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Seminararbeit, 2016
26 Seiten, Note: 1,3
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 New Hollywood
2.2 Der Protagonist von Martin Scorsese
2.3 Der Antiheld: Konzeption und Definition
3. Methodik
3.1 Figurenanalyse im Film
4. Taxi Driver: Eine Charakteranalyse
4.1 Travis Bickle, der Taxifahrer. Travis Bickle, der Soldat
4.2 Travis‘ Kommunikationsprobleme
4.3 Katalysator der Veränderung: Iris
4.4 Der Pfad Gottes? Travis‘ Feldzug gegen den Abschaum der Stadt
4.5 Heldentum und Erlösung?
5. Travis Bickle: Ein Antiheld?
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Martin Scorseses Taxi Driver (1976) entstammt einer Zeit, in der sich Hollywood im Um- bruch befindet. Kinofilme werden zu Autorenwerken, das glattgebügelte Kinoerlebnis der vorange- gangenen Jahrzehnte weicht pessimistischeren Darstellungen. Hinzu kommt eine etwa durch den Vietnamkrieg angeheizte politische Stimmung in den USA (vgl. Weiss 1986: 10). Deshalb ist Taxi Driver als zeitgenössische Kritik einerseits zu verstehen, andererseits stellt der Film auch heute noch ein in sich geschlossenes Kunst- und Meisterwerk dar.
Nicht zuletzt Robert De Niros ikonische Darstellung des geistig zermürbten Taxifahrers Travis Bickle bleibt in Erinnerung. Es sind Darstellungen wie diese, die Scorsese den Ruf einge- bracht haben, eine Vorliebe für sog. Antihelden zu haben. In der Filmkritik zu The Wolf of Wallstreet unterstellt Spiegel Online dem Regisseur sogar, über „drei Stunden hinweg […] die Per- version der männlichen Antihelden“ (Kleingers 2014) zu zelebrieren. Über die Protagonisten in einem Scorsese-Film gibt es vieles zu sagen und Bertellini und Reich widmen sich in einem Auf- satz sogar ganz gezielt „Scorsese’s Male Antiheroes“ (vgl. Bertellini/Reich 2015: 38f.).
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Figur Travis Bickle in Taxi Driver näher zu beleuch- ten. Ihre Wahrnehmung und die sich aus ihr ergebenden Motivationen und Ziele des Charakters sollen herauszuarbeitet werden. Wie die Figur von Scorsese und dem Drehbuchautor Paul Schrader konzeptioniert ist, soll dabei auch aus dem soziohistorischen Kontext abgeleitet werden. In einem letzten Schritt soll schließlich geklärt werden, ob die Figur tatsächlich als Antiheld zu verstehen ist und welche Eigenschaften eine solche Charakterisierung zulassen.
Denn wann wird ein Protagonist zu mehr als einem bloßen Protagonisten? Was macht ihn zu einem Helden, geschweige denn zu einem Antihelden? Letzterer bildet schließlich einen Wider- spruch in sich, weshalb der Antiheld in seiner Grundkonzeption schwieriger greifbar ist als die klassische Heldenfigur. Die Frage erscheint auch insofern interessant, als dass Taxi Driver das Konzept in seinen letzten Minuten ad absurdum führt, indem gezeigt wird, dass Protagonist Travis von der Öffentlichkeit als Held gefeiert wird.
Zur theoretischen Herleitung und zum Verständnis bestimmter für die Analyse relevanten Sachverhalte behandelt Kapitel 2 zum einen die Ereignisse innerhalb und um die New - Hollywood - Bewegung, zum anderen wird zur Einordnung der Figur Travis Bickle der "typische" Scrosese- Protagonist näher beleuchtet. Des Weiteren findet eine Abgrenzung des Konzeptes Antiheld statt. Das dritte Kapitel geht indes kurz auf die der Analyse zu Grunde liegende Methodik der Figuren- analyse ein.
Kapitel 4 stellt mit der Charakteranalyse von Travis Bickle den Hauptteil der Arbeit dar, während Kapitel 5 im Spezifischen die Antihelden-These zu beantworten versucht. Hierbei wird insbesondere auch Bezug auf die Lesarten der Figur aus verschiedenen Perspektiven in der Fachli- teratur genommen. Auf diese Weise soll nicht nur auf Grundlage der Analyse, sondern auch in Ab- grenzung zu verschiedenen Meinungen, ein fundiertes und differenziertes Bild in Bezug auf den Charakter entstehen. Das Fazit fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit in knapper Form zu- sammen.
