Die Hausarbeit versucht Henley nicht nur auf die Funktion des personifizierten Bösen zu reduzieren. Meiner Meinung nach ist Henley ein facettenreicher Charakter, in dessen Handeln sich die anderen Figuren wiedererkennen und auf ihn reagieren. Die Beziehungslosigkeit zu allem Menschlichen ist ein Merkmal seines Charakters. Außerdem wird in der Arbeit analysiert, wie sehr die religiösen Werte an der Beseitigung des Henley scheitern. Bei der Literaturrecherche war die Internetseite der Uni Leipzig über Brawe sehr hilfreich.4 Neben einer ausführlichen Bibliographie über sein Werk, werden u.a. Briefe und Rezensionen seiner Zeitgenossen veröffentlicht. Das Brawe-Archiv wird regelmäßig aktualisiert. Die Hausarbeit orientiert sich in der Interpretation eng an den Text. Neben neueren Forschungsergebnissen, werden Quellen von Brawes Zeitgenossen behandelt.
INHALTSVERZEICHNIS
A Einleitung
B Hauptteil
1. Henley als Störenfried der bestehenden Ordnung
1.1. Der verhinderte Freigeist Henley
1.2. Vergleich von Brawes und Gellerts Auffassung der Freigeisterei
1.3. Henley zwischen dem höfischen Ehrbegriff und der Unsicherheit
1.3.1. Der Zweikampf als bewußter Regelverstoß
1.3.2. Henleys Unsicherheit
1.3.3. Henleys Verleugnung der Tugend
1.4. Die Dämonisierung der Intrigantenrolle
1.4.1. Der zweideutige Zynismus
1.4.2. Der eigene Gott
2. Die zerstörerische Leidenschaftlichkeit
2.1. Der Ursprung der Leidenschaftlichkeit und Empfindsamkeit
2.2. Abhängigkeit von der Leidenschaft
2.3. Sprachlicher Kontrollverlust
3. Manipulation und Verführung einer tugendhaften Person
3.1. Henleys Maskierung als einfühlsamer Freund
3.1.1. Die getarnten Waffen
3.1.2. Das Ausspielen der Schwächen als Taktik
3.2. Freigeisterei als Verführungsmittel
3.2.1. Clerdons Sinnsuche
3.2.2. Die bedrohte Religion
3.3. Der unfreie Mensch
4. Henleys Handlungsrelevanz
4.1. Henleys Funktion der Abschreckung
4.1.1. Die Rückbesinnung auf die Tugend
4.1.2. Das Verzeihensmodell am „Unmenschen“ Henley
4.2. Der ungelöste Generationskonflikt
4.3. Der fehlerhafte Mensch
4.4. Die verweigerte Erlösung
C Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Andere zeitgenössische Literatur
3. Sekundärliteratur
4. Internetquelle
A Einleitung
Joachim Wilhelm von Brawes bürgerliches Trauerspiel[1] „Der Freigeist“[2] aus dem Jahr 1757 erzählt von dem Verführer Henley, der das Leben des vom Schicksal begünstigten Clerdon zerstören will. Auslöser für Henleys Eifersucht ist Clerdons vorbildlicher Charakter, der ihm viele Möglichkeiten eröffnet. So hat sich Clerdon mit Amalia, der Schwester Granvilles, verlobt, obwohl auch Henley sie heiraten wollte. Mithilfe der Freigeisterei verstrickt Henley Clerdon zunehmend in moralische und sittliche Regelverstöße. Granville ist Henleys Widersacher, er vertritt die frühaufklärerische Moralauffassung und er möchte Clerdon wieder der Tugend und der christlichen Religion zuführen. Henley spinnt seine Intrigen so, daß Clerdon in Granville einen Feind sieht. Im Zweikampf ermordet Clerdon den Freund. Als ihm die wirkliche Persönlichkeit des Henley bewußt wird, tötet er Henley und sich selbst.
