Als resümierender "Literaturbericht" dokumentiert die vorliegende Arbeit ausgehend von grundlegenden geschichtswissenschaftlichen Aufsätzen herausragender Liberalismusforscher wie Hartwig Brandt, Jean Césaire, Lothar Gall, Dieter Langewiesche, Victor Leontovitsch, Wolfgang J. Mommsen, Jacob Salwyn Schapiro, Helmut Sedatis und James J. Sheehan die Wesenszüge des "vormärzlichen" Liberalismus.
Die ersten drei Kapitel enthalten Aussagen zum Liberalismus "an sich", wohingegen im vierten speziell die Besonderheiten des deutschen Liberalismus betrachtet werden. Auch dieser vierte Abschnitt zerfällt in einen "allgemeinen Teil", der die Charakteristika des Phänomens "deutscher Frühliberalismus" in umfassenderer Form darstellt, und in einen "besonderen Teil", der die "soziale Basis" des Liberalismus untersucht: die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die der deutsche Liberalismus gleichsam "hineingeboren" wurde, und die Bevölkerungsgruppen, die ihn in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts "trugen".
INHALT
EINLEITUNG
1. AUSGANGSPROBLEM: „LIBERALISMUS“ ALS „SCHILLERNDER BEGRIFF“ (NACH SHEEHAN)
2. ANMERKUNGEN ZUR IDEENGESCHICHTE
2.1. DIE AUSBILDUNG „LIBERALEN GEDANKENGUTES“ BIS ZUR FRÜHEN NEUZEIT
2.1.1. Jean Césaire
2.1.2. Jacob Salwyn Schapiro
2.1.3. Victor Leontovitsch
2.2. Die Politisierung des Liberalismus und die Liberalisierung von Politik und Wirtschaft in der Neuzeit (nach Césaire, Gall, Sheehan, Brandt und Schapiro)
3. WESENSMERKMALE DES LIBERALISMUS
3.1. VORBEMERKUNG
3.2. CHARAKTERISTIKA DES LIBERALISMUS
3.2.1. Jacob Salwyn Schapiro
3.2.2. Victor Leontovitsch
3.2.3. James J. Sheehan
3.2.4. Jean Césaire
3.2.5. Dieter Langewiesche
3.2.6. Helmut Sedatis
4. SPEZIELLE ASPEKTE DES LIBERALISMUS IN DEUTSCHLAND
4.1. GRUNDSÄTZLICHE ANMERKUNGEN ZU DEN WESENSMERKMALEN DES DEUTSCHEN LIBERALISMUS
4.1.1. Hartwig Brandt
4.1.2. Lothar Gall
4.1.3. Dieter Langewiesche
4.1.4. Wolfgang J. Mommsen
4.1.5. James J. Sheehan
4.2. SPEZIELLE BEMERKUNGEN ZUR SOZIALEN BASIS DER DEUTSCHEN LIBERALEN BEWEGUNG
4.2.1. Die regionalen Schwerpunkte der liberalen Bewegung
4.2.2. „Besitzbürgertum“, „Bildungsbürgertum“, „Mittelstand“ – Die soziale „Trägerschicht“ des deutschen Liberalismus
4.2.3. Der „Stände“-Begriff des deutschen Frühliberalismus
4.2.4. Der deutsche Liberalismus und die Demokratie
4.2.5. Liberalismus und Wirtschaftsordnung
4.2.6. Der Sozialliberalismus
5. FAZIT
ANMERKUNGEN
LITERATUR
EINLEITUNG
„Ein Literaturbericht zum Thema ‚Liberalismus der Vormärzzeit‘“ – so hatte der Arbeitsauftrag für das Seminarreferat gelautet, das dieser Arbeit zugrundelag. Folglich steht – wie schon im mündlichen Vortrag – auch in dessen schriftlicher Ausarbeitung das Bestreben im Vordergrund, wesentliche Inhalte ausgewählter neuerer Forschungsarbeiten zum „Frühliberalismus“ wiederzugeben (wobei die Auswahl der hier näher untersuchten Werke und Aufsätze natürlich zwangsläufig subjektiv und damit anfechtbar ist). Um die Arbeit jedoch nicht in eine zusammenhanglose Aneinanderreihung von Inhaltsangaben ausarten zu lassen, wird ein Mittelweg zwischen „Literaturbericht“ und „Aufsatz“ (allerdings mit dem konzeptionellen Schwerpunkt auf ersterem) gewählt: die Arbeit ist in thematisch abgegrenzte Kapitel gegliedert, denen jeweils passende Aussagen aus den untersuchten Arbeiten – weitgehend in wörtlichen Zitaten – zugeordnet werden. Die ersten drei Kapitel enthalten Aussagen zum Liberalismus „an sich“, wohingegen im vierten speziell die Besonderheiten des deutschen Liberalismus betrachtet werden. Auch dieser vierte Abschnitt zerfällt in einen „allgemeinen Teil“, der die Charakteristika des Phänomens „deutscher Frühliberalismus“ in umfassenderer Form darstellt, und in einen „besonderen Teil“, der die „soziale Basis“ des Liberalismus untersucht: die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die der deutsche Liberalismus gleichsam „hineingeboren“ wurde, und die Bevölkerungsgruppen, die ihn in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts „trugen“. Entsprechend dem Thema des Seminars beschränkt sich die Analyse auf den „Frühliberalismus“ vor 1848; die revolutionären Ereignisse von 1848/49 und die Folgezeit bleiben aus der Betrachtung ausgespart.