In den 60er Jahren erlebte die Filmindustrie in Hollywood einen Einbruch, „der einen Struk- turwandel und eine Umorientierung innerhalb der gesamten Branche nach sich zog“ (Weiss 1986: 7). Das Fernsehen erwies sich als ein immer größer werdendes Konkurrenzmedium, durch das den Kinos in hohem Maße Zuschauer verloren gingen. Die Verantwortlichen bei den Filmstudios und die Vertreter des „Old Hollywood“ (Jatho/Prinzler 2004: 7) hatten auf diese Entwicklung keine wirklichen Antworten, eine kreative Dürre breitete sich aus (vgl. Weiss 1986: 9).
Da sich der Großteil der Kinogänger immer mehr dem Fernsehen zuwendete, ergab sich beim Kinopublikum eine neue Altersstruktur: Jugendliche unter 19 Jahren machten über 50% der Besucher aus, generell wurde das Publikum jünger (vgl. Weiss 1986: 10). Und bei dieser Alters- gruppe fand das klassische, oftmals auf ein Happy End bedachte Kino keinen Gefallen mehr. Hans C. Blumenberg merkt in diesem Kontext an: „In den sechziger Jahren blühte in Hollywood das Kino der herzlosen Mittelmäßigkeit, ein Kino, das weniger denn je mit den tatsächlichen Erfahrun- gen und Sensibilitäten der Zuschauer zu tun hatte“ (Jatho/Prinzler 2004: 7).
Erschwerend hinzu kamen politische und gesellschaftliche Umwälzungen. Der Vietnam- krieg etwa, von dessen Rechtmäßigkeit die amerikanische Regierung zu überzeugen versuchte, spaltete die Bevölkerung. „Afroamerikaner forderten ihre Rechte ein, Studenten begehrten auf und zu den etablierten Medien entwickelte sich eine Gegenöffentlichkeit“ (Jatho/Prinzler 2004: 8). Man wehrte sich gegen den Krieg und auch gegen die im Film propagierte heile Welt – zumal diese von der Realität weiter entfernt schien als je zuvor. Die Freiheit, wie sie der amerikanische Traum sug- gerierte, und dessen Verteidigung wurde von vielen längst nicht mehr als erstrebenswert, geschwei- ge denn als Pflicht angesehen. Der patriotische Optimismus wich einer allgemeinen pessimisti- schen Grundhaltung (vgl. Weiss 1986: 10).
Ende der 60er Jahre erschien schließlich Dennis Hoppers Easy Rider. Der Film beschreibt pessimistisch die Reise zweier wortkarger Protagonisten auf einer Reise durch die USA (vgl. Weiss 1986: 10). Symbolisch stand er für die „Flucht vor Kälte, Isolation, Entfremdung und alltäglichem Faschismus“ (Weiss 1986: 11). Schlagartig fühlte man sich verstanden, denn das Kino griff nun Themen auf, mit denen sich eine ganze Generation identifizieren konnte.
Der Film löste eine regelrechte Bewegung aus. Plötzlich standen der „unmotivierte Held“ und das „Unattraktive“ im Mittelpunkt der Erzählung. Der amerikanische Traum wurde neu aufgearbeitet und teilweise umgedeutet (vgl. Weiss 1986: 10). Der Regisseur als Autor eines Wer- kes gewann gegenüber den alteingesessenen Produzenten an Bedeutung. Die kreative Dürre wurde mit frischen Ideen bekämpft und kurzzeitig standen die Studiotüren neuen, kreativen Köpfen offen (vgl. Weiss 1986: 11).
Aus dieser Krise geboren, erhob sich eine neue Generation von Jungregisseuren (die fünfte Generation). Zu dieser zählen neben Francis Ford Coppola, Brian De Palma oder Steven Spielberg – um nur einige Vertreter zu nennen – eben auch Martin Scorsese (vgl. Jatho/Prinzler 2004: 7). „Sie machten das amerikanische Kino der späten sechziger und frühen siebziger Jahre spannend, sie waren `New Hollywood´“ (Jatho/Prinzler 2004: 7). Scorsese gehört zu einer Riege von Filmema- chern, „die den Kopf schon voll Kino (und Fernsehen) hatten, als sie mit dem Filmemachen began- nen“ (Seeßlen 2003: 7). Es ist aber darauf hinzuweisen, dass Scorsese innerhalb selbst dieser Kons- tellation eine Art Außenseiterrolle zukommt. Zwar arbeitet er innerhalb der formalen Strukturen des Hollywood-Systems, dennoch war er immer in der Lage, sich seine künstlerische Integrität zu bewahren (vgl. Raymond 2013: 167).
