In seinen Werken “Wider den Methodenzwang” (1975) sowie “Erkenntnis für freie Menschen” (1976) hat Paul Feyerabend die grundlegende Problematik festgestellt, dass die größten Errungenschaften der Wissenschaft durch das Brechen von Regeln erzeugt worden sind (Feyerabend, 1986). Die großen Durchbrüche in der Wissenschaft wurden von Forschern erzielt, die die Methoden ihrer Vorgänger verwarfen und nicht - wie oft geglaubt – anerkannten Methoden folgten. Auf Seite 39 in “Wider den Methodenzwang” schreibt Feyerabend: “Es ist bekannt [...], daß die Newtonsche Theorie dem Galileischen Fallgesetz und den Keplerschen Gesetzen widerspricht; daß die statistische Thermodynamik dem zweiten Hauptsatz der phänomenologischen Theorie widerspricht; daß die Wellenoptik der geometrischen Optik widerspricht; und so weiter” (Feyerabend, 1986). Die Wissenschaft ist also faktisch gesehen relativistisch und kann keine allgemeine auf Dauer angelegte Geltung beanspruchen wie in unserer jetzigen hierarchischen Wissenschaftsgesellschaft.
Universität Passau
Philosophische Fakultät
“Wie kann eine Gesellschaft in der Praxis funktionieren, in der es keine hierarchischen Wissenschaften gibt, die über dem Alltagswissen stehen?“
Seminararbeit im Rahmen der Veranstaltung
Anarchistische Wissenschaftstheorie - Feyerabend
Sommersemester 2018
Verfasser: Vaidotas Norkus
Fachsemester: 7.
Studiengang: B.A. Staatswissenschaften
Modul: Sozialwissenschaftliche Methoden
Abgabetermin: 18.08.2018
I. Einleitung
In seinen Werken “Wider den Methodenzwang” (1975) sowie “Erkenntnis für freie Menschen” (1976) hat Paul Feyerabend die grundlegende Problematik festgestellt, dass die größten Errungenschaften der Wissenschaft durch das Brechen von Regeln erzeugt worden sind (Feyerabend, 1986, S.14). Die großen Durchbrüche in der Wissenschaft wurden von Forschern erzielt, die die Methoden ihrer Vorgänger verwarfen und nicht - wie oft geglaubt – anerkannten Methoden folgten. Auf Seite 39 in “Wider den Methodenzwang” schreibt Feyerabend: “Es ist bekannt [...], daß die Newtonsche Theorie dem Galileischen Fallgesetz und den Keplerschen Gesetzen widerspricht; daß die statistische Thermodynamik dem zweiten Hauptsatz der phänomenologischen Theorie widerspricht; daß die Wellenoptik der geometrischen Optik widerspricht; und so weiter” (Feyerabend, 1986, S. 39). Die Wissenschaft ist also faktisch gesehen relativistisch und kann keine allgemeine auf Dauer angelegte Geltung beanspruchen wie in unserer jetzigen hierarchischen Wissenschaftsgesellschaft.
Als Alternative für die jetzige methodengeleitete und fortschrittsgläubige Wissenschaft stellt Feyerabend die anarchistische Wissenschaftstheorie vor (Feyerabend, 1986, S. 33).
Seine drei Thesen gegen den Methodenzwang könnte man wie folgt zusammenfassen:
1) Es gibt keine allgemeine Methode, an die sich alle Wissenschaften halten.
2) Es kann keine allgemeine Methode existieren, da Wissenschaften nur unter den Bedingungen des Methodenpluralismus vollzugsfähig sind.
3) Aus dem Fehlen einer allgemeingültigen Methode folgt die These, dass die wissenschaftlichen Beschreibungen der Welt anderen Traditionen nicht überlegen sind.
Feyerabend widerlegt also die Idee eines progressiven Fortschrittsgedankens durch die Wissenschaften mit den empirischen Argumenten der Wissenschaftsgeschichte. Eine werturteilsfreie Wissenschaft ist laut Feyerabend in der Realität nicht vorhanden, da Forscher nicht von ihren Meinungen, ihrem Glauben oder ihrem kulturellen Hintergrund abweichen können und ihre Forschung mit dem feststehenden Ergebnis, das sie beweisen wollen, beginnen (Feyerabend, 1986, S. 16).
Laut Feyerabend spielt bei der Dominanz der Wissenschaft gegenüber anderen Erkenntnisquellen vor allem das Interesse, die Macht, Propaganda und Gehirnwäsche zur Kontrolle der Bevölkerung eine wichtigere Rolle als es je zugegeben wird (Feyerabend, 1986, S. 24). Zudem widersteht die wissenschaftliche Tradition der Förderung von Individualität und lässt eine freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht zu (Feyerabend, 1986, S. 17). Dies bedeutet, dass die jetzige Wissenschaft nicht mit den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft zu vereinen ist (Feyerabend, 1986, S. 104).