1. AUSGANGSPROBLEM: „LIBERALISMUS“ ALS „SCHILLERNDER BEGRIFF“ (NACH SHEEHAN)
„Wat is en Dampfmaschin?“ Diese berühmte Frage stellt Oberstudienrat Bömmel in Heinrich Spoerls Roman „Die Feuerzangenbowle“, und er versucht darauf eine Antwort zu geben, indem er sich „janz dumm stellt“ und „so sagt: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch“. Oberstudienrat Bömmel hatte es nun freilich vergleichsweise leicht – ist doch „en Dampfmaschin“ ein durchaus konkreter Gegenstand, dessen grundlegende Konstruktionsprinzipien bei allen denkbaren Unterschieden, die sich aus dem Fortschritt in der technischen Entwicklung und aus den unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten ergeben, klar determiniert sind und keinen nennenswerten prinzipiellen Veränderungen unterliegen. Anders verhält es sich mit dem Begriff „Liberalismus“, dessen Eigenart James J. Sheehan in seinem grundlegenden Werk über den deutschen Liberalismus so charakterisiert1: „Eine einfache Definition des Begriffs ‚Liberalismus‘ ist deshalb nicht möglich, weil verschiedene Leute immer etwas Verschiedenes darunter verstanden haben. Es ist einer jener Ausdrücke, die, um eine Anleihe bei T. S. Eliot zu machen, ‚entschlüpfen, entgleiten, vor Ungenauigkeit zerfließen ... nicht stillhalten wollen‘. Angesichts der Schwierigkeiten, die eine Definition von ‚Liberalismus‘ bereitet, überrascht es nicht, daß viele Historiker das Problem umgangen haben, indem sie davon ausgingen, daß der Begriff sich auf etwas Dingliches beziehe, auf einen umgrenzten Gegenstand, der geduldig darauf warte, untersucht zu werden. Andere haben hinter irgendwelchen vagen allgemeinen Bestimmungen zum Kern der liberalen Weltanschauung (‚Individualismus‘, ‚Ansätze eines neuen persönlichen Ichs‘) oder zur gesellschaftlichen Basis der liberalen Bewegung (‚die Bourgeoisie‘, ‚die neue ökonomische Klasse‘) Deckung genommen.“
Die meisten dieser Definitionen – so urteilt Sheehan – seien jedoch „unzulänglich, entweder weil sie den Liberalismus nicht präzise [beschrieben] oder weil sie ihn so [beschrieben], daß die Definition auch auf eine Reihe anderer politischer Bewegungen [zutreffe] “. Als besonders „lästig“ erweise sich das Definitionsproblem im Hinblick auf den Liberalismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts – die politische Terminologie jener Zeit war nach seiner Einschätzung „äußerst ungenau und unbeständig“, politische Neigungen und Strömungen in der Bevölkerung seien amorph gewesen, die „Liberalen“ jener Zeit hätten sich kaum selbst zu definieren vermocht, und das Wort „liberal“ selbst sei ein Epitheton gewesen, das von Persönlichkeiten unterschiedlicher Couleur für sich in Anspruch genommen worden sei – so auch von Goethe oder vom jungen Bismarck, von Männern, die Sheehan als „zweifelhafte Kandidaten“ qualifiziert.