Im Gegensatz zum auf Hochglanz polierten Kino der 50er und 60er Jahre stehen in den Filmen der New-Hollywood-Ära immer wieder „Körper, Verletzungen, Wunden, […] Außenseiter, Kampfhähne und Neurotiker“ (Jatho/Prinzler 2004: 8) im Fokus. Sowohl thematisch als auch äs- thetisch bediente man nun also die Bedürfnisse des neuen Publikums.
So radikal diese neue Art des Filmemachens erscheint, so friedlich verlief der Übergang vom alten zum neuen Hollywood. Georg Seeßlen stellt in diesem Kontext fest: „Alles in allem handelt es sich bei dem Siegeszug der neuen Generation in Hollywood wohl um eine der sanftesten und skrupulösesten artistischen Machtwechsel in der Geschichte der ästhetischen on“ (Seeßlen 2003: 8).
Die Kernzeit des New Hollywood wird in der Regel auf die Jahre 1967 bis 1976 datiert (vgl. Jatho/Prinzler 2004: 8). In den Reigen dieser Machwerke fällt auch Scorseses Taxi Driver. Ihm kommt darüber hinaus insofern eine besondere Bedeutung zu, als das Scorseses Film allgemeinhin als Ende der New-Hollywood-Ära angesehen wird.
Zwar sind die Protagonisten in Scorsese-Filmen oft völlig unterschiedliche Personen in unterschiedlichen Lebenssituationen, dennoch ähneln sie sich in bestimmten Punkten gravierend. Zu aller Erst erscheint ihre Bewegung absurd. Sie alle wollen nach oben, sich über andere erheben – und dazu ist ihnen jedes Mittel recht (vgl. Seeßlen 2003: 10). Sie „verraten Ideale, Freunde, Familie, wie beinahe jeder Scorsese-Held“ (Seeßlen 2003: 10).
Doch vollkommen gleich, in welche Richtung sich die Protagonisten bewegen, ihr Schicksal ist bereits im Vorhinein besiegelt. Sie stecken in einem System fest, aus dem sie nicht entkommen können. Das macht Scorsese dem Zuschauer nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch zu jedem Zeitpunkt deutlich – etwa durch die beschränkten, geschlossenen Räumlichkeiten und entsprechende Kameraeinstellungen. „Eingesperrt sind die Scorsese-Helden in ihren Klassen, in ihren Vierteln, in ihren Rollen, in ihren Regeln“ (Seeßlen 2003: 10f.). Genau aus diesem Eingeschlossensein, der Isolation, erklärt Georg Seeßlen auch die Gewalttätigkeit von Scorseses Figuren – aus einer „Bewegung ohne Ausweg“ (Seeßlen 2003: 11) heraus. So wundert es nicht, dass Bertellini und Reich Scorsese eine klare Vorliebe für unkontrollierte bzw. aggressive, rebellische und vor allem männliche Charaktere attestieren (vgl. Bertellini/Reich 2015: 38f.).
Generell spielt Maskulinität (und wie die Protagonisten mit dieser umgehen) eine wichtige Rolle (vgl. Bertellini/Reich 2015: 39). Die vergleichsweise ungewöhnlichen Protagonisten könnte man auf Scorseses italienische Wurzeln und die damit auch verbundene Affinität zum europäischen Kino zurückführen. So repräsentieren seine Figuren oftmals eine Art der Maskulinität, die irgendwo zwischen den von Hollywood geprägten Konventionen und denen von europäischen Produktionen angesiedelt ist (vgl. Bertellini/Reich 2015: 41).
Die erwähnte Isolation ist nicht zwangsläufig wortwörtlich zu verstehen. Die Protagonisten bewegen sich oft unter Menschen und agieren mit ihnen. Doch oftmals gilt der Grundsatz: „Die Hölle, das sind die anderen“ (Seeßlen 2003: 11). Die Gewalt der Protagonisten ist deshalb nur ein Mittel im Überlebenskampf gegen diese Isolation; sie drückt gleichzeitig aber auch die Hilflosigkeit der Charaktere aus. Gewalt erfüllt hier also eine Funktion und für Scorsese gibt es laut eigenen Aussagen auch keine sinnlose Gewalt (vgl. Christie/Thompson 2003: 47).
Doch Scorseses Protagonisten sind nicht simpel, sie sind auch keine Abziehbilder ihrer Vorgänger, sie sind hochkomplex. Niemals lassen sie sich, wie klassische Heldenfiguren, auf bestimmte Gefühle oder Eigenschaften herunterbrechen. Loyalität, Ehre, Liebe, aber auch Treue zu sich selbst und das Streben nach Freiheit – diese Gefühle sind allesamt vorhanden, doch sie blockieren sich gegenseitig (vgl. Seeßlen 2003: 11). „Seine Helden sind so weit entfernt vom amerikanischen Traum, wie sie in ihm gefangen sind“ (Seeßlen 2003: 11). Der amerikanische Traum bedeutet für Scorsese-Protagonisten: Jeder kann schnell reich werden. Passiert das nicht, dann muss es eben auf illegalem Wege geschehen (vgl. Christie/Thompson 2003: 47).
Die Komplexität der Charaktere ist auch der Tatsache geschuldet, dass Scorsese ganz bewusst klassische Erzählmuster außer Acht lässt. Er bewegt sich im Rahmen bestimmter Genres (Gangsterfilm, Film Noir, Boxfilm, Melodrama usw.), nur um deren Konventionen in Frage zu stellen und vielschichtige Antihelden zu schaffen (vgl. Bertellini/Reich 2015: 42ff.). Eine Identifizierung mit den Protagonisten wird dadurch für den Zuschauer schwierig, fast unmöglich.
Sie haben keinen Ausweg, sie glauben nicht mehr an die Bewegung in das gelobte Land hinein – den „Mythos des Westens“ (Seeßlen 2003: 11) Um ihrem Gefängnis zu entkommen – und weil ihnen die Freiheit verwehrt bleibt – sehnen sich Scorseses Figuren häufig nach einer Art Erlösung. Doch diese Erlösung kann folgerichtig nur im Inneren gesucht werden. Und so „versuchen Scorseses Helden sich selbst zu erlösen in einer Tat, die ihr Dilemma zusammenfasst“ (Seeßlen 2003: 11). Dennoch: Der rettende Tod bleibt den meisten seiner Protagonisten vergönnt. Ein Happy End sucht man ohnehin vergebens. Entgegen gängiger Genre- Konventionen stehen die Figuren vor ungeklärten Verhältnissen; Wiedergutmachung und Wiederherstellung sind der Welt von Scorsese nicht als gegeben zu erachten (vgl. Bertellini/Reich 2015: 44).
Als Zuschauer bewundern wir diese Charaktere nicht, wir haben es schließlich nicht mit überlegenen Helden zu tun. Stattdessen sehen wir sie leiden. Sie sind nicht nur vom Schmerz angetrieben, sie steuern auch im Laufe des Films auf das Leid zu (vgl. Bertellini/Reich 2015: 46). Die simple Wahrheit über die Protagonisten von Scorsese ist: Sie haben keine Kontrolle über die Welt, in der sie leben – auch wenn dies anfänglich suggeriert wird (vgl. Bertellini/Reich 2015: 47).
Der Begriff Antiheld gilt heutzutage häufig auch als Synonym für einen Helden mit einer dunklen Seite oder einen Bösewicht, den man bewundert (vgl. Kiang 2013). Um dieser tendenziell eher fehlerhaften Verwendung entgegenzuwirken, ist vorab eine theoretische Annäherung an den Begriff notwendig. Dabei bietet sich eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise an.
