ-JACOBSEN/HANSEN 1995
[3] vgl. SCHAD 1997, S. 17
[4] Das Strafvollzugsgesetz regelt hauptsächlich den Erwachsenenvollzug; es trifft nur in Teilen auf andere Haftformen wie Untersuchungshaft und Jugendvollzug zu. Für diese Haftformen fehlen bis heute eigenständige und detaillierte Regelungen. Die Untersuchungshaft oder Rechtsmittelhaft, die die (zeitlich beschränkte) Unterbringung noch nicht rechtskräftig Verurteilter bedeutet, wird schwerpunktmäßig durch die Strafprozeßordnung (StPO) geregelt (vgl. §§ 112f StPO). Die Freiheitsstrafe des Jugendrechts wird im Jugendgerichtsgesetz (JGG) geregelt. Abweichend vom Erwachsenenstrafrecht sind bei der Bemessung und Verhängung von Jugendstrafen besondere erzieherische Gesichtspunkte zu berücksichtigen (vgl. §§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 2 JGG).
[5] Hinweis zum Quellennachweis und zur Zitation: Sofern die Literaturangaben in einem Satz stehen, d. h. vor dem Punkt, beziehen sie sich auf den Satzinhalt. Stehen sie hingegen nach einem Punkt, wird auf den Inhalt des vorangehenden (Sinn-)Abschnittes Bezug genommen.
[6] Etwaige Besonderheiten, Unterschiede oder spezielle Untersuchungsergebnisse, die sich aufgrund der Gestaltungsfreiheit der Bundesländer in Einzelbereichen des Vollzugs ergeben, werden für das Land Nordrhein-Westfalen entsprechend berücksichtigt.
[7] Der 16. März 1976 ist das Datum der Verkündung im Bundesgesetzblatt, in Kraft trat das StVollzG am 1.1.1977.
[8] Exponenten in der Diskussion um ein fortschrittliches Vollzugssystem waren u. a. die Rechts-gelehrten Franz von LISZT und Berthold FREUDENTHAL. 1905 schlug v. LISZT ein differenziertes und progressives Behandlungssystem für besserungsfähige Täter vor (vgl. LISZT 1905). Ein weiterer wichtiger Schritt zur Umsetzung eines Erziehungs- und Besserungsgedankens im Strafvollzug war dasvon FREUDENTHAL initiierte und 1911 in Wittlich eröffnete erste deutsche Jugendgefängnis (vgl. LAUBENTHAL 1998, S. 41).
[9] Die Entwicklung des Strafvollzugs in der ehemaligen DDR wurde von sozialistisch-ideologischen Grundsätzen geprägt und nahm daher einen anderen Gang. Auf den disziplinierenden Erziehungs gedanken des repressiv-strengen DDR-Vollzugs wird hier nicht näher eingegangen. Zur Vertiefung vgl. etwa BATH 1989 oder ARNOLD 1993.
[10] Unter rechtlichen Gesichtspunkten wurde eine Reduzierung spezifischer Angebote und Maßnahmen, die den Resozialisierungsvollzug kennzeichnen, nicht zuletzt dadurch ermöglicht, daß der Behandlungsbegriff im StVollzG eigentlich undefiniert bleibt. Die Paragraphen des StVollzG, die den Behandlungsgedanken aufgreifen, sind wenig präzise und legen kein detailliertes und gesetzlich verbindliches Behandlungskonzept fest. Der offene Behandlungsbegriff bleibt für seine Umsetzung somit letztlich weit auslegbar. Vor diesem Hintergrund begann in den 80er Jahren eine nicht unumstrittene Auslegungspraxis einiger Justizverwaltungen und Oberlandesgerichte, die dem eigentlichen Behandlungsgedanken eher abträglich war. So wurden den Inhaftierten z. B. Maßnahmen der allgemeinen Vollzugslockerung, Hafturlaub oder Verlegung in den offenen Vollzug versagt. (vgl. CALLIESS 1992, S. 28ff)
[11] Ohne daß die Studie explizit darauf hinweist, ist zu vermuten, daß kustodiale Tätigkeiten, die weit weniger komplex erscheinen als individuelle Behandlungsaufgaben, problemloser zu bewältigen sind und ihnen evtl. daher eher nachgegangen wird.