Einen Ausweg sucht Sheehan darin, daß er vorschlägt, „eine Reihe von kleinsten gemeinsamen Nennern für die Liberalen“ zu formulieren. Man könne hierbei auf einem hohen Abstraktionsniveau operieren – mit Ausdrücken wie „Konstitutionalismus“, „Individualismus“ und „Fortschritt“ (man denke hierbei auch an die in ihrem Abstraktionsgrad allerdings bereits sehr simplifizierend und verwaschen klingende Definition Ralf Dahrendorfs: „Liberalismus ist im Grundsatz eine durchaus klare und einfache Zielrichtung des politischen Handelns: Es kommt darauf an, alles zu tun, um die Lebenschancen des Einzelnen zu erweitern. Je mehr Menschen mehr Lebenschancen haben, desto liberaler ist eine Gesellschaft.“ 2 ). Bei einer näheren Betrachtung der Problematik träten jedoch immer mehr Anomalien und Ausnahmen zutage, weshalb es sich empfehle, den Liberalismus als eine „Familie“ von Ideen und Verhaltensmustern zu sehen. (Als „Familie“ werden hierbei nach Ludwig Wittgenstein solche Wörter bezeichnet, die sich auf „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten beziehen, die einander übergreifen und kreuzen, Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“, die es ermöglichen, Liberale „als solche zu erkennen“, ebenso wie sich diese an Hand derartiger Ähnlichkeiten zu ihrer Zeit als Liberale zu erkennen vermochten – wiewohl natürlich diese gemeinsamen Merkmale nicht auf alle „Liberalen“ in gleichem Maße zutrafen und auch nicht alle, die einzelne dieser Ähnlichkeiten in ihren Anschauungen erkennen ließen, deshalb gleich als „Liberale“ bezeichnet zu werden verdienten.) Dieses voraufgeschickt, soll nun der Versuch unternommen werden, den offenbar so schillernden Begriff des „Liberalismus“ an Hand von Begriffsbestimmungen aus der neueren Literatur mit Inhalt zu füllen.
2. ANMERKUNGEN ZUR IDEENGESCHICHTE
2.1. DIE AUSBILDUNG „LIBERALEN GEDANKENGUTES“ BIS ZUR FRÜHEN NEUZEIT
2.1.1. Jean Césaire
2.1.1.1. Vorbemerkung
Als erstes soll die Frage nach den geschichtlichen Wurzeln des Liberalismus gestellt werden. Wenngleich der Liberalismus sich erst in der Frühen Neuzeit voll ausbildete, so lassen viele Autoren seine Ursprünge wesentlich weiter zurückreichen. Einen umfassenden Abriß der Ideengeschichte versucht Jean Césaire; er unterscheidet zwischen dem „Liberalismus als Weltanschauung“ und dem „Liberalismus als Sozialphilosophie“, wobei er für beide Aspekte unterschiedliche geschichtliche Grundlagen eruiert.
2.1.1.2. Der Liberalismus als Weltanschauung
Ausgehend von der Frage, ob „die liberale Revolution ... nicht mehr als der Versuch des 18. und 19. Jahrhunderts“ gewesen sei, „das Joch niedergehender Monarchien abzuschütteln und die Herrschaft des Fanatismus und der Intoleranz zu brechen“, ob sie „nicht hinaus [ginge] über die Gebote einer sozialen Ethik und politischen Philosophie im Dienste der Bourgeoisie“ und ob man diese Revolution „nicht vielmehr in Verbindung bringen [müßte] ... mit der Bewußtseinskrise des spätmittelalterlichen Europa und mit der nachfolgenden Ausbildung einer neuen [auf die Vernunft, die Natur und den Menschen ausgerichteten] Weltanschauung“ 3, widmet Césaire sich zunächst den Ursprüngen eben dieser Weltanschauung, wobei er zum einen deren geistesgeschichtliche, zum anderen die wirtschaftlich-soziale Seite beleuchtet.