Brawe stellt die Individuen in extremen Situationen dar. Die Protagonisten stehen zwischen ihren Gefühlen und der Moralauffassung ihrer Gesellschaft. Dabei motivieren Henleys Rachepläne die Handlung. Die Arbeit untersucht, inwieweit er das Geschehen durch seine Verhaltensweisen und Merkmale beeinflußt. Mit einer Kombination von Henleys egoistischer Ehrauffassung und Leidenschaftlichkeit versucht er die bürgerliche Weltanschauung, die in der Familie dargestellt ist, zu zerstören. Indem er sich vor seinem Konkurrenten Clerdon als Freund ausgibt, entfaltet er seine Intrigen aus dem Inneren der zivilen Ordnung. Die Hausarbeit prüft, wie sehr Henley selbst zum Opfer seiner Vorgehensweise wird, da er eine Abhängigkeit zur Leidenschaftlichkeit entwickelt. Dies wird u.a. an seiner Artikulations- und Handlungsweise interpretiert.
Die Arbeit geht auf den Begriff der Freigeisterei ein. Brawe folgt Gellerts Modell in dessen dritten Moralischen Vorlesung[3]. Es wird in diesem Punkt nachgeprüft, wieweit Henley überhaupt eine Weltanschauung oder Grundsätze besitzt. Auf Gellerts Religionsanschauung kann nicht ausführlich eingegangen werden, da es den Umfang der Hausarbeit sprengen würde. Ebenso entfällt eine ausführliche Behandlung von Granvilles Position und seiner Taktik zu Clerdons Bekehrung.
Die Hausarbeit versucht Henley nicht nur auf die Funktion des personifizierten Bösen zu reduzieren. Meiner Meinung nach ist Henley ein facettenreicher Charakter, in dessen Handeln sich die anderen Figuren wiedererkennen und auf ihn reagieren. Die Beziehungslosigkeit zu allem Menschlichen ist ein Merkmal seines Charakters. Außerdem wird in der Arbeit analysiert, wie sehr die religiösen Werte an der Beseitigung des Henley scheitern.
Bei der Literaturrecherche war die Internetseite der Uni Leipzig über Brawe sehr hilfreich.[4] Neben einer ausführlichen Bibliographie über sein Werk, werden u.a. Briefe und Rezensionen seiner Zeitgenossen veröffentlicht. Das Brawe-Archiv wird regelmäßig aktualisiert. Die Hausarbeit orientiert sich in der Interpretation eng an den Text. Neben neueren Forschungsergebnissen, werden Quellen von Brawes Zeitgenossen behandelt.
B Hauptteil
1. Henley als Störenfried der bestehenden Ordnung
1.1. Der verhinderte Freigeist Henley
Im Drama muß die Philosophie der Freigeisterei von den Racheplänen des Henley differenziert werden, da Henley selbst kein Freigeist ist, aber dessen Merkmale besitzt:
„Henley: […] rede ich gleich die Sprache des Freigeistes, so fällt es mir doch schwer, so zu denken – wie sehr wünschte ich das Gegenteil!“[5]
Er wird von Vertretern der bürgerlichen Ordnung wie z.B. Granville als „Bösewicht“[6] bezeichnet, der sich gegen die christliche Religion stellt. Sein egoistisches Lebenskonzept, das er als Freigeisterei vor Clerdon ausgibt, bedeutet keine fortschrittliche und menschliche Philosophie. Es geht ihm alleine um die Rache an Clerdon. Die Freigeisterei ist für Henley nur ein intellektuelles Mittel der Verführung, um seine persönliche Motivation zu tarnen. Henley kann sich keiner Weltanschauung anpassen, weil seine selbstsüchtige Ehrauffassung ihn daran hindert:
„Vielleicht würde ich selbst ein eifriger Verehrer der Religion sein, besäße ich nicht das, was große Geister Ehre, der gemeine Haufe Rachgier nennt. Die Religion verbeut es, ich kann sie nicht lieben.“[7]
Er entschied sich für ein Leben außerhalb der gesellschaftlichen Normen, denn mit dem „gemeine Haufen“[8] kann er sich nicht identifizieren. Er verachtet die anderen Menschen sogar, besonders diejenigen, die dem niederen Stand angehören. Stattdessen verlangt er von der Welt und der Religion, daß sie sich ihm anpaßt und nicht umgekehrt. Die Unmöglichkeit dieses Konzeptes verursacht Frustration bei ihm, denn insgeheim wünscht er sich ein Teil von einer Gemeinschaft, der Religion oder der Freigeisterei, zu werden.
Die Verwendung der Freigeisterei als bloßes Mittel für Henleys Rachepläne wertet die Freigeisterei im Drama als Philosophie zusätzlich ab. Wenn nicht einmal die Vertreter der Freigeisterei ihren Lehren glauben, dann können sie nicht ernst genommen werden.
1.2. Vergleich von Brawes und Gellerts Auffassung der Freigeisterei
Anders als in England, wo die „Free-thinker“ Anfang des 18. Jahrhunderts ihren Ursprung haben[9], lehnte man in der frühen Aufklärung die philosophische Lebenskonzeption der Freigeister in Deutschland ab.[10]
Mönch entdeckte Gemeinsamkeiten von Brawes und Gellerts Religionsauffassung und in der Kritik an die Freigeisterei.[11] Brawe besuchte an der Leipziger Universität die Vorlesungen des Morallehrers Gellert, der sich gegen die Freigeisterei wandte.[12]
Gellert sieht in der religiösen Moral größere Vorzüge als in der philosophischen für die Charakterbildung des Menschen. Die christliche Religion ermöglicht u.a. eine Erschließung der Wahrheiten, Tugenden und der „Pflichten der Liebe“[13].[14] Granville ist z.B. eine Dramenfigur, die Gellerts Moralauffassung teilt. Er folgt den „sanften Gesetzen der Religion“[15]. Diese Auslegung von christlicher Religion verbindet den Vernunftgedanken der Aufklärung mit den religiösen Dogmen, die auch den Glauben an die Offenbahrung einschließen.[16] Gellert bezeichnet die Freigeisterei als eine „Frechheit des Unglaubens“[17]. Ein Freigeist befolgt nach Gellert die Grundsätze des „Eigennutzes“[18] und richtet sein Leben nach dem „Vergnügen“[19] aus:
„Unser [der Freigeister] Gott ist der Eigennutz, die Selbstliebe, und das Vergnügen der Sinne. Werden wir ihm nicht seine Freuden mit List oder Gewalt entreißen, so bald er unser Vergnügen befiehlet? Was ist mir an seiner Ruhe gelegen, wenn ich die meinige durch die Zerstörung der seinigen befördern kann? Ich raube sie ihm. Aber er wird sich widersetzen? So widersetze ich mich auch. Er bietet List und Tücke, Gift und Meuchelmord auf, zu seinem Ziele zu gelangen; ich auch. Ewiger Krieg des Eigennutzes und der Frechheit! Ist kein gerechter Gott, keine Tugend, keine Unsterblichkeit der Seele, und also keine ewige Belohnung oder Strafe; was soll mich abhalten, so oft ich kann, der Stimme meiner erhitzten Leidenschaften zu gehorchen?“[20]
Gellert nimmt die Freigeisterei durch ihre egoistische Weltsicht als eine Störung der bestehenden Ordnung wahr. Freigeister werden als ungläubige Philosophen dargestellt, die „keinen Unterschied im Guten und Bösen“[21] erkennen.
Ähnlich wie bei Henley ist die Leidenschaft ein Merkmal der Freigeisterei. Henley führt einen ewigen „Krieg des Eigennutzes“[22]. Die Manipulation als „List und Tücke“[23] soll ihn seinen egoistischen Zielen näherbringen.
Mönch sieht im „Freigeist“ eine direkte Umsetzung von Gellerts christlicher und moralischer Unterweisung in Dramenform.[24] Da Brawe Henley aber in den Mittelpunkt stellt und zum Schluß triumphieren läßt, ist Mönchs These angreifbar. Granville, Clerdons Verlobte Amalia sowie die Diener Truworth und Widston sind die Vertreter der aufklärerischen Religionslehre wie sie Gellert vertritt. Im Mittelpunkt aber stehen der Verführer Henley und der zweifelnde Clerdon. Es gibt zwei unterschiedliche moralphilosophische und religiöse Positionen. Gellert vertritt nur eine Anschauung im Drama. Außerdem stellt Brawe die Freigeisterei differenzierter dar. So fügt er dem egoistischen Ehrbegriff der Freigeisterei nach Gellert Henleys Streben nach Heldentum hinzu. Die Auswirkungen der Leidenschaften, die ein Merkmal der Freigeisterei ist, schließt bei Brawe tugendhafte Personen ein. Die Grenzen zwischen den Eigenschaften der Freigeisterei und der christlichen Ordnung sind bei Brawe durchlässig.