[12] Die nachfolgenden Gründe finden sich – zum Teil überschneidend - etwa bei: SCHULTE-ALTEDORNEBURG 1994, S. 222ff; ROTTHAUS 1994, S. 241ff; BÖHM 1995, S. 31ff; DOLDE 1995, S. 45ff; SCHWIND 1995, S. 216ff; MINISTERIUM FÜR INNERES UND JUSTIZ / NRW 1997, S. 1; LAUBENTHAL 1998, S. 106f.
[13] Im Hinblick auf das Arbeitsthema und den begrenzten Rahmen einer Diplomarbeit werden hier keine weiteren Überlegungen angestellt, warum - bezogen auf die Gesamtbevölkerung – über-proportional viele Ausländer inhaftiert sind. Einige Anhaltspunkte lassen sich jedoch aus den Daten und Fakten der Migrationsbewegungen entnehmen, die unter 3.1 bearbeitet werden.
[14] Das nachfolgende Datenmaterial wurde vom Ministerium für Inneres und Justiz des Landes NRW erhoben. Diese Angaben wurden nicht veröffentlicht, sondern sie sind dem Verfasser auf Anfrage vom Ministerium zugesandt worden und liegen als Schreiben vor.
[15] Der Vollständigkeit halber sollen auch Belegungszahlen der anderen am Projekt beteiligten JVAen genannt werden: Siegburg 30,3%, Willich I 27,0% und Willich II 23,1%.
[16] Eine Aufgliederung der Angehörigen nach den Staaten Ex-Jugoslawiens liegt nicht vor.
[17] Miteingeschlossen sind hier offensichtlich auch Migranten(kinder) mit einem deutschen Paß, da an anderer Stelle des Berichtes darauf hingewiesen wird, daß der Ausländeranteil im bundesdeutschen Strafvollzug von 16,1% im Jahre 1992 auf 24,5% im Jahre 1997 angestiegen ist (vgl. ebd.).
[18] Eingeschlossen sind hier neben den Beschäftigten des Strafvollzugs auch die Personalstäbe der unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten und der Staatsanwaltschaften des Landes NRW, d. h. die Justitz-akademie in Recklinghausen ist mit ihren Dependancen für die Fort- und Weiterbildung von insgesamt über 38.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuständig.
[19] Die im Programm für 1999 ausgewiesene Veranstaltung mit dem Thema ‘Ausländische Inhaftierte im Strafvollzug’ basiert auf dem Projekt ‘Möglichkeiten interkultureller Weiterbildung im Strafvollzug’, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Nach Kenntnisstand des Verfassers ist es die erste Veranstaltung dieser Art, die sich explizit und bedarfsorientiert mit der Problematik ausländischer Inhaftierter im Vollzug - speziell geplant für die Zielgruppe AVD - auseinandersetzt.
[20] Berücksichtigt man zusätzlich die Mehrfachteilnahme von besonders engagierten Bediensteten, so reduziert sich die durchschnittliche Teilnahmefrequenz noch einmal.
[21] Bereits die preußische Schulstatistik von 1871 verzeichnet einen Anteil von fremdsprachlichen Kindern in Elementarschulen von fast 13%. 1992 wurden an allgemeinbildenden Schulen in der BRD 12% Schülerinnen und Schüler gezählt, die keinen deutschen Paß besaßen. (vgl. HANSEN 1995, S. 439)
[22] Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen auch BRAUN/HILLEBRAND 1994, S. 21-120 oder MEHRLÄNDER/SCHULTZE 1992, S. 7-18.
[23] Ihre Zahl stieg im Ruhrgebiet innerhalb von 30 Jahren von ca. 40.000 Zuwanderern im Jahre 1880 auf über einen halbe Million an (vgl. SCHAD 1997, S. 16).
[24] Im Jahre 1960 lag die Zahl der offenen Stellen erstmals höher als die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen (vgl. MEHRLÄNDER/SCHUTZE 1992, S. 10). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß zu Beginn der ersten Anwerbevereinbarung mit Italien 1955 die Arbeitslosenstatistik fast eine Million (inländische) Arbeitslose verzeichnete. Arbeitsplätze mit niedrigen Anforderungen und hohen Belastungen konnten mit Deutschen nur schwer besetzt werden, für diese wurden besonders häufig ausländische Arbeitskräfte angeworben. (vgl. AUERNHEIMER 1995, S. 42ff)
[25] Verglichen mit Frankreich, England oder den Niederlanden konnte Deutschland nicht auf Arbeitskräfte aus Kolonialländern zurückgreifen.