Aus dieser umfassenden Kritik von Feyerabend mit den damit verbundenen Thesen, dass die jetzige Wissenschaft nicht besser ist als andere Erkenntnisquellen von anderen Traditionen, stellt sich die logische Frage: Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, in der es keine hierarchische Erkenntnisautorität wie die Wissenschaft gibt, die über dem Alltagswissen steht? Wäre die anarchistische Wissenschaft eine Gefahr für unser jetziges Gesellschaftssystem?
II. Deskription: Die Struktur der anarchistischen Wissenschaft
Die allgemein anerkannte Definition von Wissenschaft lautet: Wissenschaft ist die wahre, begründete Überzeugung (Platon, 369 v. Chr.). Nach Feyerabend müsste diese Definition zur Vollendung eines wissenschaftlichen Anarchismus umgeschrieben werden in: “Wissenschaft ist eine begründete Überzeugung”, denn die Wissenschaft hat keinen universellen Wahrheitsanspruch für die Erkenntnis einer freien Gesellschaft (Feyerabend, 1980, S. 56-57).
Auf der Seite 33 in Wider den Methodenzwang schreibt Feyerabend “Man kann Wissenschaft fördern, indem man kontrainduktiv vorgeht” (Feyerabend, 1986, S. 33). Es sollen also methodische “Antiregeln” etabliert werden, die dem Wissenschaftler erlauben, statt induktiv kontrainduktiv nach Hypothesen zu suchen, die allseits bestätigte Theorien widerlegen (Feyerabend, 1986, S. 33). Er fordert auf, den newtonischen Ansatz zu verwerfen und Alternativen dann zu gebrauchen, wenn die orthodoxe Theorie bereits verstört ist (Feyerabend, 1986, S.34). Der Grund liegt darin, dass man einige der wichtigsten formalen Eigenschaften einer Theorie erst durch den Kontrast und nicht durch eine Analyse von Erfahrungen erkennt (Feyerabend, 1986, S.34). In der jetzigen Zeit ist es üblich, die Ideen der herrschenden Meinung über einen Sachverhalt zu vertreten. Paul Feyerabend hingegen besagt, dass Theorien ja eigentlich ein Bündel von Ideen sind, die man untereinander vergleichen muss, um einen wirklichen Fortschritt zu etablieren. Man sollte die unterlegenen Theorien (Mindermeinungen) verbessern und nicht fallen lassen (Feyerabend, 1986, S. 34).
Diese Vorgehensweise verschafft laut Feyerabend die nötige Freiheit, bessere Antworten für die Welt als etwas “weitgehend unbekanntes” zu erforschen (Feyerabend, 1986, S 16). Somit ist seine Forderung eindeutig: verwendet eine pluralistische Methodologie, vergleicht Theorien untereinander anstatt Erfahrungen, versucht Auffassungen, die unterlegen sind, zu verbessern, um einen wirklichen Fortschritt zu schaffen (Feyerabend, 1986, S 34). Die anarchistische Wissenschaftsstruktur verdrängt den Gedanken einer Einheitswissenschaft vollständig und sieht eine vollständige Umstrukturierung der Anwendung von Methoden vor (McGuinness & Schulte, 1992). “Erkenntnis [...] ist keine allmähliche Annäherung an eine Wahrheit. Sie ist ein stets anwachsendes Meer miteinander inkommensurabler Alternativen.”(Feyerabend, 1986, S 34).
III. Analyse Teil I: Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, in der es keine hierarchische Erkenntnisautorität wie die Wissenschaft gibt, die über dem Alltagswissen steht?
Die Kritik an der Wissenschaft von Paul Feyerabend wird bekräftigt mit dem Argument, dass Wissenschaft nicht menschenfreundlich ist und gegen die Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft verstößt - “Bürgerinitiativen statt Erkenntnistheorie” (Feyerabend, 1980, S. 37).
Laut ihm sollen die Bürger eine gewisse Teilhabe an der Wissenschaft haben und entscheiden dürfen, welche Theorien sie für richtig beziehungsweise besser halten (Feyerabend, 1980, S. 37).
Um die Frage zu beantworten, ob eine methodengeleitete und hierarchische Wissenschaft besser für die Gesellschaft ist als eine anarchistische, führen wir einen Vergleich zwischen den beiden Positionen durch:
a) Jetzige hierarchische methodengeleitete Wissenschaft:
Sie hat den Vorteil, dass sie einen hohen Ruf genießt. Die meisten Bürger einer Gesellschaft haben eine gemeinsame Wissensbasis: die Erde bewegt sich um die Sonne (Feyerabend, 1980, S. 119). Auch wenn es bei vielen Fakten Unstimmigkeiten gibt, welche die richtigen Fakten sind, gibt es im Grunde genommen einen “common sense” des Wissensstandes. Die Methoden unterscheiden sich in den spezifischen Fächern und jedes von diesen Forschungsgebieten hat eine eigene Logik (Feyerabend, 1986, S. 16). Die Wissenschaft mag zwar in ihrer eigenen Traditionen herumwühlen und teilweise sinnlose Forschungen erzeugen, jedoch sind sie überprüfbar, falsifizierbar und systemierbar (Feyerabend, 1986, S. 17).