Um das Konzept des Antihelden zu verstehen, muss er gezielt vom Helden abgegrenzt werden. Wenngleich der Held durch den aktuellen Siegeszug des Antihelden in der Populärkultur in den Hintergrund rücken mag, „so bleibt dieser auch in seiner Verneinung stets sinnbildende Vorlage“ (Bolay/Schlüter 2015: 6). Helden verkörpern bestimmte ideologische und moralische Werte. In Texten der mittelalterlichen Romantik gehen beispielsweise Ritterlichkeit, Aristokratie und Loyalität mit dem Verständnis von Heldentum einher. Zudem sind Helden oftmals als besonders maskulin dargestellt (vgl. Cartlidge 2012: 1). Wer diesen Eigenschaften nicht gerecht wird, könnte bereits als Antiheld gelten. Ein Held handelt in der Regel motivlos, er besitzt keine intrinsische Qualität (Weinelt 2015: 15). Er ist ein Saubermann, ein strahlendes Vorbild. Susann Neimann etwa stellt in Bezug auf Achill fest, dass es „keine Kluft zwischen seinen Wünschen und seinen Taten“ (Weinelt 2015: 15) gibt. In diesem Sinne ist der ursprüngliche Held eine übersteigerte Figur, ein Mythos, und der moderne Held womöglich schon immer als Antiheld zu verstehen, da seine Handlungsmotivation nie so klar und rein ist wie die des archetypischen Helden (vgl. Weinelt 2015: 20).
Laut Nora Weinelt folgt der Held bestimmten Grundsätzen. So wird er nur dann zum Helden, „indem er handelt“ (Weinelt 2015: 16). Des Weiteren tut er dies nur „im Rahmen der […] gesellschaftlichen Ideale und Ideologien in irgendeiner Form moralisch sinnhaft, seine Tat folgt einer `edlen Absicht´ (Weinelt 2015: 16). Zuletzt hebt sich der Held in seinem Handeln „deutlich vom Rest der Bevölkerung ab; er steht als liminale und potentiell transgressive Figur am Rande der Gesellschaft“ (Weinelt 2015: 16).
Gemeinhin scheint klar: Der Antiheld ist der Gegenentwurf zum Helden. Jedoch ist zu beachten, dass er nicht sein genaues Gegenteil darstellt, da er immerhin im Negativen Bezug auf das Wertesystem des Helden nimmt. Erst durch das Existieren und Nichtbeachten bestimmter Werte wird der Antiheld also geboren (Weinelt 2015: 16). Und so wird ein Protagonist auch dann zum Antihelden, wenn er mindestens eine der von Weinelt genannten Grundsätze des Heldentums nicht erfüllt.
Weinelt fügt der Konstellation überdies die Dimension des Nichthelden hinzu. In ihm erkennt sie das absolute Gegenteil des Helden. Der Nichtheld setzt sich in keiner Weise mit dem Konzept von Heldentum auseinander, er erweist sich als „vergleichsweise unheroisch“ (Weinelt 2015: 17). Alleine aufgrund der geschichtsträchtigen Bedeutung des Wortes, kann der Nichtheld zwar nicht vollkommen aus dem diskursiven Rahmen des Begriffsfeldes fallen, doch wo „der Antiheld den Begriff des Hroischen verhandelt und kritisch unterläuft, erteilt der Nichtheld dem Heldentum per se eine Absage“ (Weinelt 2015: 17).
Ob ein Protagonist in den Augen des Publikums als heroisch erscheint, hängt zudem maßgeblich von seiner Motivation ab. Es zählt die selbstlose Absicht: „Die Tat muss unmittelbar als positiv erkennbar sein. Verschiebt sich die Handlungsmotivation des Helden, steht er schnell auf der Seite des Antihelden“ (Weinelt 2015: 16). Die Figur kann entweder sinnfrei handeln oder aber sie ist bösartig und dennoch sympathisch (vgl. Weinelt 2015: 16).
Weinelt resümiert, dass also Teilhabe am Heroischen Voraussetzung auch für den Antihelden ist und eine Figur erst dann zum Antihelden avanciert, wenn sich die Motivation für die heroische Handlung verschiebt und eine Tag „nicht mehr zweifelsfrei als positiv zu bewerten ist“ (Weinelt 2015: 17).
Die vorliegende Arbeit stützt sich auf gängige Analysemethoden für das Medium Film. Als Grundlage für die Arbeit am Film, soll im Folgenden exemplarisch die Figurenanalyse nach Werner Faulstich kurz erläutert werden.
Generell ist darauf hinzuweisen, dass Figuren im Film (als ein audiovisuelles Medium) vorrangig durch ihre Handlungen charakterisiert werden. Der Film muss also – etwa im Gegensatz zu Büchern – einen größeren Aufwand betreiben, „um Inneres – Gedanken, Gefühle, mentale Zustände usw. einer Person – zu gestalten“ (Faulstich: 2002: 95).
Aufgeteilt in Haupt- und Nebenfiguren, ist der Protagonist in der Regel das Wahrnehmungszentrum des Films. Dieser muss nicht zwangsläufig als Held dargestellt werden, sondern kann auch unscheinbar wirken oder sogar eine Art Antiheld bilden. Der Protagonist kann auch eine Leerstelle sein, blass und aussagelos, sodass er als „alter ego“ vom Zuschauer ausgefüllt wird (vgl. Faulstich 2002: 95).
Ein großer Teil der Dramaturgie eines Films entsteht in der Konstellation von Protagonist und anderen Figuren. So lassen sich immer wiederkehrende Paarungen feststellen. Verbrecher und Detektiv, der Gute und der Böse, eine Frau zwischen zwei Männern, ein Mann zwischen zwei Frauen oder auch der Einzelne gegen den Rest der Gesellschaft (vgl. Faulstich 2002: 96f.).
Nicht selten ist der Protagonist von Rollen bzw. Typen geprägt. „Rollen sind oft soziale Verhaltensschemata und Berufe“ (Faulstich 2002: 97). Typen wiederum haben sich über den Lauf von Jahren und Jahrzehnten im Film ausgebildet und folgen in der Regel festgelegten Images und Schemata; „da gibt es etwa den Gentleman, den Rebellen, […] den Super-Actionhelden“ (Faulstich 2002: 97) usw.
Grundsätzlich lassen sich drei Formen der Charakterisierung unterscheiden. Wenn sich eine Figur durch „ihr Reden ihr Handeln, ihre Mimik, Gestik, Stimme, ihre Sprache, ihre Kleidung usw.“ (Faulstich 2002: 97f.) charakterisiert, dann spricht man von einer Selbstcharakterisierung. Bei der F remdcharakterisierung wird eine Figur durch eine andere vorgestellt und die Erzählcharakterisierung beschreibt eine Figur durch Bauformen, wie Einstellungsgröße, Perspektive, Musikeinsatz usw. (vgl. Faulstich 2002: 98f.).
Die Figurenanalyse soll charakteristische Merkmale einer Figur erkennen lassen.
Mehrdimensionale Figuren, wie der Protagonist, zeichnen sich durch ihre Komplexität aus und dadurch, dass sie eine persönlichkeitsmäßige Veränderung durchmachen. Das heißt, sie sind nicht mehr die, die sie zu Beginn des Films waren (vgl. Faulstich 2002: 99).
Zuletzt führt Faulstich das Setting einer Figur als wichtiges Element der Figurenanalyse an. Gemeint ist damit die Situierung einer Figur in der Gesellschaft. Geschlecht, Alter, Beruf, Schicht, Milieu usw. sind von Interesse (vgl. Faulstich 2002: 99).
Wir sehen ein typisches New Yorker Taxi der 70er Jahre, das durch nächtliche Nebelschwaden fährt. Verheißungsvolle, auf eine Art bedrohlich wirkende Musik setzt ein. Die Namen der Mitwirkenden erscheinen auf dem Bild – ganz im Stil der überall in New York verstreuten Neon-Leuchtreklamen (Taxi Driver TC 00:00:30).
Plötzliche präsentieren sich uns die Augen des Protagonisten, Travis, in einer Nahaufnahme. Ein harmonischeres Musikstück setzt ein. Travis fährt durch die Nacht, seine Augen blicken hin und her und saugen begierig das Gesehene auf wie ein Schwamm. Sein Gesicht wird von den umliegenden Lichtern abwechselnd immer wieder in Rot- und Blau-Töne getaucht (siehe Abb. 1 im Anhang; Taxi Driver TC 00:01:16). Regen prasselt auf die Windschutzscheibe, das Glas ist halb undurchsichtig. Immer wieder sehen wir blaue und rote Lichter und Autos, die die Nacht durchstreifen. Alles ist verschwommen – die Fahrt durch die Dunkelheit wirkt wie ein Traum. Und auch die Menschen sind aus Travis‘ Perspektive nur schemenhafte Umrisse – sie sind Unbekannte und erscheinen nicht wie reale Personen (Taxi Driver TC 00:01:32 – 00:02:00).
Eine sanfte Überblendung. Travis erscheint und tritt aus dem emporsteigenden Dunst direkt in das Büro eines Taxiunternehmens. Die Kamera folgt ihm. Auf seiner militärisch anmutenden Jacke steht: „Bickle. T:“ (Taxi Driver TC 00:02:17). Die Vermutung liegt nahe, dass Travis ein Vietnam-Veteran ist, explizit erwähnt wird es im Film jedoch nie. Als weiteren subtilen Hinweis könnte man hier jedoch Travis‘ verschmitzt-ironische Bemerkung in Bezug auf seine Verkehrsakte deuten: „It’s clean, real clean. Like my conscience“ (Taxi Driver TC 00:03:05). Das Drehbuch zu Taxi Driver verrät diesbezüglich lediglich: „He [Travis] seems to have wandered in from a land where it is always cold, a country where the inhabitants seldom speak” (Schrader 1974: 3).
Er heuert bei dem Taxiunternehmen an, da er nachts nicht schlafen kann. Er will lange und auch in den kriminellsten Vierteln arbeiten. Mit Pornokinos habe er es bereits versucht, sagt er zu dem Angestellten des Taxiunternehmens. Doch geholfen hat es ihm nicht. Hier deutet sich bereits an, dass Travis auf der Suche nach etwas ist, das er bis jetzt noch nicht gefunden hat (Taxi Driver TC 00:02:42). Dem Etablissement eines Pornokinos haftet zugleich etwas unbestreitbar Schmutziges an. Der "Schmutz" wird noch eine wichtige Rolle in Taxi Driver spielen.
In den ersten Minuten des Films erhalten wir einige grundlegende Informationen über Travis. Er ist 26 Jahre alt, hat seine Schulausbildung vermutlich nicht abgeschlossen und er wurde 1973 ehrenvoll aus der Marine entlassen (Taxi Driver TC 00:03:35). Eine kurze Einstellung nach dem Besuch im Taxiunternehmen verrät uns überdies, dass er trinkt (Taxi Driver TC 00:05:01).
Erneut scheint darüber hinaus zur näheren Charakterisierung und zum Verständnis der Figur ein Blick in das Drehbuch lohnenswert. Hier wird er unter anderem als „lean“, „hard“ (Schrader 1974: 3) und sogar als gutaussehend, aber auch als ein Alleingänger, wie er im Buche steht, beschrieben (vgl. Schrader 1974: 3). „he has a quiet steady look and a disarming smile which flashes from nowhere, lighting up his whole face. But behind that smile, […] one can see the ominous stains caused by a life of private fear, emptiness and loneliness” (Schrader 1974: 3).
Travis‘ Wohnung ist relativ klein und schäbig, die Farbe blättert von den Wänden. Überall stehen Fertigprodukte, Essensreste, ein paar Töpfe und Geschirr hier und da. Generell ist seine Wohnung unordentlich, alles wirkt recht unorganisiert. Ein simpler Kameraschwenk genügt, um das ganze Ausmaß seiner Wohnung abzubilden. Sie ist klein, sein Lebensraum ist in typischer Scorsese-Manier sehr eingeschränkt. Ein Traum von Freiheit sieht anders aus. Neben einem alten Spiegel erblicken wir zudem eine Dose mit Tabletten und Bierdosen, die von der Wand baumeln (siehe Abb. 2 im Anhang; Taxi Driver TC 00:05:13). Ohnehin könnten wir den Protagonisten des Öfteren dabei beobachten – etwa nach einer überstandenen Nachtschicht – wie er Tabletten zu sich nimmt (Taxi Driver TC 00:07:50).
Travis sitzt in seiner Wohnung und schreibt in ein Tagebuch. In einem Voice-Over spricht er von einem „Regen“, der den „Schmutz“ von der Straße und von den Bürgersteigen waschen wird. Immer und immer wieder spricht er vom „scum“, dem „Schmutz“ (Taxi Driver TC 00:05:22). In der Anonymität der Nacht und aus seinem Taxi heraus beobachtet Travis andauernd die Leute in seiner Umgebung. Wie schon im Intro des Films dargestellt, saugt er all die Bilder in sich auf. Der Schmutz ist seine Metapher für all das Schlechte, das in der Nacht auf ihn einprasselt. Denn New York ist die Stadt, die niemals schläft. „All the animals come out at night. Whores, skunk-pussies, buggers, queens, fairies, dopers, junkies. […] Someday a real rain’ll come and wash all this scum off the streets“ (Taxi Driver TC 00:06:14).
[...]