[26] Sigmar MÜLLER, der von 1969-1973 Leiter des deutschen Verbindungsbüros der Bundesanstalt für Arbeit in Istanbul war und in dieser Funktion von UNIvation als ‘Zeitzeuge’ zum Pilotseminar eingeladen wurde (vgl. 8.3.1.3), berichtete, daß er während seiner vierjährigen Tätigkeit in der Türkei keinen Anwerbevertrag unterschrieben habe, der eine Gültigkeit von mehr als einem Jahr besessen hätte.
[27] Durch die Kriege in Ex-Jugoslawien und den damit verbundenen Flüchtlingsströmen sind die Zahlen der Mirgaten aus der BR Jugoslawien, aus Kroatien und aus Bosnien-Herzegowina in bezug auf die Arbeitsmigration nur bedingt aussagefähig.
[28] Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist die gesunkenen Nachfrage am bundesdeutschen Arbeitsmarkt im allgemeinen und an ungelernten bzw. wenig qualifizierten Arbeitskräften im besonderen. Dadurch wurden in zunehmendem Maße Ausländer vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen. 1997 hat die ausländerspezifische Arbeitslosenquote mit 20,4% den höchsten Stand seit 1980 erreicht. Auch war 1997 die Differenz zur Arbeitslosenquote der Deutschen, die mit 9,4% angegeben wird, so hoch wie nie zuvor. (vgl. BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG 1998, S. 27ff)
[29] Aktuelles und grausames Zeugnis für Flüchtlingsmigrationen – die auch die BRD nicht unberührt läßt - ist die brutale Vertreibung von hunderttausenden Kosovaren aus ihrer Heimat.
[30] Auf die Ambivalenz dieser Entscheidung kann hier nicht vertiefend eingegangen werden. Dennoch sei angemerkt, daß z. B. die Türkei als ‘sicherer Drittstaat’ gilt und Kurden, trotz der jahrelangen blutigen Auseinandersetzungen mit den türkischen Staatsorganen, in der Regel nicht als Asyl-berechtigte anerkannt werden.
[31] Aus diesem Grunde wird diese Migrantengruppe statistisch (so z. B. in der Arbeitslosen- oder Kriminalitätsstatistik) nicht differenzierter erfaßt.
[32] Beispielsweise sichert das Arbeitsförderungsgesetz Aussiedlern neben einem zur Zeit 6-monatigen Sprachkurs, der u. U. um drei Monate verlängert werden kann, auch spezielle Maßnahmen der beruflichen Ausbildung, Fortbildung und Umschulung zu. Zusätzlich erhalten Aussiedler und ihre Familien, sofern sie mindestens 150 Kalendertage im Herkunftsland gearbeitet haben, für den Zeitraum von 6 Monaten ein Eingliederungsgeld, das etwa der Arbeitslosenhilfe entspricht. Für Jugendliche und junge Erwachsenen im Alter von 14-27 Jahren finanziert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend z. B. Jugendgemeinschaftswerke als Betreuungs- und Beratungsdienste, Förderschulen und Förderderwohnheime, Tagesinternate sowie außerschulischen Nachhilfeunterricht. Aus dem sog. Garantiefond, finanziert aus Mitteln desselben Ministeriums, werden weitere Maßnahmen für die gesellschaftliche Integration von jugendlichen Aussiedlern finanziert. (vgl. DIETZ, 1997, S. 44-49)
[33] Neben mangelnden Sprachkenntnissen sind weitere Aspekte zu berücksichtigen, die eine Eingliederung besonders für Zuwanderer aus der vormaligen Sowjetunion erschweren. Im Gegensatz zu Rumänien oder Polen unterscheiden sich die politischen und sozialen Strukturen der Nachfolgestaaten der UdSSR weitaus stärker von denen der Bundesrepublik. Auch sind Industrialisierung, Modernisierung und Urbanisierung in den Ausreisegebieten der Deutschstämmigen (v. a. Kasachstan, Sibirien und die mittelasiatischen Republiken) weniger weit fortgeschritten. Hinzu kommt das traditionell geprägte Familien- und Geschlechtsrollenverständnis. (vgl. auch DIETZ/ROLL 1998; SCHWARZER/JERUSALEM 1994).
[34] Auf diese spezielle Problematik wird auch im Rahmen des Pilotseminars eingegangen (vgl. 8.3.7.3).