Gleichzeitig hat sie den Nachteil, dass sie viele Wissenschaften produziert, die keine Fakten enthalten, sondern nur Meinungen. Ein Beispiel für eine Meinungswissenschaft könnte die Soziologie sein, in der die Falsifizierung einer bestimmten Position nicht möglich ist. Sie ist eine empirische Wissenschaft, die mit anderen empirischen Daten, die das Gegenteil behaupten, einfach widerlegt werden kann. Die Soziologie ist eine Wissenschaft, in der allgemeine Gesetze für alle Gesellschaften kaum aufgestellt werden können. Zweitens hat die jetzige hierarchische Wissenschaft den Nachteil, dass sie es hindert mutige Theorien aufzustellen, welche den jetzigen wissenschaftlichen Errungenschaften widersprechen. Die Qualität wissenschaftlicher Ergebnisse und ihrer Methoden werden als status quo angesehen und nicht mehr hinterfragt (Feyerabend, 1980, S. 124). Revolutionäre Gedanken sind nicht mehr willkommen, es geht nur noch darum die bestehenden Theorien etwas umzuschreiben und auf das heutige Zeitalter anzupassen.
b) Anarchistische uneingeschränkte methodenpluralistische Wissenschaft:
Sie hat den Vorteil, dass sie uneingeschränkte Vorgehensweisen zur Untersuchung bestimmter Fälle hat - es ist erlaubt eigene Methoden, Theorien, Forschungsmodelle oder Forschungsprogramme zu entwickeln (Lakatos, 1970). In der Forschung gilt das Prinzip “anything goes” (mach, was du willst), welches einem erlaubt nachvollziehbare eigene Modelle aufzubauen (Feyerabend, 1980, S. 97). Es entsteht keine objektive Wissenschaft, die das Ziel der vollkommenen Aufklärung hat (Feyerabend, 1986, S. 32). Außerdem hat die anarchistische Wissenschaftsmethodologie den Vorteil, dass sie in den Händen aller Traditionen ist (Feyerabend, 1980, S. 126). Die Macht über das Wissen ist nicht mehr allein in den Händen der Intellektuellen (Feyerabend, 1980, S. 126). Das Fachwissen der Experten wird beachtet werden, nichtsdestotrotz liegt die letztliche Entscheidung über die Festlegung und die Akzeptanz wissenschaftlicher Positionen bei den Laien, die durch ein demokratisch eingerichtetes Kommitee entscheiden (Feyerabend, 1980, S. 168). Dies hat den Nutzen, dass die Wissenschaften demokratisch legitimiert werden.
Solch ein Prozedere hat wiederum den Nachteil, dass Sie die Basis der jetzigen bereits unumstrittenen Fakten über unsere Wirklichkeit zunichtemacht, was unmittelbar zu Konflikten in der Gesellschaft führt. Jeder hätte das Recht, eine weniger anerkannte Position zu vertreten und könnte für jede Position eine Wissenschaft gründen. Zum Beispiel gäbe es kein Hindernis die Rassentheorie wieder zu verfolgen. Durch die Rationalität als Kern der jetzigen hierarchischen Wissenschaft gibt es auch eine klare Richtlinie, was genau von den Wissenschaften zu erwarten ist. Ein anarchistisches Wissenschaftssystem auf der anderen Seite erschafft eine schwache Zielrichtung für die Forschung und könnte durch die irrationalen Elemente wie Mythen, Astrologie, Wodu oder Volksmedizin zur Verwirrung herbeiführen (Feyerabend, 1980, S. 168). Zweitens hat sie den Nachteil für die Gesellschaft, dass sie ihr viel zumutet. Wenn man sich die Tendenz der sinkenden Wahlbeteiligung und politischen Partizipation an demokratischer Willensbildung ansieht, stellt sich die Frage, ob demokratisch legitimierte Entscheidungen über die Gültigkeit der Wissenschaften zumutbar sind. Warum sollte jemand, der keine Kompetenzen zur Atomtheorie vorweisen kann, über ihre Gültigkeit entscheiden? Welchen direkten Nutzen hat jemand durch die Miteinbeziehung dieser demokratischen Entscheidung? Eine freie Gesellschaft sollte eine Versammlung reifer Menschen sein, allerdings haben wir eine Gesellschaft, die eine Herde von Schafen ist, die von einer Gruppe der Fachleute geleitet werden möchte. (Feyerabend, 1980, S. 168). Es ist ein Wunschdenken Feyerabends, dass die verschiedensten gesellschaftlichen Schichten freiwillig an Entscheidungen wissenschaftsbezogener Fragen teilnehmen würden. Die gesellschaftliche Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs durch demokratische Entscheidungsfindung würde die Wissenschaft mehr in den Vordergrund rücken, hat jedoch praktisch gesehen keine Möglichkeit in der beschriebenen Form angewandt zu werden.
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