1.3. Henley zwischen dem höfischen Ehrbegriff und der Unsicherheit
Henleys Ehrbegriff unterscheidet sich in seinen egoistischen Zielen von der aufklärerischen Ehre, die mit moralischen Werten wie Pflichtgefühl und Treue verbunden ist.[25] In Henleys Welt muß der einzelne sich ständig nach dem Prinzip des Stärkeren behaupten. Wird die Ehre verletzt, so besitzt man das Recht auf Rache. Das Wohlergehen des Individuums stellt Henley über die Gemeinschaft.
Mit seinem Racheplan möchte Henley Spuren hinterlassen, die bis in die Zukunft reichen. Er ist nicht auf eine kurzfristige Befriedigung seiner Mordlust aus. Darin unterscheidet er sich von einem affektgesteuerten Verbrecher. Seine Taktik geht über das Vergiften der menschlichen Seele hinaus. Henley hat eine sadistische Freude am Spiel der Manipulation:
„[…]Gemeine Geister sind zufrieden, wenn sie ihren Gegnern nur ihre itzigen Tage vergiften. So enge Grenzen sind für mich nicht gemacht. Ich will meinen Beleidiger, wo es möglich ist, noch bis über die Pforten des Grabes verfolgen und mich an der stolzen Vorstellung ergötzen, ihm selbst jenes Glück vernichtet zu haben, das sonst über alle sterbliche Gewalt erhaben ist. […]“[26].
Er sieht sich als einen Helden, der sich über die bestehende Ordnung und das Schicksal hinwegsetzten kann. Henleys Streben nach Ehre ist Ausdruck seiner Verunsicherung und eine Trotzreaktion auf seine gesellschaftliche Degradierung zum Außenseiter. Henley demonstriert nach außen Stärke und Gefühlskälte vor Clerdon. Aber in Wirklichkeit kann er sich nicht von der christlichen Tugend lösen.[27]
1.3.1. Der Zweikampf als bewußter Regelverstoß
Der Zweikampf, ein eingedeutschtes Synonym für Duell[28], ist für Henley ein Mittel zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Anerkennung. Das Duell wurde in den Adelskreisen von der militärischen Tradition der Ehrverteidigung übernommen.[29] Henley gehört der höfischen Gesellschaft nicht an, aber er entscheidet sich für ihren Ehrbegriff und ihre Rituale, um sich aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorzuheben. Außerdem entspricht der Zweikampf seiner Auffassung vom virilen Heldentum.
Nach Elias lösten die gesellschaftlichen Zwänge und starren Zeremonien am Hof das Bedürfnis nach individueller Freiheit aus.[30] Ebendiese individuelle Freiheit und Beherrschung von anderen Menschen verfolgt auch Henley. Er begeht mit dem Duell bewußt einen Regelverstoß, indem er sich über die bürgerlichen und christlichen Moralvorstellungen von der Menschenwürde hinwegsetzt. Seine Abgrenzung von der bestehenden Norm ist als eine Art Trotzreaktion auf die bürgerlichen Verbote und seine gesellschaftliche Isolation zu verstehen.
Henley überredet Clerdon zu einem Zweikampf mit Granville, da dieser angeblich gegen seinen Freund intrigiert. Clerdon hält den Zweikampf anfangs noch „für einen nur feierlichen Frevel, für prahlende Niederträchtigkeit“[31]. Er vertritt die aufklärerische Position, die den egoistischen Ehrbegriff aus der höfischen Gesellschaft ablehnt. Henley überzeugt ihn schließlich vom Gegenteil, indem er Clerdon einen Verlust seines Ansehens durch „Spott“[32] prophezeit, wenn er seine Ehre nicht verteidigt:
„Clerdon (aufgebracht): Was raten Sie mir Henley!
Henley: Was die Ehre befiehlt, was Ihre Pflicht ist – Granvillen zu töten.
[…]
Clerdon: Ich soll niedrig genug sein, mich der Schmach eines Meuchelmordes zu unterwerfen? Ich soll ehrlos werden, die Rechte meiner verletzten Ehre zu ahnden?
Henley: Mein Eifer hat verursacht, daß ich zweideutig redete. Zwingen Sie ihn zum Zweikampf, nur unter solchen Umständen, daß er ihn nicht ausschlagen kann.“[33]
Henley hat es in seiner Zweideutigkeit ausgesprochen, es geht ihm um Mord, nicht um einen fairen Kampf. Da er Clerdon, der eigentlich ein tugendhafter Mensch ist, nicht zum heimtückischen Töten überreden kann, legitimiert er den Mord unter den Vorwand des Zweikampfes. Die Nähe zum Kontrahenten im Dolchkampf macht die Grenzüberschreitung für Clerdon besonders schmerzhaft, weil die Distanz zwischen Mörder und Opfer aufgehoben ist.
1.3.2. Henleys Unsicherheit
Das Festhalten an alten Prinzipien wie dem höfischen Ehrenkodex zeigt Henleys Verunsicherung in der bürgerlichen Welt. Henley stellt sich als ein Opfer dieser Gesellschaft dar:
„[…] Unsre beiden Häuser sind stets teils durch die Bande der Verwandtschaft, teils durch die Nachbarschaft ihrer Güter und andere Umstände verknüpft gewesen, und eben diese genauen Verbindungen haben unaufhörlich eine geheime Eifersucht unter ihnen genähret. […]“[34]
Die enge räumliche und soziale Bindung ermöglicht Henley und Clerdon keine Distanz. Sie sind dazu gezwungen, sich ständig zu vergleichen. Henley bekommt jedesmal vorgehalten, was er nicht besitzt. Clerdon ist in vielen Beziehungen ein „Begünstigter“[35], während sich Henley als vom Schicksal Benachteiligten sieht. Die Eifersucht ist seine Motivation:
„Überall verdunkelte er alle seine Freunde, man vergaß ihrer oder kannte sie nur unter dem Charakter seiner Freunde. Meine Eifersucht ward aufgebracht. Sie verdoppelte sich, da er bei verschiedenen Gelegenheiten, als wir uns um einerlei Bedienungen bewarben, Hoffnungen erhielt, die man mir versagte. Überall mußten wir Nebenbuhler sein, und überall siegte er.“[36]
Neben Clerdons vorbildlichem Charakter sehen die Schwächen der Verdunkelten wie Henley besonders schlecht aus. Clerdon dient ihm als Projektion für sein Versagen: Nicht Henley selbst ist schuld an seinem verfehlten Leben, sondern Clerdon, da er wegen seiner angeblichen Vollkommenheit keinen Raum für andere läßt.
1.3.3. Henleys Verleugnung der Tugend
Henley greift Clerdons Tugendhaftigkeit an. Sie steht für Henleys Scheitern in der bürgerlichen Gesellschaft, die ihm seine eigene Ehre und Wertigkeit aberkennt. Die Tugendhaftigkeit, die für ihn unerreichbar ist, ist sein eigentlicher Feind, nicht der Privatmensch Clerdon:
„Ebendiese glänzenden Vorzüge, diese so gerühmten Tugenden, durch die er mir überlegen ward, beschloß ich ihm zu rauben; aus dieser erhabenen Sphäre ihn herabzustoßen, ihn zum Lasterhaften, zum Frevler, ja womöglich zum Ungeheuer zu erniedrigen […] Dies war mein großer Entwurf.“[37]
Die Tugend ist für Henley ein bedeutender Wert, denn das Laster ist für ihn das schlimmste Vergehen, um Clerdon von der Religion zu entfremden. Damit beweist er, wie sehr er eigentlich die moralischen Richtlinien seiner Gesellschaft verinnerlicht hat. Lessing schrieb hierzu in einem Brief an Moses Mendelsohn über Brawes Henley:
[...]
[1] Anm.: Die Sekundärliteratur zählt das Drama zu den bürgerlichen Trauerspielen. Vgl. Karl Siegfried Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, 5. Auflage, Metzler, Stuttgart 1994, S.57.
[2] Anm.: Die Hausarbeit folgt der Ausgabe: Joachim Wilhelm von Brawe: Der Freigeist. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen aus dem Jahre 1757, in: Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren, hrsg. v. Fritz Brüggemann, Deutsche Literatur, Sammlung literarischer Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung, Bd.8, Reclam, Leipzig 1934, S. 272-332.
[3] Anm.: Christian Fürchtegott Gellert: Dritte Vorlesung, von dem Vorzuge der heutigen Moral vor der Moral der alten Philosophen, und von der Schrecklichkeit der freygeisterischen Moral, Moralische Vorlesungen, Moralische Charaktere, hrsg. von Sibylle Späth, 6. Band, Walter de Gruyter, Berlin; New York 1992, S. 33-48.
[4] Brawe Ressourcen, hrsg. von Frank Fischer; Jörg Riemer, auf: http://brawe.uni-leipzig.de/start.html, 20.12.2003.
[5] Zitat aus ebda., 1. Aufzug, 3. Auftritt, S. 280.
[6] Zitat aus „Der Freigeist“, 3. Aufzug, 1. Auftritt, S. 284.
[7] Zitat aus ebda.
[8] Zitat aus ebda.
[9] Vgl. August Sauer : Joachim Wilhelm von Brawe, der Schüler Lessings, Trübner, Straßburg 1878, S. 34.
[10] Vgl. Else Liepe: Der Freigeist in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Diss. Kiel 1930, S. 12.
[11] Vgl. Cornelia Mönch : Abschrecken oder Mitleiden, das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert, Versuch einer Typologie, Niemeyer, Tübingen 1993, S. 108.
[12] Vgl. ebda.
[13] Zitat aus Christian Fürchtegott Gellert: Dritte Vorlesung, S. 43.
[14] Vgl. ebda.
[15] Zitat aus „Der Freigeist“, 4. Aufzug, 6. Auftritt, S. 318.
[16] Vgl. Gellert: Dritte Vorlesung, S. 43.
[17] Zitat aus ebda., S. 45.
[18] Zitat aus ebda.
[19] Zitat aus ebda.
[20] Zitat aus ebda.
[21] Zitat aus ebda.
[22] Zitat aus ebda.
[23] Zitat aus ebda.
[24] Vgl. Mönch: Abschrecken oder Mitleiden, S. 110.
[25] Vgl. Peter-André Alt: Das bürgerliche Trauerspiel als Charakterdrama, Brawes „Freigeist“ (1758), in: Tragödie der Aufklärung, eine Einführung, Francke, Tübingen; Basel 1994, S. 229.
[26] Zitat aus „Der Freigeist“, 1. Aufzug, 3. Auftritt, S. 280.
[27] Siehe hierzu „1.3.3. Henleys Verleugnung der Tugend“, S. 10.
[28] Vgl. Jakob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 16. Band, Hürzel, Leipzig 1954, Spalte 1058.
[29] Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung, Soziologie und Geschichtswissenschaft, soziologische Texte, Band 54, hrsg. von Heinz Maus; Friedrich Fürstenberg; Frank Bensler, 4. Auflage, Luchterhand, Darmstadt; Neuwied 1979, S. 150.
[30] Vgl. ebda.
[31] Zitat aus „Der Freigeist“, 3. Aufzug, 5. Auftritt, S. 305.
[32] Zitat aus ebda.
[33] Zitat aus ebda., 3. Aufzug, 5. Auftritt, S. 304f.
[34] Zitat aus ebda., 1. Aufzug, 1. Auftritt, S. 274.
[35] Zitat aus ebda.
[36] Zitat aus ebda., 1. Aufzug, 1. Auftritt, S. 274.
[37] Zitat aus ebda., S. 275.
- Arbeit zitieren
- Melanie Kaacksteen (Autor:in), 2003, Merkmale, Verhaltensweise und Handlungsrelevanz der Intrigantenrolle in "Der Freigeist" von Brawe, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/55106