1.1 Einleitung
Die ersten drei Lebensjahre sind eine sehr wichtige Zeit f¨ur die Entwicklung eines Kindes. In Hinsicht auf die körperliche, emotionale, soziale und kulturelle Entwicklung ist diese Zeit von großer Bedeutung. Sie betrifft gerade auch die Eltern, die Einrichtungen und die ganze umgebene Umwelt in der sich ein Kind befindet, denn sie haben entscheidenden Einfluss darauf, positiven im Sinne von fördernd oder auch negativen. Diese Zeit ist aber auch in einer anderen Hinsicht relevant geworden, denn die institutionelle Kinderbetreuung
in Deutschland ist dabei sich zu verändern. Immer lauter wurden seit Anfang des Jahrhunderts die Rufe nach Reformen im Elementarbereich. Der vorschulische Bereich rückte erstmals mit dem Schock der Ergebnisse der ersten PISA-Erhebung(1) im Dezember
2001, in das öffentliche Bewusstsein. Auf der Suche nach Gründen für das schlechte Abschneiden der Sch¨uler im Sekundarbereich I wandte man seinen Blick den lange vernachlässigten Krippen- und Kindergartenkindern zu. Denn die Grundlagen für gute oder schlechte Schulleistungen werden schon vor dem Schuleintritt gelegt. In diesem Sinn wurden nun auch die Null- bis Sechsjährigen stärker als Leistungsträger erkannt. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen demografischen Entwicklungen wurden sie als ’knapp
gewordene Ressource’ begriffen, deren Bildungschancen nach Ergebnissen der Hirnforschung, besonders im Kleinkindalter enorm sind, und nicht einfach verstreichen dürfen.
Infolgedessen bezog sich die Kritik unisono auf zu wenig qualitativ akzeptable Bildungsarbeit in den Kindertageseinrichtungen. Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion stehen demnach auch die Forderungen nach dem Ausbau von Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten
und der Verbesserung der Bildungsqualität, gerade auch für die unter Dreijährigen. Im Westen Deutschlands lange verpönt und misstrauisch beäugt, erscheint die Betreuung von Kindern im Krippenalter außerhalb der Familie inzwischen in einem anderen Licht.
[...]
______
(1) Program for International Student Assessment (PISA) ist ein Programm zur regelm¨aßigen Erfassung
von Basiskompetenzen von Sch¨ulern im internationalen Vergleich.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitende Bemerkungen
1.1 Einleitung
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Sprachgebrauch und Terminologie
2 Fruhkindliche Entwicklung und Kinderkrippen
2.1 Entwicklungstheorie und Forderungsbegriff
2.2 Auswirkungen der Krippe
3 Das Krippenwesen der DDR
3.1 Die Krippen in der DDR
3.1.1 Rahmenbedingungen
3.1.1.1 Personelle Voraussetzungen
3.1.1.2 Materielle Voraussetzungen
3.1.1.3 Gesundheit und Hygiene
3.1.2 Forschung
3.1.3 Inhalte der Erziehungsarbeit
3.2 Wende-Entwicklung
4 Die Grundlagen des deutschen Systems
4.1 Der nationale Kontext
4.1.1 Demografischer, okonomischer und sozialer Kontext
4.2 Subsidaritat und Forderalismus
4.3 Gesetze, Rahmenbedingungen und aktuelle Entwicklungen
4.3.1 SGB VIII
4.3.2 Kita-Gesetze
4.3.3 Quantitativer Ausbau und das TAG
4.3.4 Qualitativer Ausbau
4.3.4.1 Qualitat in FBBE-Einrichtungen
4.3.4.2 Bildungsplane der Lander
4.4 Finanzierung
5 Aktuelle Situation in Deutschland
5.1 Situation der fruhkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung
5.1.1 Die Versorgungslage
5.1.2 Unterschiede Ost und West
5.1.2.1 Gesellschaftlicher Kontext und Strukurbedingungen in West- deutschland vor der Wiedervereinigung
5.1.2.2 Unterschiede bei Inanspruchnahme und Versorgungslage .
5.1.3 Die Beschaftigten
5.1.4 Sozialstruktur, Frauenerwerbstatigkeit, Geburtenentwicklung und Kinderbetreuung
5.2 Veranderte Bedingungen des Aufwachsens
5.2.1 Kindliche Lebenswelten
5.2.2 Ressource Gesundheit
5.2.3 Fruhkindliche Bildung
6 Relevanz der DDR-Erfahrungen
6.1 Annaherung der beiden deutschen Staaten
6.2 Zentralisierung, Standards und Vereinheitlichung
6.3 Qualifizierung der Fachkrafte
6.4 Gesundheit und Hygiene
6.5 Elternhaus und Krippe
7 Schlussbemerkung
A Bericht Kita-Hospitation
A.1 Rahmenbedingungen
A.2 Praxis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
3.1 Ubersicht liber Fachanleitung und -kontrolle der Krippen in DDR
4.1 Offentliche Ausgaben fur Familien im europaischen Vergleich (in Prozent des BIP 1998)
5.1 Gegenuberstellung elterlicher, familiarer ( z.B. Grofieltern), offentlicher und informeller Kinderbetreuung (z.B. Freunde, Nachbarn, Babysitter) fur Null- bis Sechsjahrige (in Prozent, jeweils bezogen auf die Kinder in der Stich- probe insgesamt)
5.2 Inanspruchnahme affentlicher FBBE nach Altersjahrgangen in Ostdeutsch- land (in Prozent, jeweils bezogen auf die Kinder der Stichprobe insgesamt)
5.3 Inanspruchnahme affentlicher FBBE nach Altersjahrgangen in Westdeutsch- land (in Prozent, jeweils bezogen auf die Kinder der Stichprobe insgesamt)
5.1 Quote der Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen nach Alter der Kinder
5.2 Sozialer Gradient bei Mortalitat und Morbiditat im Kindesalter, dargestellt durch die Vervielfachung bei Kindern der untersten gegenuber der obersten Sozialschicht (Grofibritannien)
5.3 Sozialer Gradient bei Gesundheits - und Entwicklungsstorungen von Ein- schulungskindern, dargestellt durch die Vervielfachung bei Kindern der untersten gegenuber der obersten Sozialschicht (Land Brandenburg)
Kapitel 1 Einleitende Bemerkungen
1.1 Einleitung
Die ersten drei Lebensjahre sind eine sehr wichtige Zeit fur die Entwicklung eines Kindes. In Hinsicht auf die korperliche, emotionale, soziale und kulturelle Entwicklung ist diese Zeit von grofier Bedeutung. Sie betrifft gerade auch die Eltern, die Einrichtungen und die ganze umgebene Umwelt in der sich ein Kind befindet, denn sie haben entscheidenden Einfluss darauf, positiven im Sinne von fordernd oder auch negativen. Diese Zeit ist aber auch in einer anderen Hinsicht relevant geworden, denn die institutionelle Kinderbetreu- ung in Deutschland ist dabei sich zu verandern. Immer lauter wurden seit Anfang des Jahrhunderts die Rufe nach Reformen im Elementarbereich. Der vorschulische Bereich rtickte erstmals mit dem Schock der Ergebnisse der ersten PISA-Erhebungim Dezem- ber 2001, in das offentliche Bewusstsein. Auf der Suche nach Gritnden fur das schlechte Abschneiden der Schuler im Sekundarbereich I wandte man seinen Blick den lange ver- nachlassigten Krippen- und Kindergartenkindern zu. Denn die Grundlagen fur gute oder schlechte Schulleistungen werden schon vor dem Schuleintritt gelegt. In diesem Sinn wurden nun auch die Null- bis Sechsjahrigen starker als Leistungstrager erkannt. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen demografischen Entwicklungen wurden sie als ’knapp gewordene Ressource’ begriffen, deren Bildungschancen nach Ergebnissen der Hirnfor- schung, besonders im Kleinkindalter enorm sind, und nicht einfach verstreichen durfen. Infolgedessen bezog sich die Kritik unisono auf zu wenig qualitativ akzeptable Bildungs- arbeit in den Kindertageseinrichtungen. Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion stehen demnach auch die Forderungen nach dem Ausbau von Ganztagsbetreuungsmoglichkeiten und der Verbesserung der Bildungsqualitat, gerade auch fur die unter Dreijahrigen. Im Westen Deutschlands lange verpdnt und misstrauisch beaugt, erscheint die Betreuung von Kindern im Krippenalter aufierhalb der Familie inzwischen in einem anderen Licht.