Skeptische und die empirische Forschung fordernde und pflegende Strömungen wie der „Averroismus“ und der „Ockhamismus“, aber auch und gerade „Fehlentwicklungen der Kirche wie die kapetingische Herrschaft über das Papsttum von Avignon, der schamlose Nepotismus und das kompromittierende Finanzgebaren von Johannes XXII. sowie das große Schisma der Westkirche, schließlich das Aufkommen nationaler Tendenzen – all diese Kräfte bewirkten gemeinsam, teils vorbereitend, teils beschleunigend, die Auflösung der mittelalterlichen Christenheit, die seit dem 14. Jahrhundert ‚eine vollendete Tatsache‘ ist. Die so geschlagene Bresche gibt Handlungsfreiheit für eine ganze Reihe geistiger Freischärler, die die Lockerung der dogmatischen Bindungen begierig nutzen, um ihre Entdeckerleidenschaft und ihren Erfindungsdrang offen zu befriedigen. ... Ein neues Erkenntnisstreben, das nicht länger um Sein und Notwendigkeit, sondern um das Menschliche und Zufällige kreist, sucht nun nach Erkenntnis- und Handlungsmethoden, um die Eigenständigkeit der immanenten und weltlichen Werte zu erobern. Die politischen Theoretiker ... erörtern in Begriffen von weltlicher und souveräner Staatsgewalt den Aufbau eines autonomen irdischen Gemeinwesens; die ... Naturforscher verkünden die Unabhängigkeit und den Vorrang der empirischen Naturwissenschaft gegenüber den übrigen Wissenschaften ...; die Rationalisten ... verwerfen schrittweise das Übernatürliche zugunsten einer ‚wissenschaftlichen‘ Erklärung der Menschen und des Universums. Unter all diesen Bestrebungen setzt sich ein ... Selbständigkeitsdrang des Individuums, des ‚quiddam suum et proprium‘ [durch], der allzu lange durch die Zwänge und starren Regeln der Gesellschaft und ihrer lehensrechtlichen Konventionen gedemütigt worden war und von nun an bestrebt ist, sich ... gegen alle Spielarten autoritärer Bevormundung zu behaupten.“ Césaire ordnet auch den Protestantismus in diese Entwicklung ein: „Nicht weniger symptomatisch erscheint es uns heute, daß der Protestantismus bei seiner Empörung gegen die Tradition und die römische Oberhoheit solchen Erfolg hatte. ... es bleibt doch unbestritten, daß [er] den Sekten und dem Freidenkertum Wege gebahnt [hat] , die das Vordringen individualistischer Vorstellungen förderten.“ 4
In der Frühen Neuzeit habe sich die dergestalt grundgelegte Entwicklung vehement Bahn gebrochen: „Die aufrüttelnde Wirkung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und die zunehmende Verbreitung des kartesianischen Geistes zusammen mit ... Strömungen aus der ... Tradition der Libertinage ... trägt bei zur Ausbildung einer Philosophie, die die Führungskraft der Vernunft, die Beständigkeit der natürlichen Gesetze und die Möglichkeit verkündet, die unfehlbaren Wege zum menschlichen Glück zu entdecken. Der einschränkenden Vorschriften und der Einseitigkeit des Christentums überdrüssig, machen sich neue Moralphilosophen an den Aufbau einer neuen, weniger verneinenden Ethik, die der ‚wahren‘ Natur des Menschen besser entspricht. ... [Nach der Befreiung des Gemeinwesens] von den Einmischungen des Klerus ... propagieren sie zugleich eine weltliche Sozialethik, die nicht länger auf den ‚Launen eines übernatürlichen Wesens‘ beruht, sondern auf ‚den ewigen und unwandelbaren Beziehungen der menschlichen Wesen einer Gesellschaft‘ [Zitat aus Holbach, ‚La morale universelle’ <1776>; Anm. B. P.]. So betreiben sie entschlossen die Säkularisation der gesellschaftlichen Einrichtungen.“ 5
Die zweite Wurzel der liberalen Weltanschauung ist laut Césaire wirtschaftlich-sozialer Natur. „Der Aufstieg des Bürgertums und des Kapitalismus, der seinen Aufschwung zum Teil kapitalistischen Neigungen der Kalvinisten und Puritaner verdankt, [verlieh] der Emanzipationsbewegung eine besondere Kraft und Zuversicht. Jene Bankkaufleute, die seit dem wirtschaftlichen Wiedererwachen Oberitaliens und Flanderns seit dem 11. Jahrhundert einerseits durch Darlehen an die Fürsten die Bildung von Nationalstaaten unterstützten, andererseits dann die Grundlagen einer städtischen Kultur schufen, welche ... die Wiege der Renaissance werden sollte – diese Schicht von Kaufleuten bildete im 15. