Die von 1500 bis 1800 bestimmende “Pauk“- und Memorierschule ist heute weitgehend überwunden, weil sie für die Bewältigung komplexer Lernaufgaben offensichtlich nicht ausreicht (Meyer, 2003).
Dennoch müssen Kinder heute durch Veränderungen der Lernumwelt und eine immer komplexer werdende Informationsgesellschaft eine Vielzahl von Informationen aufnehmen und präsent haben.
Ich schließe mich der These von Meyer (2003) an, die besagt, dass Schüler und Schülerinnen heute immer mehr und schneller lernen müssen, wodurch sie auch immer weniger gründlich lernen.
Die Notwendigkeit, Informationen dauerhaft abzuspeichern und sicher reproduzieren zu können, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass gerade zur Lösung komplexer Lernaufgaben spezifisches Faktenwissen benötigt wird (Wippich, 1984). Folgendes Zitat untermauert diesen Standpunkt: „A good memory is essential for intelligence and creativity“ (Morris, 1979, S. 52).
Die Behaltensleistungen von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Schwerpunkt Ler-nen sind im Vergleich mit gleichaltrigen Regelschülern signifikant schlechter und diese Defizite in der Gedächtnisleistung werden als bedeutsame Ursache unterdurchschnittlicher kognitiver Leistungsfähigkeit gesehen (Büttner, 1998).
Es stellt sich also die Frage, ob es spezifische Unterrichtsmethoden oder Lerntechniken gibt, die Schü-lern bei der Einspeicherung und dem Abruf von bedeutendem Faktenwissen hilfreich sein können.
Mnemotechniken (Techniken, die bei der Speicherung und dem Abruf von Wissen helfen können) werden in nahezu allen bedeutenden Veröffentlichungen zur Verbesserung von Lern- und Gedächtnis-leistungen beschrieben und als effektiv bewertet. (Anderson, 1996; Büttner, 1996; Kintsch, 1982; Metzig & Schuster, 2003; Neidhard, 2001; Schuster & Woschek, 1989; Ulrich, Stapf & Giray, 1996; Wippich, 1984).
Im praktischen Teil der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, eine Unterrichtseinheit zu spezifischem Faktenwissen mit ausgewählten Mnemotechniken zu gestalten, durchzuführen und auf Langzeiteffekte hin zu untersuchen. Dabei steht die Darstellung der praktischen Umsetzung dieser Unterrichtseinheit im Vordergrund. Bedingt durch den Versuchsaufbau können nur erste Hinweise für mögliche Langzeiteffekte herausgefunden werden, da die für eine beweiskräftige empirische Untersu-chung nötige Kontrollgruppe aus organisatorischen Gründen fehlt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Überblick
2. Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses
2.1 Mehrspeichermodelle
2.2 Theorie der Verarbeitungstiefe
2.3 Die duale Kode-Theorie
2.4 Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit
3. Prozesse und Faktoren für das Einprägen und Erinnern aus dem Langzeitgedächtnis
3.1 Einprägen
3.1.1 Organisation der Lernsituation
3.1.2 Bildhaftigkeit
3.1.3 Bekanntheitsgrad
3.1.4 Elaborative Verarbeitung
3.2 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis
3.3 Erkenntnisse zu Gedächtnisleistungen von Förderschülern
4. Mnemotechniken
4.1 Geschichtentechnik
4.2 Schlüsselwortmethode
5. Ableitung der Fragestellung und Formulierung der Forschungshypothesen
6. Methode
6.1 Vorüberlegungen und Voruntersuchungen
6.2 Untersuchungsplan
6.2.1 Benennung und Operationalisierung der unabhängigen
und abhängigen Variablen
6.2.1.1 Schüler einer Förderschule Schwerpunkt Lernen
6.2.1.2 Lerngegenstand
6.2.1.3 Unterrichtseinheit auf Basis ausgewählter
Mnemotechniken
6.2.1.4 Messzeitpunkte
6.2.1.5 Langzeiteffekte bei der Behaltensleistung der
Unterrichtsinhalte
6.2.2 Auswahl der Untersuchungsmethode
6.3 Untersuchungsdurchführung
6.3.1 Untersuchungsablauf
6.3.2 Beschreibung der Lerngruppe
6.3.3 Lernausgangslage
6.3.4 Lehrer und Mitarbeiter
6.3.5 Beschreibung der Unterrichtseinheit
6.3.5.1 Bezug zu theoretischen Überlegungen
6.3.5.2 Kürzübersicht über die Unterrichtseinheit
6.3.5.3 Darstellung der einzelnen Unterrichtsstunden
7. Ergebnisse
7.1 Ergebnisse der einzelnen Messzeitpunkte
7.2 Darstellung der Gesamtergebnisse
7.3 Fehlerschwerpunkte
8. Diskussion
8.1 Methodenkritik
8.2 Überprüfung der aufgestellten Hypothesen
8.3 Probleme und Umsetzung im Unterricht
8.4 Schlussbetrachtung und Ausblick
LITERATUR
ANHANG
1. Einleitung und Überblick
Die von 1500 bis 1800 bestimmende “Pauk“- und Memorierschule ist heute weitgehend überwunden, weil sie für die Bewältigung komplexer Lernaufgaben offensichtlich nicht ausreicht (Meyer, 2003).
Dennoch müssen Kinder heute durch Veränderungen der Lernumwelt und eine immer komplexer werdende Informationsgesellschaft eine Vielzahl von Informationen aufnehmen und präsent haben.
Ich schließe mich der These von Meyer (2003) an, die besagt, dass Schüler und Schülerinnen[1] heute immer mehr und schneller lernen müssen, wodurch sie auch immer weniger gründlich lernen.
Die Notwendigkeit, Informationen dauerhaft abzuspeichern und sicher reproduzieren zu können, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass gerade zur Lösung komplexer Lernaufgaben spezifisches Faktenwissen benötigt wird (Wippich, 1984). Folgendes Zitat untermauert diesen Standpunkt: „A good memory is essential for intelligence and creativity“ (Morris, 1979, S. 52).
In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 30. September 2005 wird berichtet, dass Wissenschaftler verstärkt an einem “Doping“ fürs Gehirn arbeiten (Rögener, 2006). Mit diesem sogenannten “Neuro-Enhancement“ versprechen sich große Pharmakonzerne einen profitablen Markt zu erschließen. Obwohl Gedächtnischips zur Erhöhung der natürlichen Speicherkapazität des Gehirns noch Science-Fiction sind, nehmen nach Schätzungen etwa 16 Prozent aller Studenten in den USA vor Prüfungen Ritalin um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Der Bedarf, Wege zu finden, um Wissen dauerhaft abspeichern und reproduzieren zu können, scheint sehr groß zu sein.
Die Behaltensleistungen von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen[2] sind im Vergleich mit gleichaltrigen Regelschülern signifikant schlechter und diese Defizite in der Gedächtnisleistung werden als bedeutsame Ursache unterdurchschnittlicher kognitiver Leistungsfähigkeit gesehen (Büttner, 1998).
Es stellt sich also die Frage, ob es spezifische Unterrichtsmethoden oder Lerntechniken gibt, die Schülern bei der Einspeicherung und dem Abruf von bedeutendem Faktenwissen hilfreich sein können.
Mnemotechniken (Techniken, die bei der Speicherung und dem Abruf von Wissen helfen können) werden in nahezu allen bedeutenden Veröffentlichungen zur Verbesserung von Lern- und Gedächtnisleistungen beschrieben und als effektiv bewertet. (Anderson, 1996; Büttner, 1996; Kintsch, 1982; Metzig & Schuster, 2003; Neidhard, 2001; Schuster & Woschek, 1989; Ulrich, Stapf & Giray, 1996; Wippich, 1984).
Im praktischen Teil der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, eine Unterrichtseinheit zu spezifischem Faktenwissen mit ausgewählten Mnemotechniken zu gestalten, durchzuführen und auf Langzeiteffekte hin zu untersuchen. Dabei steht die Darstellung der praktischen Umsetzung dieser Unterrichtseinheit im Vordergrund. Bedingt durch den Versuchsaufbau können nur erste Hinweise für mögliche Langzeiteffekte herausgefunden werden, da die für eine beweiskräftige empirische Untersuchung nötige Kontrollgruppe aus organisatorischen Gründen fehlt.
Das langfristige Behalten von schulischen Lerninhalten ist besonders wichtig, damit das Lernen in der Schule auch wirklich Lernen für das eigene Leben bedeutet und nicht nur dazu dient Wissen in einer nahe liegenden Prüfungssituation abrufen zu können.
Als Faktenwissen wurden in dieser Arbeit die Bundesländer Deutschlands gewählt, da sie fester Bestandteil im Lehrplan der Schule für Lernhilfe sind (Niedersächsisches Kultusministerium, 1992).
Die gewählten Mnemotechniken werden plausibler, wenn man sie auf dem Hintergrund der wichtigsten theoretischen Konzepte der Lernpsychologie versteht. Aus diesem Grund wird im theoretischen Teil dieser Arbeit u. a. auf wichtige Erkenntnisse der Lern- und Gedächtnispsychologie eingegangen.
Die vorliegende Arbeit versucht einen Beitrag zur Erweiterung des unterrichtlichen Methodenrepertoires bei der Vermittlung von spezifischem Faktenwissen zu liefern.
2. Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses
Wenn es darum geht Unterrichtsmethoden zu entwickeln, die eine längerfristige Speicherung von dargebotenen Informationen ermöglichen könnten, benötigt man Wissen über den Aufbau und die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses.
Es gibt viele Modellvorstellungen zum menschlichen Gedächtnis und somit kein allgemeingültiges Gedächtnismodell. In diesem Kapitel werden die in der Fachliteratur meistdiskutierten und anerkanntesten Modelle kurz dargestellt. Außerdem stellen diese Modelle die Grundlage für das Verständnis der in Kapitel 4 beschriebenen Mnemotechniken dar.
Die ausgewählten Gedächtnismodelle lassen sich nach Engelkamp (1990) den strukturalistischen, funktionalen und strukturell-funktionalen Theorien zuordnen. Strukturalistische Theorien befassen sich mit den strukturellen Eigenschaften des Gedächtnisses und unterscheiden zwischen mehreren Speichern (Mehrspeichermodelle). Die Eigenschaften der verschiedenen Speicher sind dabei hauptsächlich für die Behaltensleistung verantwortlich.
In funktionalen Theorien stehen die funktionalen Prozesse beim Behalten im Vordergrund. Die Strukturen, auf denen diese Prozesse operieren, sind in diesen theoretischen Ansätzen von untergeordneter Bedeutung.
Für strukturell-funktionale Theorien sind sowohl strukturelle Eigenschaften als auch funktionale Prozesse bedeutsam für die Behaltensleistung, wobei im Gegensatz zu klassischen strukturalistischen Theorien die Strukturen auf die Verarbeitung spezifischer Informationen spezialisiert sind.
2.1 Mehrspeichermodelle
Schon recht lange unterscheidet man mehrere Speicherstufen im menschlichen Gedächtnis. Am Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde von Atkinson & Shiffrin (1968) ein Gedächtnismodell entwickelt, welches drei Systeme, die seriell angeordnet sind, als Träger der Gedächtnisleistungen ansieht.
Abbildung 1 veranschaulicht den Aufbau dieses Gedächtnismodells.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Ein klassisches Gedächtnismodell (Bredenkamp, 1998, S. 48).
Zunächst werden physikalische Reizmuster, die von den menschlichen Sinnesorganen aufgenommen werden, in modalitätsspezifischen Ultra-Kurzzeitspeichern (UKZS) registriert. Diese Informationen werden nur sehr kurzfristig zwischen 200-300 Millisekunden behalten (Borchert, 1996). Weitere Analysen werden im Kurzzeitspeicher (KZS) durchgeführt. Da dieser nachgeschaltete Kurzzeitspeicher im Vergleich zum Ultra-Kurzzeitspeicher eine geringere Kapazität aufweist, gehen während des Übergangs zu ihm bereits Informationen verloren.
Nach Anderson (1996) werden nur mit Aufmerksamkeit versehene Informationen in das Kurzzeitgedächtnis überführt. Die Kapazität des Kurzeitspeichers wird auch als Gedächtnisspanne bezeichnet und umfasst etwa sieben Einheiten (Anderson, 1996; Bredenkamp, 1998; Metzig & Schuster, 2003). Durch Memorieren (stilles Wiederholen) können Informationen im Kurzzeitspeicher gehalten und in den Langzeitspeicher (LZS) übertragen werden.
Der Langzeitspeicher wird als System mit sehr großer Kapazität angesehen, das aus dem Kurzzeitspeicher eingehende Informationen über mehrere Stunden, Tage oder Jahre speichern kann. Bredenkamp (1998) gibt sogar an, dass in das Langzeitgedächtnis eingegangene Informationen für immer gespeichert werden. Wenn sie nicht erinnert werden können, liegt ein Abrufproblem der entsprechenden Information vor.
Auch Metzig und Schuster (2003) führen Untersuchungen an, die deutliche Hinweise darauf geben, dass nicht das Speichern von Informationen, sondern deren Abruf problematisch ist.
In Kapitel 3 zu den Prozessen für das Einprägen und Erinnern aus dem Langzeitgedächtnis wird näher darauf eingegangen, wie Informationen beschaffen und aufbereitet werden müssen, damit sie langfristig gespeichert und abgerufen werden können.
Eine Weiterentwicklung des beschriebenen klassischen Gedächtnismodells wurde insbesondere von Tulving (1972) vorgenommen. Dabei fand eine Unterteilung des Langzeitspeichers in verschiedene Komponenten statt die in folgender Abbildung dargestellt wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Ein modifiziertes Gedächtnismodell, das die Unterteilung verschiedener LZS berücksichtigt
(Bredenkamp, 1998, S. 60).
Das Gedächtnis für räumlich und zeitlich datierbare Ereignisse wird als episodischer Langzeitspeicher bezeichnet. Bezüglich des Wissens wird zwischen deklarativem Wissen im semantischen Langzeitgedächtnis und prozeduralem Wissen im prozeduralen Langzeitgedächtnis unterschieden.
Unter deklarativem Wissen versteht man hauptsächlich das Wissen über Fakten, das prozedurale Wissen hingegen bezieht sich auf Operationen, sprich die Fähigkeit, bestimmte Tätigkeiten ausführen zu können (Borchert, 1996; Bredenkamp, 1998).
Der semantische und prozedurale Langzeitspeicher werden in diesem Mehrspeichermodell vor dem Kurzzeitspeicher angeordnet und damit empirischen Befunden gerecht, welche den Einfluss des Vorwissen auf die Gedächtnisspanne des Kurzzeitgedächtnisses belegt haben (Bredenkamp, 1998; Ulrich et al., 1996).
2.2 Theorie der Verarbeitungstiefe
Das 1972 von Craik & Lockhart entwickelte Modell der Verarbeitungstiefe befasst sich bedeutend intensiver als die Mehrspeichermodelle mit den Prozessen, die in der lernenden Person ablaufen, wenn sie mit dem zu lernenden Material konfrontiert wird und ist somit den funktionalen Gedächtnistheorien zuzuordnen. (Bredenkamp, 1998; Engelkamp, 1990).
Nach Craik und Lockhart (1972) ist das Ausmaß der kognitiven Analyse eines Items (Begriffs) für seine Behaltensdauer entscheidend. Je tiefer diese Analyse vollzogen wird, desto dauerhafter ist die hinterlassene Gedächtnisspur. Dabei lassen sich mit der orthografischen, phonetischen und semantischen Analyse eines Substantivs drei Ebenen unterscheiden, wobei die letztgenannte Ebene die tiefste Verarbeitung ermöglicht (Ulrich et al., 1996).
Grundsätzlich wird in der Verarbeitungsebenentheorie davon ausgegangen, dass ein elaboriertes Memorieren (auf der semantischen Ebene) zu längerfristigem Behalten führt als reines Wiederholen oder Memorieren auf der orthografischen oder phonetischen Ebene (Bredenkamp, 1998).
Die Ergebnisse verschiedener Versuche zum inzidentiellen (unbeabsichtigten) und intensionalen (bewussten bzw. beabsichtigten) Lernen bestätigten die Annahme, dass die Verarbeitungstiefe ein wichtiger Faktor für längerfristiges Behalten ist (Anderson, 1996; Bredenkamp, 1998; Ulrich et al., 1996).
Kritische Befunde zeigen aber auch, dass es unter Umständen bei einer oberflächlichen Verarbeitung von Informationen zu einer besseren Behaltensleistung kommen kann als bei einer tieferen Verarbeitung.
2.3 Die duale Kode-Theorie
Die duale Kode-Theorie (Zwei-Spuren-Theorie) ist ein Beispiel für eine strukturell-funktionale Theorie.
Pavio nimmt mit einem imaginalen und verbalen System zwei voneinander unabhängige, aber manchmal verknüpfte Kodierungssysteme an (Edelmann, 2000).
Demzufolge stellt die Bildhaftigkeit eines Items eine komplementäre Gedächtnisspur zur verbalen Gedächtnisrepräsentation dar. Im Sinne dieser Theorie würde ein konkretes Item wie „Apfel“ sowohl eine bildhafte als auch eine sprachliche Gedächtnisspur hinterlassen, wohingegen ein abstrakter Begriff wie „Wahrheit“ eher nur eine sprachliche Gedächtnisspur ausbildet (Ulrich et al., 1996).
Experimentelle Befunde belegen nach Wippich (1984), dass ein analoges bildhaftes System getrennt und unabhängig vom verbalen System existieren muss. Zumindest konnten empirische Arbeiten zeigen, dass konkrete und bildhafte Wörter besonders leicht zu erlernen und zu behalten sind (Hasselhorn, 1986; Metzig & Schuster, 2003; Socha, 1988; Ulrich et. al., 1996; Wippich & Bredenkamp, 1979; Wippich. 1979). Dieser Umstand wird in Kapitel 3 näher betrachtet.
Das Vorhandensein eines analogen bildhaften Systems wird von vielen Autoren der Fachliteratur angenommen (Edelmann, 2000; Metzig & Schuster, 2003; Wippich & Bredenkamp, 1979) und von Kintsch (1982) sogar als evident angesehen. Außerdem fordern u. a. Engelkamp (1990) und Wippich (1984), dass die duale Kode-Theorie zu einer Theorie multipler Kodierung erweitert werden sollte. Akustische Gedächtniscodes und motorische Prozesse könnten beispielsweise in einem solchen multimodalen Modell berücksichtigt werden.
2.4 Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit
Zu allen dargestellten Modellen gibt es sowohl stützende als auch kritische Befunde. Einige dieser Befunde sind in den bisherigen Ausführungen genannt worden, ausführlichere Darstellungen finden sich u. a. bei Anderson (1996), Bredenkamp (1998), Metzig und Schuster (2003), Schermer (2002), Ulrich et. al. (1996) und Wippich (1982).
Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse zusammengestellt und auf ihre Relevanz für die vorliegende Arbeit überprüft.
Trotz einiger Kritik ist die Einteilung des Gedächtnisses in verschiedene Speicher in der Literatur weitgehend erhalten geblieben (Anderson, 1996; Bredenkamp, 1998; Edelmann , 2000; Hasselhorn & Schumann-Hengsteler, 2001; Kintsch, 1982; Schermer, 2002; Wippich, 1984). Dabei lässt sich die Einteilung in Ultrakurzzeit-, Arbeits- oder Kurzzeit-, und Langzeitgedächtnis vertreten. Die auf Tulving (1972) zurückgehende Unterteilung des Langzeitgedächtnisses wird in vielen Lehrbüchern ebenfalls vorgenommen (Anderson, 1996; Edelmann, 2000). Zudem kann als gesichert angesehen werden, dass neben der Dauer des Memorierens, die Verarbeitungstiefe nach Craik & Lockhart für die Behaltensleistung im Langzeitgedächtnis entscheidend ist (Anderson, 1996; Ulrich et al., 1996).
Der dualen Kode-Theorie Pavios folgend, gibt es viele experimentelle Befunde, welche die Annahme eines analogen bildhaften Systems bestätigen. Dadurch können bildhafte Items besonders gut gespeichert und abgerufen werden.
In dieser Arbeit wird versucht in einer Unterrichtseinheit Faktenwissen (deklaratives Wissen) langfristig zu vermitteln. Den Vorstellungen der Mehrspeichermodelle folgend, muss dieses Faktenwissen in den Langzeitspeicher (semantischen Langzeitspeicher) übermittelt und auch aus diesem wieder abgerufen werden können. Bei der Vermittlung müssten neben der Dauer des Memorierens insbesondere die Verarbeitungstiefe und die Bildhaftigkeit des zu vermittelnden Lernstoffes entscheidend sein.
Im folgenden Kapitel sollen die Faktoren und Prozesse genauer dargestellt werden, die für das Behalten und Abrufen aus dem Langzeitgedächtnis verantwortlich sind.
In Kapitel 4 wird am Beispiel verschiedener Mnemotechniken detailliert erläutert, welche Methoden zur Erreichung dieses Ziels beitragen können.
3. Prozesse und Faktoren für das Einprägen und Erinnern aus dem Langzeitgedächtnis
aus dem Langzeitgedächtnis
“Übung macht den Meister“, ist nicht nur eine bekannte Volksweisheit, sondern ein wichtiger Gesichtspunkt bei Lern- und Gedächtnisleistungen. Ebbinghaus konnte bereits 1885 nachweisen, wie die Behaltensleistung durch fehlende Wiederholung des Lernstoffes abnimmt (Anderson, 1996).
Veranschaulicht wird dies durch die berühmte Vergessenskurve von Ebbinghaus.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Vergessenskurve nach Ebbinghaus (Anderson, 1996, S. 167).
In zahlreichen Untersuchungen konnte eindeutig ermittelt werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Reproduktion von zuvor gelernten Items mit der Intensität der Übung ansteigt (Anderson, 1996, Ullrich et al., 1996). Anderson (1996) gibt in diesem Zusammenhang an, dass die Stärke einer Gedächtnisspur ansteigt, wenn diese benutzt wird. Die Stärke einer Gedächtnisspur bestimmt, wie schnell diese aktiviert werden und somit der entsprechende Gedächtnisinhalt verfügbar gemacht werden kann.
Übung ist allerdings nicht der einzige Faktor für ein erfolgreiches Erinnern von Gelerntem. Zahlreiche Untersuchungen zeigen eine Abhängigkeit der Behaltensleistung auch von der Art des Lernstoffs (Anderson, 1996; Kintsch, 1982; Metzig & Schuster, 2003; Ulrich et al., 1996; Wippich, 1984).
Weitere entscheidende und für die vorliegende Arbeit relevante Faktoren werden im Folgenden aufgezeigt.
3.1 Einprägen
Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Aufnahme von Informationen ins Langzeitgedächtnis. Zunächst werden Faktoren dargestellt, welche die Lernsituation definieren, anschließend folgt die Untersuchung des Einflusses von inneren oder kognitiven Faktoren bei der Informationsaufnahme.
3.1.1 Organisation der Lernsituation
Das Paarassoziationslernen, freie Reproduktion und das serielle Lernen sind experimentelle Paradigmen oder Aufgabenstellungen, die in der Tradition des verbalen Lernens den Einfluss spezifischer, experimentell kontrollierbarer Faktoren auf das Aneignen von Lernmaterial untersuchen (Ulrich et al., 1996). Beim Paarassoziationslernen muss die Versuchsperson eine Liste von Reiz-Antwort lernen. Dies ist mit dem Lernen von Vokabeln einer Fremdsprache vergleichbar (Kintsch, 1982).
Das freie Reproduzieren ist die beliebteste Methode in der Gedächtnispsychologie. Dabei muss eine Versuchsperson nach einer definierten Darbietungszeit eine möglichst große Anzahl Items von einer Itemliste in beliebiger Reihenfolge wiedergeben (Kintsch, 1982; Ulrich et al., 1996).
Für diese Arbeit ist das serielle Lernen von Bedeutung. Beim seriellen Lernen wird der Versuchsperson in einer festen Reihenfolge verbales Material angeboten, das sie sich einprägen soll.
Forschungsbefunde aus der Gedächtnisentwicklung sagen aus, dass jüngere Kinder dazu neigen Wörter in der Reihenfolge ihrer Darbietung zu wiederholen und zu reproduzieren (Kail, 1996). Damit müsste die serielle Reproduktion den Schülern in der vorliegenden Untersuchung entgegenkommen.
3.1.2 Bildhaftigkeit
Die Bildhaftigkeit hat sich in vielen psychologischen Untersuchungen als eine unabhängige Variable herausgestellt, die einen großen Beitrag zur Aufklärung der Varianz von Lern- und Gedächtnisleistungen liefert (Wippich & Bredenkamp, 1979).
Wenn ein Item (Wort) relativ leicht eine visuelle Vorstellung induziert, wird von einer hohen Bildhaftigkeit gesprochen. Dabei rufen konkrete Begriffe leichter visuelle Vorstellungen hervor als abstrakte (Kintsch, 1982; Ulrich et al., 1996).
Der Befund, dass konkrete Informationen besser behalten werden können als abstrakte Informationen, zählt zu den stabilsten Ergebnissen gedächtnispsychologischer Forschung (Wippich, 1977). Die hohe Bildhaftigkeit eines Items erhöht die Reproduktionswahrscheinlichkeit deutlich.
Kintsch (1982) gibt an, dass Lernen umso leichter wird, je eher das Lernmaterial Vorstellungsbilder hervorruft. Auch Metzig und Schuster (2003) führen vielfältige Beobachtungen in unterschiedlichen Bereichen an, die belegen, dass bildhaft dargebotenes Material oder visuelle Vorstellungen besonders leicht und dauerhaft gespeichert werden können. Ob visuelle Vorstellungen dauerhaft besser gespeichert werden können, wird in der Fachliteratur allerdings nicht einheitlich gesehen.
Wippich und Bredenkamp (1979) resümieren zum Abschluss ihrer Untersuchungen, dass unter dem Aspekt der Langzeitwirkung keine allgemeingültige Antwort auf die Frage einer potentiell unterschiedlichen Effizienz „bildhafter“ und „sprachlicher“ Lernvorgänge möglich sei.
Eine Erklärung für die guten Lernergebnisse mit bildhaftem Material oder visuellen Vorstellungen wird überwiegend in der in Kapitel 2.3 beschriebenen dualen Kode-Theorie Pavios gesehen. Metzig und Schuster (2003) führen zusätzlich an, dass Worte immer die Nennung eines schon gespeicherten Falles sind, während Bilder, auch vorgestellte Bilder, immer einzigartig und somit einprägsamer sind.
Die Nutzung visueller Vorstellungen für das Lernen sind Kernstück der in Kapitel 4 beschriebenen Mnemotechniken. Die genaue Umsetzung und Funktion der visuellen Vorstellungen wird im angegebenen Kapitel näher erläutert.
3.1.3 Bekanntheitsgrad
Im pädagogischen Kontext wird oft davon gesprochen, das Kind beim Lernen dort abzuholen, wo es steht. Aus lern- und gedächtnispsychologischer Sicht hängt das damit zusammen, dass der Mensch nur neue Informationen lernen und speichern kann, wenn diese mit bereits bekanntem Wissen verbunden werden (Edelmann, 2000). Folglich zeigen Untersuchungen, dass Wörter mit hohem Bekanntheitsgrad leichter gespeichert werden können als unbekannte Wörter (Ullrich et al., 1996).
Die hohe Bildhaftigkeit eines Items scheint jedoch für die Reproduktionswahrscheinlichkeit noch wichtiger zu sein als die Bedeutungshaltigkeit (Metzig & Schuster, 2003; Ulrich et al., 1996).
Mit Hilfe von Mnemotechniken wird auch versucht, für die lernende Person unbekannte und unbedeutende Informationen so “umzuwandeln“, dass sie mit bekannten Informationen verbunden und somit leichter lernbar werden. Dieses Vorgehen wird ebenfalls in Kapitel 4 näher beschrieben.
3.1.4 Elaborative Verarbeitung
Nachdem bisher der Einfluss bestimmter (externer) Faktoren auf die Lernleistung betrachtet wurde, soll im Folgenden ein interner kognitiver Vorgang bei der Informationsaufnahme in den Vordergrund treten.
Bei kognitiven Prozessen, die bei der Informationsaufnahme ins Langzeitgedächtnis von Bedeutung sind, ist zuerst die elaborative Verarbeitung zu nennen. Diese bezieht sich auf den in Kapitel 2.2 beschriebenen Ansatz der Verarbeitungstiefe von Craik & Lockhart (1972). Bei der elaborativen Verarbeitung wird das zu behaltende Material um zusätzliche Informationen angereichert und kann dadurch besser behalten werden. Anderson (1996) stellt fest, dass selbstgenerierte Elaborationen effektiv sind, da sie die idiosynkratischen (selbstgenerierten) Wissenszusammenhänge des Einzelnen widerspiegeln. Trotzdem können auch nicht selbstgenerierte Elaborationen effektiv sein, wenn diese das zu erinnernde Material zwingend treffen. Schuster und Woschek (1989) geben sogar an, dass vorgegebene visuelle Vorstellungen und Bilder bei lernschwachen Kindern nötig sind.
Wenn beim Lernen Informationen elaboriert werden, kann mehr vom gelernten Material wiedergegeben werden.
Kintsch (1982) sagt sogar, das die Bedeutung, die die Bildung eines reichhaltigen, elaborierten Gedächtiscodes – besonders eines Codes, der bedeutungsmäßige und bildhafte Elemente umfasst – für das Langzeitgedächtnis kaum übertrieben werden kann. Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit, dass zudem Sachverhalte reproduziert werden, die nicht in den ursprünglichen Inhalten vorkamen (Anderson, 1996).
Die elaborative Verarbeitung ist neben den bisher schon angesprochenen Faktoren ein wichtiger Bestandteil von Mnemotechniken und wird in Kapitel 4 näher erläutert.
3.2 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis
“Mir liegt es auf der Zunge“, dieser Ausspruch ist sicherlich den meisten Menschen schon einmal über die Lippen gegangen. Man ist sich darüber bewusst eine bestimmte Information im Gedächtnis zu haben, kann diese aber nicht abrufen.
Nach Kintsch (1982) ist es nicht klar, ob Informationen, die sich bereits im Langzeitgedächtnis befinden, jemals in dem Sinn vergessen werden können, dass sie aus dem Gedächtnis verloren gehen.
Beim menschlichen Gedächtnis scheinen meist nicht Probleme bei der Einspeicherung von neuen Informationen im Vordergrund zu stehen, sondern Schwierigkeiten neu eingespeicherte Informationen wieder abzurufen (Metzig & Schuster, 2003).
Dabei belegen insbesondere Forschungsbefunde aus der Neurobiologie, dass im menschlichen Gedächtnis deutlich mehr Informationen abgespeichert sind, als aktiv abgerufen werden können (Anderson, 1996; Ulrich et al., 1996).
Um neue Informationen nicht nur abzuspeichern, sondern auch wieder reproduzieren zu können, sind Abrufhinweisreize von großer Bedeutung. Bei Abrufhinweisreizen handelt es sich um Hinweise, die zur eigentlich gesuchten Information im Gedächtnis führen. Wissen ist im menschlichen Gedächtnis netzwerkartig organisiert, so dass eine gesuchte Information rekonstruiert werden kann.
„Wenn man sich an einen speziellen Sachverhalt nicht erinnern kann, dann kommt es vor, dass man damit zusammenhängende Sachverhalte abrufen und auf dieser Basis den Zielsachverhalt erschließen kann.“ (Anderson, 1996, S. 207).
Die Ergebnisse einer von Ulrich et al. (1996) geschilderten Studie belegen, dass ein wesentlicher Teil von gespeichertem Wissen solange nicht zugänglich ist, bis entsprechende Hinweisreize den Abrufvorgang leiten. Allerdings belegen zahlreiche Arbeiten, dass Hinweisreize die Reproduktion nur dann erleichtern, wenn sie sowohl zum Zeitpunkt der Speicherung als auch zum Zeitpunkt des Abrufs zur Verfügung standen (Kintsch, 1982; Ulrich et al., 1996).
Die Bildung geeigneter Hinweisreize wird ein gewichtiger Faktor für das Gelingen der in Kapitel 6.3.5 beschriebenen Unterrichtseinheit zu den Bundesländern Deutschlands sein.
Die Schlüsselwortmethode (Kapitel 4.2) wird dabei die Lerntechnik darstellen, bei der die Hinweisreize mit dem Lernstoff verbunden werden.
Neben Hinweisreizen sind Schemata und die Organisation des Lernmaterials wichtige Faktoren für den erfolgreichen Abruf aus dem Langzeitgedächtnis. Da diese Faktoren für diese Arbeit nicht entscheidend sind, sollen sie an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Nähere Informationen finden sich u. a. bei Anderson (1996), Bredenkamp und Wippich (1977), Kintsch (1982), Schermer (2002) und Ulrich et al. (1996).
[...]
[1] Aus leserfreundlichen Gründen wird in diesem Entwurf allgemein von “Schülern“ gesprochen, die Schülerinnen sind in
diesen Begriff selbstverständlich mit einbezogen.
[2] Schüler mit einem Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen werden im Folgenden als Förderschüler
bezeichnet. Gemeint sind alle Schüler, denen mittels eines sonderpädagogischen Gutachtens ein
Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen attestiert worden ist.