In einer im November 2004 erschienenen OECD-Studie wurde das Entgegenwirken bei ,,Ungleichgewichten, die durch einen ungunstigen familiaren und sozialen Hintergrund be- dingt sind“ (OECD, 2004b, S. 5), gerade auch auf der Ebene der Kleinkindbetreuung in Deutschland gefordert. Es entsteht in der Offentlichkeit zunehmend der Eindruck, vom Tag der Geburt an beginne ein Kampf um Lebenschancen, bei dem das Kind gewinnt, das die bestmogliche Krippe, den bestmoglichen Kindergarten und schliefilich die beste Schule besucht.
Deutschland bietet dabei ein besonderes Gefuge fur die Betreuung, Bildung und Erziehung von Kleinkindern. Denn in der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten trafen zwei Systeme der Fruhsozialisation zusammen, die in ihrer Struktur und ihrer Glaubens- grundsatzen unterschiedlicher nicht hatten sein konnen. In der ehemaligen DDR galt es als selbstverstandlich die Kinder, so moglich, auch schon im Alter von null bis drei Jah- ren in die Krippe zu geben, waahrend in der BRD Kinderkrippen allenfalls als Notloasung gesehen wurden.
In der vorliegenden Arbeit soll nun der Frage nachgegangen werden, ob inzwischen und wenn ja welcherart eine Annaherung der beiden deutschen Staaten stattgefunden hat und welche Erfahrungen des DDR-Krippenwesens fur aktuell angestrebten Entwicklun- gen relevant waren. Diese Frage lasst sich nur uber die Beschreibung der beiden Systeme und einer Diskussion der aktuellen Lage und ihrer Probleme erschliefien. Ausgehend von einer Beschreibung des DDR-Krippenwesen hin zu einer Darstellung der aktuellen Situation, findet sich am Ende eine Zusammenfuhrung beider Teile vor dem Hintergrund einer Annaherung beider Staaten und der Relevanz von Erfahrungen der DDR. Dabei werden, unterteilt in einzelne Bereiche, die Erfahrungen der DDR nach ihrem Nutzen fur die heu- tige Situation bewertet und dargestellt.
Zur Erweiterung des theoretischen Hintergrundes durch Praxiselemente hat die Verfas- serin bei einer Kindertageseinrichtung hospitiert. Dies diente dazu einen groben Einblick in den tatsachlichen Alltag von der Arbeit mit kleinen Kindern zu bekommen. Die Er- gebnisse haben als Hintergrund fur die Ausfuhrungen in der Arbeit ihren Niederschlag gefunden.
Zu erwahnen ware noch, dass sich die Verfasserin als ,,Kind ihrer Zeit“ des Umstandes einer mbglicherweise unbemerkten Subjektivitat bewusst ist, die dass angestrebte objek- tive Bild truben kbnnte. Der Entstehungsverlauf dieser Arbeit war infolgedessen immer wieder von einem bewussten Prozess des Selbsthinterfragens gekennzeichnet.
1.2 Aufbau der Arbeit
Die Arbeit ist in funf Teile eingeteilt. Zu Beginn werden entwicklungstheoretische Ansatze dargestellt, die im Zusammenhang mit dem aktuellen Forschungsstand zu Auswirkungen von Krippenbetreuung betrachtet werden. Dies dient dazu, fur den zentralen Aspekt der kindlichen Entwicklung eine theoretische Grundlage zu schaffen.
Anschliefiend wird das Krippenwesen der DDR umfassend dargestellt, ausgewahlte Rah- menbedingungen, die Forschungsaktivitaten und die Inhalte der Erziehungsarbeit, beson- ders das Erziehungsprogramm von 1986 werden vorgestellt. Auch die Entwicklungen nach der Wende 1990 werden thematisiert.
Nachfolgend werden die Grundlagen des bundesdeutschen Systems aufgezeigt, in dem die Kinderkrippen eingebettet sind. Dies sind zum einen nationale Kontextfaktoren wie die okonomische und demografische Situation und zum anderen die zu Grunde liegen- den staatlichen Prinzipien, Gesetze und Rahmenbedingungen. Wobei bei letzteren in der Darstellung auch die aktuellen Entwicklungen beriicksichtigt werden. Die beiden Bun- deslander Niedersachsen und Sachsen-Anhalt dienen hierbei als spezielle Vergleichs- und Analysegrundlagen, die bewusst auch als Vertreter eines West- und eines Ostdeutschen Landes ausgewahlt wurden.
Ausgehend von diesen System-Voraussetzungen wird als ein grofier Schwerpunkt die kon- krete Situation der fruhkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung dargestellt. Die aktuelle Versorgungslage in Deutschland und die bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West werden dabei ebenso thematisiert wie die Beschaftigten in den Einrichtungen. Des Weiteren wird der aktuelle Forschungsstand zu Zusammenhaangen zwischen der Ver- sorgung mit Kindertageseinrichtungen und Fertilitat, sowie zu Zusammenhangen zwischen Sozialstruktur und der Nutzung von Kindertageseinrichtungen dargestellt. Der zweite grofie Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf den veranderten Bedingungen des Aufwach- sens mit denen sich Kinder und auch Eltern heute konfrontiert sehen.
Anschliefiend wird anhand der aktuellen Forderungen und ihren Gruanden, eine Annaahe- rung zwischen den ehemals so unterschiedlichen deutschen Staaten erortert. Die Relevanz von DDR-Erfahrungen mit Kinderkrippen fur die zukunftige Entwicklung in Deutschland, wird uaber eine Zusammenfuahrung der aktuellen Entwicklungen und Forderungen disku- tiert.
Der Schwerpunkt der gesamten Arbeit liegt auf Einrichtungen fuar Kinder von null bis drei Jahren. Aufgrund des engen thematischen Zusammenhangs, der sich unter anderem auch in einer Vielzahl von altersgemischten Einrichtungen zeigt, kdnnen Kindergarten als Einrichtungen der fruhkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung nicht ganz ausgelas- sen werden. Zumal sie gelegentlich auch als Vergleichsgegenstand dienen. Die Tagespflege als spezielle Form der fruhkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung kann mit ihren spezifischen Problemen im Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden.
1.3 Sprachgebrauch und Terminologie
Im Folgenden werden einleitend einige relevante oder haufig wiederkehrende Begrifflich- keiten naher erlautert.
Im Deutschen wird der Begriff Betreuung haufig als neutraler Sammelbegriff gebraucht, wenn es um die Beschreibung von Angeboten in Krippe, Kindergarten oder Hort geht. Betreuung verweist aber nur auf die erbrachte Dienstleistung an den Kindern (Aspekte der Pflege und Fursorge) und nicht auf die ebenso beinhalteten Zwecke dieser Dienstleistung, die Entwicklungs- und Lernziele. Im Folgenden wird also Betreuung, aufgrund seiner Un- genauigkeit, nicht als Sammelbegriff verwendet werden. Stattdessen wird, wenn auf die allgemeinen Funktionen Bezug genommen wird, von fruhkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE) gesprochen. Diese Trias, Betreuung, Bildung und Erziehung, ist im deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KHJG oder SGB VIII) als Grundsatz des Forderungsauftrags von Tageseinrichtungen festgehalten (§22, III).Die Forderung von Kindern ist als Hauptaufgabe von Kindertageseinrichtungen festgehalten. Das Verstandnis von Forderung als ein ganzheitlicher Prozess, der die drei Bereiche (Betreuung, Bildung und Erziehung) integriert verweist auf die Besonderheit im deutschen Verstaandnis, die dem Begriff der Sozialpadagogik zugrunde liegt.
Kindertageseinrichtung ist der Sammelbegriff fur alle Formen institutioneller Betreuung, Bildung und Erziehung, vor und neben der Schule. Als Krippe werden im Folgenden Ein- richtungen bezeichnet, die null- bis dreijahrige Kinder aufnehmen. Drei- bis sechsjahrige besuchen den Kindergarten, dann im Schulalter den Hort. Krippe, Kindergarten und Horte gibt es als spezielle Einrichtungen oder als Mischformen. Altersgemischte Gruppen kbnnen liber das gesamte Alterspektrum reichen. [10]
Die Tagespflege ist eine privat organisierte Betreuungsform fur Kinder. Sie findet im Haushalt der Tagespflegeperson oder in der Familie des zu betreuenden Kindes statt. Fur Tagespflegeperson hat sich der Begriff der Tagesmutter eingeburgert. Tagespflege gibt es als affentlich finanzierte und vermittelte (formelle Tagespflege) und als privat vermittel- te und finanzierte Form (informelle Form). Als offentliche Tagespflege werden die dem Jugendamt bekannten Tagespflegeverhaltnisse bezeichnet, die nach den Vorgaben §§ 2224 SGB VIII von einem Trager der offentlichen oder der freien Jugendhilfe vermittelt, fachlich begleitet und teilweise auch offentlich finanziert werden. [14] Derzeit gelten nur etwa ein Viertel der Tagespflegeverhaltnisse als offentliches Angebot. Auch die informel- le Tagesspflege ist legal. [69] Wenn mehr mehr als drei Kinder betreut werden, ist eine Pflegeerlaubnis erforderlich. Diese Mafinahme einer staatlichen Regulierung ist jedoch nur bedingt wirksam. Oft wird die Pflegeerlaubnis erst gar nicht beantragt, sodass ein erheb- licher ’grauer Markt’ von Tagespflegeverhaltnissen entstanden ist. [10] Vom SGB VIII als gleichrangiges Angebot anerkannt, wird die Qualitat der Tagespflege in der Offentlich- keit immer wieder diskutiert, weil es sich um ein heterogenes, gesetzlich wenig geregeltes System handelt, indem zum Beispiel die Qualifikationen von Tagesmuttern sehr unter- schiedlich sein konnen. [69] [14]
Die im deutschen Sprachgebrauch eingeburgerte Bezeichnung Kinder- und Jugendhilfe- gesetz (KJHG) ist juristisch nicht ganz korrekt. Genauer handelt es sich um Artikel 1, Achtes Buch Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfe, kurz SGB VIII. Dieser Begriff (SGB VIII) soll im Folgenden fur die Bezeichnung der gesetzlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe gebraucht werden.
Als Elementarbereich werden samtliche institutionellen Angebote die vor dem Eintritt ins Schulalter genutzt werden konnen bezeichnet, also Angebote fur Kinder von null bis sechs Jahren.
Erzieherin wird in der vorliegenden Arbeit in der weiblichen Form gebraucht. Gemeint sind dabei aber auch die mannlichen Fachkrafte. Dieses Vorgehen ist zum einen der Le- sefreundlichkeit geschuldet und zum anderen der Tatsache, dass im Bereich der fruhkind- lichen Betreuung, Bildung und Erziehung uberwiegend Frauen tatig sind.
Kapitel 2 Fruhkindliche Entwicklung und Kinderkrippen
Was meint Entwicklung und welche Modelle und Konzepte gibt es um Entwicklungspro- zesse zu erklaren und zu verdeutlichen? Gerade die Entwicklung von Kleinkinder wird als pragend fur das ganze Leben angenommen und soll nun in Tageseinrichtungen gefordert werden. Demnach ist es wichtig, beide Begriffe (Entwicklung und Furderung) darzustel- len und inhaltlich zu fullen. Zudem stand die offentliche Betreuung von Kleinkinder und Suuglingen bei Kritikern in Verdacht, negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes zu haben. Im Folgenden soll deshalb auch der aktuelle Forschungsstand zu den Auswirkungen der Krippe in relevanten Themenbereichen, wie Mutter-Kind-Bindung, Ge- sundheit und zur sozialen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung dargelegt werden.
2.1 Entwicklungstheorie und Forderungsbegriff
Unter Entwicklung wird generell eine zeitlich geordnete Folge von kurperlichen und seeli- schen Vorgungen verstanden, die untereinander zusammenhangen und bestimmten Zeiten des Lebenslaufes zugeordnet sind. In dieser Definition sind sowohl genetisch bedingte Rei- fungsschritte, als auch Lernvorgunge einzuordnen. Wobei mit Reifung die genetisch gesteu- erte Entfaltung der biologischen Strukturen und Funktionen gemeint ist und Lernvorgunge Verhaltensweisen darstellen, die im Laufe des Lebens durch Erfahrung und Ubung erwor- ben werden. Faktoren, die das Reifen beeinflussen, sind grufitenteils genetisch determiniert und Faktoren, die das Lernen beeinflussen sind grofitenteils von Ereignissen in der Umwelt des Individuums bestimmt. Meist jedoch vollzieht sich dabei ein kompliziertes Wechsel- spiel. Daher bietet sich der Entwicklungsbegriff als ubergreifende Bezeichnung an, eine Bezeichnung die weniger nach den Ursachen forscht, als ihren Blick den Moglichkeiten und Zielen zuwendet, die einem Kind offen stehen. Der Entwicklungsbegriff beinhaltet biologisch-genetische Faktoren, genauso wie die psychische Entwicklung. Zu berucksichti- gen ist, dass Entwicklung nicht immer nur ,,vorwarts“ verlauft, Stillstand oder Stabilitat sind ebenso moglich wie Ruckbildungsprozesse. [77]
Die oben genannten Lernvorgange sind der entwicklungspsychologischen Perspektive zu- zuorden. Verschiedene Konzepte oder Modellvorstellungen versuchen dabei Entwicklung zu erklaren, einige werden im Folgenden kurz vorgestellt. Die Konzepte ,,Reifestand“ und ,,Sensible Periode“gehen davon aus, dass ein bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit bestimmte Erfahrungen auf ’fruchtbaren Boden’ fallen oder effizient geubt werden konnen (wie zum Beispiel ’selbststandig gehen’ oder ’sauber-werden’).Entwicklung durch herausfordernde Probleme, Krisen oder Ereignisse im Lebenslauf meint einschnei- dende Momente, die positive aber auch negative Entwicklungsauswirkungen haben konnen. Als mehr oder weniger altersnormiert werden dabei Entwicklungsaufgaben und typische Entwicklungskrisen bezeichnet, wahrend kritische Ereignisse im Lebenslauf unvorherseh- bar und zufallig auftreten. Problemldsung ist hier das vereinbarende Element. Im Modell der sukzessiven Konstruktion wird davon ausgegangen, dass jedes Stadium auf das Vor- angegangene aufbaut. ,, Entwicklung ist nicht eine beliebige, sondern eine sachlich wie logisch geordnete Folge von Konstruktionsschritten.“ (Montada, 1998, S. 56) Dieses Modell von Piaget1 (1947) beschreibt die Aufbauprozesse dabei als Selbstkonstruktion, der entwickelnde Mensch ist aktiv, sucht Informationen und strukturiert selbst seine Umwelt. Der ganze Entwicklungsprozess laauft oft inter- und intraindividuell unterschiedlich. Die Grunde dafur kdnnen sowohl interner (individuelle Anlagen, Grande in der Person) als auch externer Art(physische und soziale Umwelt) sein. [59]
Zur Veranschaulichung: Die wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Sauglings- und Kleinkindalters sind in der fruhen Kindheit (null bis zwei Jahre) Anhanglichkeit (Bin- dung), Objektpermanenz (Erkenntnis, das Dinge existieren auch wenn man sie nicht sieht), sensumotorische Intelligenz und schlichte Kausalitat sowie die Entwicklung mo- torischer Funktionen. In der Kindheit (zwei bis vier Jahre) sind es die Selbstkontrolle (v.a. motorisch), die Sprachentwicklung, Spiel und Fantasie und die Verfeinerung motori- scher Funktionen. (Entwicklungsaufgaben nach Havinghurst, zitiert nach Oerter/Monatda 1998)
Aus einem solchen Entwicklungsbegriff ergibt sich auch der Forderungsbegriff. Fdrde- rung heifit dann zum einen Bedingungen zu bieten, in denen die Reifungsprozesse optimal verlaufen konnen, und zum anderen dem Kind eine an seinen Entwicklungsstand und seine individuellen Bedingungen angepasste Anregung und Unterstutzung zu bieten. Das heifit, das Kind beim Herausbilden seiner Kompetenzen und Fahigkeiten in allen Bereichen (so- zial, emotional, kaorperlich und geistig) zu unterstuatzen bzw. es unterstuatzend zu begleiten.
Forderung beinhaltet dem Kind Erfahrungsangebote zu machen, ihm die Moglichkeit zu geben, sich explorativ mit der umgebenden Umwelt, den Personen und sich selbst ausein- ander zu setzen. Das beinhaltet auch gerade die vielfaltigen Moglichkeiten der Interaktion und Kommunikation mit Erwachsen und Gleichaltrigen. Daraus folgt, Forderung erfor- dert sehr genaue Kenntnisse der kindlichen Entwicklungsprozesse, denn nur dann koonnen die individuellen Bedurfnisse und Phasen erkannt werden. Zum anderen wird deutlich, dass Forderung in Kindertagesstatten nur einen Teil leisten kann, die weiteren Faktoren (z.B. die Familie) haben einen erheblichen Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Daraus begrundet sich auch die im Gesetz enthaltene Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den Eltern als ein Teil der ,,Forderung in Tageseinrichtungen“ (§§ 22-24SGB VIII). Wie wichtig fruhkindliche Forderung fur das spdtere Leben ist, zeigen verschiedene Studien. So zeigt sich, dass der Besuch eines Kindergartens sich besonders fur Migranten- Kinder als signifikant fur die spdtere Zuweisung zu einer Schulform erweist. [4]
Es wurden bewusst keine Entwicklungschritte vom Soauglings- bis zum fruohen und spaoten Kleinkindalter detailliert vorgestellt. Entwicklungsschritte und -probleme, die im Zusam- menhang mit institutioneller Kinderbetreuung stehen, werden in den folgenden Ausfuhrun- gen thematisiert.
2.2 Auswirkungen der Krippe
Die Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung gehoort zu den am haoufigsten diskutier- ten Themen um die Folgen fruher Tagesbetreuung. Nach neueren Forschungsergebnissen gibt es keine Nachweise dafur, dass durch institutionelle Betreuung generell eine proble- matische Mutter-Kind-Beziehung entsteht (z.B. NICHD Early Child care Network 1994, Ziegenhain/Wolf 2000, McKim u.a. 1999 zitiert nach Lamb/Ahnert 2003). Es wurde aber festgestellt, dass insensitive Tagesbetreuung haufig mit problematischen Mutter-Kind- Beziehungen einhergeht, weil insensitive Mutter houfiger insensitive Betreuung akzeptie- ren.(NICHD Early Child care Network 1997,McKim u.a. 1999 zitiert nach ebd.) Allgemein ist aus bindungstheoretischer Sicht zu sagen, dass die aufierfamiliore Betreuung unter Dreijahriger durchaus Risiken beinhaltet. Das Kleinkind erlebt die Trennung von seiner ’Sicherheitsbasis’ als stressvoll und muss erst im Laufe der Eingewohnungszeit in der Erzieherin eine neue, weitere Bindungsperson finden [32], was eine grofie emotionale Belastung fur das Kind bedeutet [52]. Forschungsergebnisse zeigen, dass sichere Erzieher- Kind-Bindungen seltener sind als sichere Mutter-Kind-Bindungen. Sie erfordern stabile Betreuungssettings (z.B. Barnas/Cumings 1994 zitiert nach ebd.) und ein empathisches Erzieherverhalten (z.B. Ahnert/Lamb 2000, 2001 zitiert nach ebd.). Die Zeit der Adaption ist fur alle eine schwierige und risikoreiche Zeit, die neben der Bindungsproblematik auch zu gesundheitlichen und entwicklungshemmenden Problemen ftihren kann. [85] In der so genannten Berliner Anpassungstudie (Ziegenhain/Rauh 1992)wurden Einflusse auf die Entwicklung der Bindungsbeziehung vor und nach Krippeneintritt untersucht. Wesentli- che Indikatoren sind das Alter des Kindes bei Krippeneintritt, die Form des Ubergangs (bezogen auf die tagliche Anwesenheitsdauer des Kindes und die Begleitung der Mutter) und die mutterliche Sensitivitat. Im Ergebnis zeigt sich, dass sich zunachst unabhangig von der Krippenerfahrung des Kindes die fruhe Sensitivitat der Mutter auf die spatere Bindungssicherheit auswirkt. Dazu kommt dann, in Wechselwirkung mit dem Krippenein- trittsalter, die Verabeitung der Eingewohnungszeit. Kinder mit Eintritt vor dem ersten Le- bensjahr haben bisher nur eingeschrankte Erwartungen an die Bindungsperson entwickelt und werden so kaum (auch nicht verstarkt durch einen abrupten Wechsel) enttauscht. Die Bindungsqualitat von sehr jungen Kindern ist eher durch externe Uberforderung (zu lan- ger taglicher Aufenthalt) oder durch interne Faktoren (Insensitivitat der Mutter) gefahr- det. Anders bei Kindern um und jenseits des ersten Lebensjahres, sie haben bereits eine Bindung und Erwartungen entwickelt und so kann ein abrupter Wechsel und eine uberfor- dernde Eingewohnung Auswirkungen auf die Bindungsqualitat haben. [84] Dies entspricht Erfahrungen von Krippenarzten der ehemaligen DDR, in denen die Aufnahme der Kinder um 12, 13 Monate als ungunstig bewertet wird, weil zu diesem Zeitpunkt gesundheitliche Probleme beim Krippeneintritt besonderes haufig auftreten, da die Bindung zur Bezugs- person schon besteht und in diese Zeit auch haufig das ,,Fremdeln“fallt. [35]
Zu gesundheitlichen Auswirkungen der Krippe konnte sich in Westdeutschland keine differenzierte Forschung etablieren, obwohl gerade die Erkrankungsgefahrdung des Kindes als Argument gegen institutionelle Krippenbetreuung herangefuhrt wurde (Pechstein 1990). [14] Die folgende Darstellung bezieht sich somit uberwiegend auf zusammenfas- sende Forschungsergebnisse der ehemaligen DDR. Sie entsprechen den Resultaten inter- nationaler Forschung. [14] Es ist festzustellen, dass Krippenkinder haufiger erkranken, wobei die Art und Haufigkeit saisonal bedingt, altersabhangig und individualspezifisch ist. Insgesamt machen die Erkrankungen der oberen Atemwege, wie Akute Respirato- rische Erkrankungen (ARE), die Bronchitis und Konjunktivits, 78 Prozent der Gesam- terkrankungen der Kinder aus. Krippenkinder erkranken dabei 2,5 mal haufiger als aus- schliefilich in der Familie betreute Kinder, die ebenfalls vorrangig von Erkrankungen der oberen Atemwege betroffen werden. Ein Drittel der gesamten Erkrankungen wird dabei von nur acht bis zwaolf Prozent der infektanfaalligen Kinder getragen. Diese Infektanfaallig- keit ist nur empirisch-statistisch definierbar, denn sie ist zu sehr individualspezifisch und altersabhangig. Tatsache ist, dass eine erhohte Infektexposition, wie sie in der Krippe der Fall ist, zu einer erhohten Erkrankungsrate fuhrt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich um vorverlegte Krankheiten handelt. Bis ins Schulalter hinein ist die Gesamtzahl al- ler durchgemachten Infekte unabhangig von der Betreuungsform annahernd ausbalanciert, denn nur durch Infekte kann sich die Leistungsfahigkeit des Immunsystems entwickeln. Diese Vorverlegung stellt auch fur die ubergrofie Mehrheit der Kinder kaum eine zusatzli- che Belastung dar. Nachuntersuchungen zeigen keine signifikant anderen Krankheiten als bei familienbetreuten Kindern. [28]
Ein positiver Effekt von Krippenbetreuung auf die Gesundheit lasst sich fur Einzelkinder feststellen, allergische Reaktionen treten bei fruh gruppenbetreuten Kindern deutlich sel- tener auf. [14]
Forschungen zu Auswirkungen offentlicher Tagesbetreuung auf sprachliche und kogni- tive Entwicklung ergeben kein eindeutiges Bild. Einige Studien (z.B. Campbell u.a. 2001 zitiert nach Lamb/Ahnert 2003) berichten von bis ins Schulalter hineinwirkenden posi- tiven Effekten, die sich in besseren Lese- und Rechenfertigkeiten ausdrackten. Andere verwiesen auch auf nachteilige Effekte (z.B. Bates u.a. 1994 zitiert nach ebd.) oder auf keinerlei Effekte (z.B. Thornburg u.a.1990 zitiert nach ebd.). Neuere Studien zeigen aller- dings einen Zusammenhang zwischen der Betreuungsqualitat und positiven Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. [52] Dem Qualitatsaspekt wird in 4.3.4.1 nachgegangen.
Auswirkungen auf die soziale Entwicklung werden mit Kompetenzentwicklungen wie Selbststandigkeit, Selbstbehauptung, Kooperationsfahigkeit und dem Aneignen von so- zialem Regelwissen beschrieben. [46] Allerdings sind auch negative oder gar keine Auswirkungen ermittelt wurden. Auch hier scheint der Qualitatsaspekt eine entscheidene Rolle zu spielen. [52]
Kapitel 3 Das Krippenwesen der DDR
Das Krippenwesen der DDR kann in seinem Ausmafi als bis dahin nicht gekanntes ’Grofi- experiment’ betrachtet werden. Im Folgenden soil sein Auf- und Ausbau, ausgewahlte Rahmenbedingungen, Forschungsergebnisse, die padagogische Programmatik und Arbeit sowie die Wendeentwicklungen dargestellt werden. Dies dient dazu, einen umfassenden Einblick in das Krippenwesen der DDR zu bekommen.
3.1 Die Krippen in der DDR
Von Beginn an wurden Krippen in der DDR dem Gesundheitswesen zugeordnet. Um 1950 begann die langsame Expansion der Krippen, besonders an Heimen und Wochenkrippen. Diese Entwicklung entsprach einem grofien Bedarf in den Nachkriegsjahren, aufgrund vieler elternloser Kinder und problematischen Familienverhaltnissen. [85] Nach dem Vor- bild von Kinderkliniken standen Pflege, Ernahrung, medizinische Betreuung und Hygiene im Vordergrund. Eine Untersuchung Ende der 50er Jahre uber die bessere Entwicklung von Tageskrippenkindern fuhrten zur Ausweitung von Tageskrippen und Erziehungsauf- gaben traten hinzu. Ebenso wurde aber auch festgestellt, dass Krippenkinder gegenuber ’Familienkindern’ in ihrer geistigen Entwicklung zuruack waren. Krippenerziehung wirk- te sich negativ auf die Sprachentwicklung, die Spielfahigkeit und die Selbststandigkeit aus. Auch entwickelten sich die ’Familienkinder’ korperlich besser. Das neu entstande- nen Bewusstseins, dass allein Pflege- und Fuarsorgemafinahmen fuar die Entwicklung des Kindes nicht ausreichen, fuhrte zu einer zunehmenden Padagogisierung der Krippen. [35] So wurden Krippen 1965 als unterste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungssy- stem deklariert und 1968 mit dem verbindlichen ,,Entwurf zu einem Erziehungsprogramm“ (Schmitdt-Kolmer) als Institutionen der Padagogik beschrieben. [85] Dabei ist jedoch zu berucksichtigen, dass die Krippen trotz dieser Festlegung dem Ministerium fur Gesundheit und nicht dem Ministerium fur Volksbildung (wie die Kindergarten) zugeordnet waren. Konzeptionell gehorten die Einrichtungen zum Bildungssystem, administrativ aber zum Gesundheitswesen.
Die gesellschaftliche Funktion der Kinderkrippe bestand „darin, im engen Zusammen- wirken mit der Familie die Kinder im Sinne des sozialistischen Humanismus zu erziehen, ihre Gesundheit und allseitige Entwicklung zu fOrdern und ihnen eine gluckliche Kindheit zu sichern.“ (Kuchler, 1986, S. 45) Der gesellschaftliche Auftrag konkretisiert sich in der padagogischen Zielstellung, ,,die planmafiige, systematische Fuhrung und FOrderung der Entwicklung der Kinder in der fruhen Kindheit“. (ebd., 1986, S. 51) Dabei wird die Qua- litat der padagogischen Tatigkeit als wichtigster Faktor zum Erreichen dieser Aufgaben genannt. ,, Gesundheitliche Betreuung und Pflege einerseits“ und die ,,Bildung und Erzie- hung der Kinder andererseits“ bildeten die zwei Seiten des Erziehungsprozesses. (ebd., 1986, S. 51f)
Die Versorgungsquoten waren sehr hoch. Wenn man das so genannte ’Babyjahr’ beriick- sichtigt1, standen 1989 fur rund 82 Prozent der ein- bis dreijahrigen Kinder Platze in Einrichtungen bereit. [82]Etwa 30.000 Antragen auf einen Krippenplatz konnte am En- de der DDR 1989 immer noch nicht entsprochen werden. [85] Dabei war erklartes Ziel allen Eltern die es wunschten, bis 1990 einen Platz zur Verfugung zu stellen. [82] Interessant ist hierbei, dass der Bedarf in der DDR offensichtlich ein nachfrageorientierter Bedarf war, im Gegensatz zur aktuellen Praxis in der Bundesrepublik (siehe Abschnitt 4.3.3). Dabei ist naturlich zu berucksichtigen, dass zum einen die okonomische Situation in der die Familie sich befand es notig machte, dass beide Elternteile arbeiten gingen, und zum anderen die Erwerbstatigkeit der Frau als wichtigste Voraussetzung fur ihre Gleichstellung angesehen wurde. Der Bedarf war somit zwar nachfrageorientiert, aber die Nachfrage eben auch von okonomischen Zwangen bedingt.
Die ideologisch begrundete, politische Absicht der Einbeziehung der Frauen in den Ar- beitsprozess war auch durch die Tatsache bedingt, dass die DDR-Wirtschaft auf quali- fizierte Arbeitskrafte angewiesen war und nicht auf das riesige volkswirtschaftliche Potential der weibliche Arbeitskrafte verzichten konnte. Die Gleichstellung der Frau ergibt sich nach der sozialistischen Theorie in erster Linie durch eigenstandige Erwerbstatigkeit. Alle anderen Gleichstellungsmerkmale sind dem nachgeordnet und ergeben sich auf dieser Grundlage. Folgerichtig wurde ebenso fur alle Frauen wie fur alle Manner das Recht auf Arbeit verfassungsmafiig garantiert. Dieses Recht bedeutete gleichzeitig eine Pflicht. [55] Durch die gewtinschte Berufstatigkeit musste der Staat die FBBE-Versorgung ab dem er- sten Lebensjahr tibernehmen. Dies war eine anerkannte gesellschaftliche Realitat. Zudem wurde erwartet, wenn auch nicht immer erfullt, dass die Arbeit in den Einrichtungen von bestens ausgebildeten Fachkraften geleistet wurde, denen die Eltern vertrauen konnten. ,,Diese Angebote waren vielmehr eine Erganzung, denn eine Unterstutzung der Families Nicht zuletzt hatten sie die Funktion, ,,den Prozess der Formung der zukunftigen Staatsburger, die den Werten und Bedurfnissen einer sozialistischen Gesellschaft gerecht werden sollen, einzuleiten.“ (OECD, 2004, S. 17)Elternbeitrage wurden nicht erhoben, die Eltern beteiligten sich lediglich an den Kosten der Essensversorgung.
3.1.1 Rahmenbedingungen
Nachfolgend sollen einige Rahmenbedingungen des Krippenwesens dargestellt werden. Die hierarchischen Leitungsstrukturen zeigt Abbildung 3.1.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zusatzlich gab es Bezirks- und Kreishospitationskrippen, die von Bezirks- bzw. Kreisarz- ten benannt wurden. Das waren Einrichtungen, die Multiplikatorentatigkeiten wahrzuneh- men hatten. Hinzu kamen noch Fachberater, die den Fachabteilungen der Kreise, Bezirke oder den Krippenvereinigungen unterstanden. Sie sollten durch Anleitung und Kontrolle des Krippenpersonals fur die Verwirklichung der gesetzlichen und padagogischen Vorgaben sorgen. Dieses System ftihrte oft zu Spannungen. Bei der Darstellung der Strukturen darf nicht vergessen werden, dass grundsatzliche Entscheidungen, wie im gesamten politischen Leben der DDR, von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) getroffen wurden. Ausgehend vom Zentralkommitee und seinen Fachabteilungen uber die Bezirks-, Kreis- und Ortsparteileitungen wurden grundlegende Angelegenheiten geregelt. Gesetzli- che Vorschriften und Verordnungen regelten einheitlich (Neu)Bauten, Ausstattung, Ar- beitsweise, Ernahrung, medizinische Betreuung, padagogische Arbeit, Hygieneverhalten, sowie Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter. [85]
3.1.1.1 Personelle Voraussetzungen
In medizinischen Fachschulen wurden jahrlich ca. 2.000 bis 2.500 Krippenerzieherinnen nach einheitlichen staatlichen Lehrplanen ausgebildet. Absolventen der 10. Klasse erwar- ben nach dreijahrigem Direktstudium den Berufsabschluss [82], wobei die eine Halfte als theoretische Ausbildung in den Fachschulen und die andere Htalfte der Ausbildung als praktische Ausbildung in Lehrkrippen verlief. Fur diese beiden Bereiche gab es Fach- schullehrer ’Theorie’ und Fachschullehrer ’Praxis’. [85] Die wichtigsten fachspezifischen Lehrgebiete waren Padagogik fur Kleinkinder, Psychologie und Kinderheilkunde. Aber auch Musik, bildnerische Erziehung und Sprecherziehung standen auf dem Lehrplan. Die Erzieherin sollte in der Lage sein, die Eltern gesundheitsspezifisch zu informieren und als Helferin des Krippenarztes tatig zu werden. [82] 1989 hatten 80 Prozent der Beschaftigten einen Fachschulabschluss, dabei tiberwiegend als Krippenerzieherin und zum geringen Teil als Kinderkrankenschwester. [51] Weitere 10 Prozent waren Kinderpflegerinnen, ein Ab- schluss der uber eine eineinhalbjahrige Facharbeiter-Ausbildung nach dem Abschluss der 8. Klasse Grundschule erreicht wurde. [82] Die Mitarbeiter ohne eine padagogische Ausbildung machten weitere 10 Prozent aus. [51] Die Leitungskrafte in den Fachabteilungen der Rate der Bezirke und Kreise hatten zumeist ein Hochschulstudium zum Diplompadagogen an der Humboldt-Universitat Berlin abgeschlossen, was eine mindestens fimfjahrige Erfah- rung als Krippenleitung erforderte. Der Einsatz konnte dann als Fachberater oder auch als Lehrer an medizinischen Schulen erfolgen. Zur Verbesserung der psychologischen Betreuung der Kinder wurde ab 1983 im Rahmen des Psychologiestudiums eine Spezialisierung ,,Krippenpsychologie“ angeboten. Die Krippenpsychologen wurden zur Weiterbildung und Beratung der Fachkrafte und zu individuellen Betreuung kranker Kinder eingesetzt. [85] Weiterbildung war verpflichtend, neben theoretisch orientierten Veranstaltungen gab es die Moglichkeit in den Konsultationskrippen zu hospitieren.
Die Gruppengrofien wurden in Abhangigkeit von den raumlichen Bedingungen festge- legt. In Zweckbauten war eine Grofie von 16 bis 18 Kindern vorgegeben. Haufig waren sie jedoch uberbelegt, sodass es Gruppen mit 20 bis 22 Kinder gab. Die Kinder waren in altershomogene Gruppen eingeteilt (Kinder im ersten, zweiten und dritten Lebens- jahr), altersgemischte Gruppen wurden gebildet, wenn es die Umstande erforderten. [8] Ab 1985 wurde dazu ubergegangen die grofien Gruppen zu teilen, in der Praxis konnte das jedoch nicht ganztags realisiert werden. Zwiener stellt in seiner reprasentativen Studie (siehe Abschnitt 3.1.2) allerdings fest: ,,40 % der Kinder lebten in Gruppen mit bis zu durchschnittlich sieben anwesenden Kindern, ein Drittel in Gruppen mit mehr als neun Kindern. (...) Die Gruppen sind bedeutend kleiner, als von Krippengegnern behauptet wird.“ (Zwiener, 1994, S. 60) Fur die Betreuung von 16 bis 18 Kindern standen offiziell 3 Erzieherstellen zur Verfugung, das entsprach einem Erzieher-Kind-Schlussel von 1,53 bzw. 1,6.4 5 [82] Es war eine erhebliche arbeitsorganisatorische Flexibilitat erforderlich, um die Betreuung uber die gesamte Offnungszeit von 6 Uhr bis 18 Uhr abzusichern. Im Zusam- menhang mit Fehltagen der Erzieherin lag der Schlussel oft auch hoher. Der Schlussel in der Praxis lag bei ungefahr 1,9. [51] [85] Der Erzieher-Kind-Schlussel in Deutschland heu- te ist nicht genau zu bestimmen, zu unterschiedlich sind die einzelnen Landervorgaben. Der 12. Kinder- und Jugendbericht erhebt 1,73 als gesamtdeutschen Durchschnitt. Es muss aber wie in der ehemaligen DDR davon ausgegangen werden, dass die tatsachlichen Verhaaltnisse aufgrund von Fehlzeiten etc. durch einen haoheren Schluassel gekennzeichnet sind, die vermutlich den Verhaltnissen der DDR entsprechen. [14] Wobei auch die Fehl- zeiten der Kinder durch Krankheit, Urlaub u.a. zu beriicksichtigen sind, die ihrerseits den Personalschlussel wieder senken, im Durchschnitt fielen 1988 ca. 30 Prozent Fehltage der Kinder an. [85]
Die Fluktuation des Fachpersonals stellt im Krippenwesen, in Anbetracht des erstrebten Ziels einer stabilen und kontinuierlichen Betreuung der Kinder, ein besonderes Problem dar. In der DDR schieden etwa ab 1985 jahrlich ca. 2.000 Krippenerzieherinnen aus ihrem Beruf aus. [82]
3.1.1.2 Materielle Voraussetzungen
Eigens fur Krippen konzipierte Neu- bzw. Zweckbauten machten im Jahr 1989 ein Viertel der Kinderkrippen aus. Sie hatten eine Kapazitat von 60, 80 oder 90 Platzen, letztere haufig als Kinderkombination, mit Krippe und Kindergarten, jedoch mit separater Lei- tung und kaum Kontakt zwischen den beiden Bereichen. Der Hauptteil der Einrichtungen war jedoch in Altbauten, Villen oder schlossahnlichen Gebauden untergebracht. Wahrend diese aus ’ostdeutscher Sicht’ eher als ,,Provisorien“ (Weber, 1996, S. 185) wahrgenommen wurden, in denen die materiellen Bedingungen zwangslaufig schlechter waren als in den Zweckbauten, wurden gerade diese Gebaude nach der Wende aus ’westdeutscher Sicht’ positiv wahrgenommen. ,,Bevor ich im Oktober 1989 in die DDR fuhr, war mein Bild von der Krippenerziehung in der DDR gepragt von den ublichen Vorurteilen des Westens: ge- normte Bauten, genormte Padagogik, genormte Kinder. Die grofite Uberraschung in Jena betraf die architektonischen Kostbarkeiten - diese Villen, diese Grunderzeit- und Jugend- stilhauser, in denen die Kinder zum Teil untergebracht waren: holzgetafelte Wande, teils edelholzgedrechselte Treppengelander, kleine verwinkelte Raume verbreiten eine kusche- lige Atmosphare.“ (Dietrich, 1993, S. 312)
Normative Standard-Vorgaben gab es fur die Freiflachen und Raumgrafien, fur Beleuch- tung, Larm, Spielzeug und Wasche. In Neubaukrippen werden die Vorgaben zu Raum- grbfien mit 5 m2 pro Kind und die Freiflachen mit 16 m2 pro Kind als beispielhaft und grofiztigig beschrieben [51] [82], was auch durchaus, zum Beispiel im Vergleich mit den Vorgaben in Niedersachen heute (siehe Abschnitt 4.3.2), gerechtfertigt ist. Alle anderen Einrichtungen hatten allerdings unterschiedlichste Bedingungen hinsichtlich Raumgrofien, Grafie und Anzahl der Gruppen, Freiflachen, Kuchenbedingungen etc. Die Ausstattung neuer und bestehender Krippen erfolgte nach einem verbindlichen Grundausstattungsplan (1983). Er enthielt zum Beispiel Angaben uber Mabel, Stuckzahl der Bettwasche, Spiel- zeuge, Beschaftigungsmaterialien und Musikinstrumente. Dafur wurden staatliche Mittel in grofier Hahe zur Verfugung gestellt. [82] Im Durchschnitt verfugten alle Krippen uber eine zwar einheitliche, aber zweckmafiige Ausstattung und ein ausreichendes Angebot an Spiel- und Beschaftigungsmaterialien. Regional gab es jedoch grofie Unterschiede [8] und die detaillierten Auflistungen engten die Leiterin ein und nahmen ihr nahezu jede Eigeninitiative ab. [82]
3.1.1.3 Gesundheit und Hygiene
Die hygienischen Rahmenbedingungen und die medizinische Betreuung sind Besonderhei- ten der DDR-Krippen, die aus ihrer historischen Zugehoarigkeit zur staatlichen Gesund- heitsfursorge herruhren und denen grofie Bedeutung zugeschrieben wurde. Eine arztliche Betreuung wurde von Beginn an als notwendig erachtetund sie richtete sich vor allem auf die Vorbeugung gesundheitlicher Storungen und Schaden, auf deren Fruherkennen und auf rechtzeitige Behandlungsmafinahmen. Krippenarzte waren in der Regel Allgemeinmedizi- ner mit entsprechender kinderarztlicher Qualifikation oder Facharzte fur Kinderheilkunde. Der zeitliche Einsatz pro Woche war mit drei bis vier Stunden in Tageskrippen mit 100
Platzen und mit vier bis sechs Stunden in Wochenkrippen mit 100 Platzen sehr detailliert und differenziert vorgegeben. In der Praxis entfielen 2,3 Stunden auf die Tageskrippe und 3,1 auf die Wochenkrippe. Die Aufgaben der Krippenarzte umfassten:
- die regelmafiige Untersuchung der Kinder (vor der Erstaufnahme, danach periodisch und auch Abschlussuntersuchung bei Aussscheiden aus der Krippe),
- die Vornahme der Impfungen laut Impfkalender,
- erste medizinische Versorgung und Entscheidung bei akuten Erkrankungen und Unfallen,
- die so genannte Dispensairebetreuungvon Kinder mit medizinischen oder sozialen Auffaalligkeiten
- Einleitung und Kontrolle von prophylaktischen Mafinahmen
- Kontrolle der hygienischen und ernahrungswissenschaftlichen Normen
- Beratung der Eltern und Erzieher (Vortrage und Teilnahme an Elternabenden, in- dividuelle Beratung von Eltern und Fachkraften, Weiterbildung der Fachkrafte)
- Einflussnahme auf Tagesgestaltung der Kinder (Freiluftaufenthalte etc.) [82] [35]
Wobei die drei letztgenannten Punkte aufgrund von Zeitnot oft als sekundar angese- hen wurden. [82] Schwerpunktmafiig sollte die Erkrankungshaufigkeit der Kinder in den Einrichtungen gesenkt werden. [8] Dabei darf nicht aufier Acht gelassen, werden, dass Kleinkinder infolge des unreifen Immunsystems zu einer staarkeren physiologischen Krank- heitsbereitschaft neigen und die Kindergruppe im Gegensatz zur Familie viel mehr Infek- tionsmoglichkeiten bietet. Aufierdem gibt es so genannte ,,infektlabile Kinder “, Kinder die uberhaufig krank sind, ihr Anteil umfasst 10 Prozent, unabhangig von Krippen- oder Familienbetreuung. (siehe Abschnitt 2.2)
Laut Weber lasst sich der Wert der Krippenarzte nicht belegen. Die mittlere Erkrankungshaufigkeit wurde weder durch das Zeitbudget, noch durch weitgehende Erfullung der Aufgaben seitens des Krippenarztes beeinflusst, sie blieb uber Jahrzehnte annahernd gleich. Auch die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchungen sind ohne einen Vergleich mit Kindern mit ausschliefilicher Familienbetreuung wenig aussagekraaftig. Entscheidender Ein- flussfaktor auf die medizinische Betreuung und auch auf die Einflussnahme auf Fachkraafte und Eltern, war die Einstellung des Arztes zu Krippen allgemein. [82]
Auf die hygienischen Rahmenbedingungen wurde sehr viel Wert gelegt. In Krippen, die zu Beginn nach dem Muster von Kinderkliniken ausgestattet waren, stand die Verhutung von Infektionen mit antiepidemischen Mafinahmen bis zu den 70er Jahren im Vorder- grund. Wissenschaftliche Untersuchungen fuhrten schliefilich zu einer zunehmenden Mo- difizierung der Vorschriften, in denen es nun eher um die hygienische Gestaltung der Bedingungen ging. Die Vorgaben der Hygiene-Ordnung von 1988 enthielten zum Beispiel Angaben zur Gestaltung des Tagesablaufs, zu Mafinahmen der Reinigung und Desinfek- tion und Grundsatze zur Verhutung und Vorgehen bei ubertragbaren Krankheiten. [82]
3.1.2 Forschung
Wie im vorangegangen Abschnitt schon deutlich wurde, haben die Ergebnisse von wis- senschaftlichen Untersuchungen auch Eingang in die Bestimmungen der gesetzlichen Vorschriften des DDR-Krippenwesens gefunden. Wobei einige Ergebnisse auch an wirtschaft- lichen Engpassen oder politischen Zwangen scheiterten. So konnten zum Beispiel Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Morbiditat, Tagesschlaf und einer taglichen Verweildauer von neun bis elf Stunden vermuten liefien, nicht Eingang in die Praxis fin- den, da sie unter anderem die Diskussion um Teilzeitarbeitsplatze fur Mutter beeinflusst hatten. Forschung zu Gesundheit, Entwicklung und Erziehung wurde vom Institut fur Hygiene des Kindes- und Jugendalters Berlin (IHKJ) direkt durchgefuhrt oder koordiniert. Dabei war es schwerpunkthaft ,,ausgerichtet auf die Verbesserung der gesundheitlichen Betreuung der null- bis 18jahrigen, auf die gesundheitsfordernde Gestaltung und die Opti- mierung der Lebens- und Erziehungsbedingungen in Familie und Kindereinrichtung sowie auf die Belastung und Belastbarkeit von Kindern und Jugendlichen.“ (Weber, 1996, S. 193) Untersuchungen zum Morbiditatsgeschehen standen im Mittelpunkt, besonders die zu akuten Atemwegserkrankungen. Empfehlung war, das Verhaaltnis zwischen Erreger und Abwehr moglichst gunstig zu gestalten, also Ubermtidung und Stress zu vermeiden und Bewegungsarmut entgegenzuwirken. Die Ursachen des Morbiditaatsgeschehens wurden im Ganzen in einem multifaktoriellen Gefuge gesehen, in dem es auch vorbeugende Faktoren gibt.
Untersuchungen mit padagogisch-psychologischen Schwerpunkt wurden seit 1974 fur die Abteilung ,,Kleinkindpadagogik“ am IHKJ gemacht, mit dem Ziel, das Erziehungspro- gramm, was seit 1968 als verbindliches Material galt, wissenschaftlich zu fundieren und nachzubessern. Es waren vorwiegend Untersuchungen zum Spiel, zum Spracherwerb und zur bildnerischen und musikalischen Erziehung. Interessant ist das zugrunde liegende Lern- konzept. Man orientierte sich an Wygotzkis Auffassung von ,,impliziertem Lernen“, d.h. das Kind lernt nach seinem eigenen Programm und sucht sich selbst Anregungen aus der Umwelt. Ein Verstandnis, das dem heutigen sehr nahe kommt. Es wurde uberpruft, welche Bedingungen und welches Angebot man fur Kinder schaffen sollte, damit sie sich bestmoglich ihr ,,eigenes Programm“ in der Entwicklung bildnerischer, musikalischer und spielerischer Fahigkeiten bilden konnen. Beispielhaft werden nachfolgend die Schlussfol- gerungen der Untersuchungen zum Spracherwerb genannt. Durch ein emotional betontes Handlungs- und Sprachangebot sollen die Kinder durch die Erzieherin motiviert werden, ohne jedoch eine sprachliche Reaktion zu erzwingen, ebenso sollen die Kinder nur indirekt korrigiert werden ohne Aufforderung zu Wiederholungen. Aufierdem soll die Erzieherin ihre Absichten vorrangig auf die Forderung des Sprachverstehens richten, in Zusammen- hang mit konkreten Situationen und Handlungsabloaufen und dabei die vorhandenen in- dividuellen Unterschiede berucksichtigen. Die Lucken in den Studien, bzw. eine zu starke Konzentration auf die genannten Bereiche, bedeutete auch Lucken fur das neue Erzie- hungsprogramm was 1985 entstand und Thema des Abschnitts 3.1.3 sein wird. [82]
Eine besondere Rolle nimmt die Untersuchung von Zwiener (1994) ein. Es ist eine reprasen- tative Untersuchungaus 200 Kinderkrippen (alle Einrichtungen aus vier Kreisgebieten der ehemaligen DDR), in der 1988 nahezu 10.000 Kinder hinsichtlich ihres Entwicklungs- standes und Gesundheitszustandes untersucht wurden. Die Feststellung des Entwicklungs- standes erfolgte mithilfe des von Schmidt-Kolmer und Zwiener entwickelten Verfahrens zur Kontrolle des Entwicklungsstandes durch die Krippenerzieherinnen.11 Der Gesund- heitszustand wurde durch das ,,Standardprogramm der gesundheitlichen Uberwachung flir Kinder und Jugendliche von 0-18 Jahren“ durch die Krippenarzte erhoben. Eben- so wurden weitere Variablen erhoben, wie familioare Bedingungen, Variablen der Krippe und des Personals. Alle Krippen folgten in der DDR gleichen Vorschriften und Regeln. ,,Dennoch gab es unter den 7.700 Kindereinrichtungen kaum zwei gleiche, auch nicht bei Typenbauten. Bauliche Voraussetzungen, ortliche Bedingungen, die Verschiedenheit des Personals in den Krippen, die unterschiedlichen Eltern, die Entstehungszeit der Krippe und nicht zuletzt die Kinder selbst sorgten fur ein eigenes Setting jeder Krippe.“ (Zwiener, 1994, S. 78) So kommt er denn auch in der Studie zu dem Ergebnis, dass in einem Teil der Krippen fast alle Kinder die Chance einer guten Entwicklung haben und in einem anderen Teil der Krippen diese Chancen gering sind. 28 Krippen ergeben eine uberdurch- schnittliche Entwicklung, 117 Krippen eine mittlere Entwicklung und 26 Krippen eine unterdurchschnittliche Entwicklung. Dabei ist zu beachten, dass es nahezu allen Ein- richtungen sowohl uberdurchschnittlich als auch unterdurchschnittlich entwickelte Kinder gab, was Zwiener auf weitere Einflussfaktoren schliefien lasst. Als starkste Entwicklungs- faktoren nennt Zwiener gute Beziehungen zwischen Kindern und Erzieherinnen und einen gunstigen emotionalen Zustand der Kinder. Gefardert werden diese durch einen schon langeren Aufenthalt in der Krippe. bzw. geeignete Adaptionsmafinahmen, regelmafiige und nicht zu kurze oder zu lange Anwesenheit (sechs bis neun Stunden am gunstigsten), kleine Gruppe (bis neun Kinder), weniger Einsatz der Leiterin bei der taglichen Arbeit und durch eine geringere Erkrankungshaufigkeit (die auch mit einer regelmafiigen Anwesenheit korreliert). Aufierdem fbrdert ein hoher Ausbildungsgrad der Eltern die Entwicklung der Kinder. Ebenso zeigt sich, dass ungunstige Familienbedingungen ungunstige Krippenbe- dingungen nicht kompensieren kbnnen, wahrend sich gunstige Familienbedingungen mit den entwicklungsfordernden Einflussen der Krippe verstarken.
Gesundheitlich ergab sich das bekannte differenzierte Bild bei Kleinkindern. Im Durch- schnitt erkrankten die Kinder zwei Mal pro Monat, wobei Erkrankungen des Atemsystems mit 70,4 Prozent dominierten und bei Erkrankungen der Sinnesorgane und des Nervensy- stems die Mittelohrentzundung mit 13 Prozent die Statistik anfuhrte. Das Unfallgesche- hen lag mit 0,6 Prozent sehr niedrig, was auf die strikten Unfallverhutungsvorschriften zuruckzufuhren ist. Die Korpermesswerte lagen bis zum Ende des 9. Lebensquartals unter den 1970/71 fur die DDR ermittelten Normwerten. Dies ist als Ausdruck der Entwick- lungsstorung im Rahmen der Adaption, beim Ubergang von der Familie in die Krippe zu sehen. [85]
3.1.3 Inhalte der Erziehungsarbeit
Die padagogische Arbeit in den Krippen war durch ,,Erziehungsprogramme“ determiniert. Im Folgenden wird schwerpunkthaft das Programm von 1985 genauer dargestellt werden, da es die verbindliche Grundlage der padagogischen Praxis sein sollte. Dabei ist zu beriick- sichtigen, dass die Praxis jedoch lange nicht in der 100 prozentigen Umsetzung des Pro- gramms bestand. Erziehungsprogramm und Erziehungsrealitaat waren selbstverstaandlich auch in der DDR verschiedene Dinge.“ (Nentwig-Gesemann, 1999, S. 40) In der Praxisum- setzung des Programms war die Zaahlebigkeit der traditionellen Erziehungsvorstellungen das groafite Problem.
Ab 1985 gab es das ,,Programm fur die Erziehungsarbeit in Krippen“, das als Arbeits- grundlage fur jede Erzieherin galt und rechtlich verbindlich war. In den vorangegan- gen Jahren (seit 1957 „Leitfaden fur die Erziehung in Krippen und Heimen“, seit 1968 ,, Padagogische Aufgaben und Arbeitsweise der Krippen“) wurde mit Materialien gear- beitet, die rechtlich nur empfehlenden Charakter hatten, faktisch jedoch auch schon die Grundlage fur die Vereinheitlichung der padagogischen Arbeit in den Krippen bildeten. [8]
Aufgaben zum Beispiel: ,,nennt seinen Vornamen“ oder ,,hupft am Ort“.
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- Martina Ecklebe (Autor:in), 2006, Kinder in Entwicklung - Die Gestaltung der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung in Deutschland und das vergessene Krippenwesen der DDR, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/57405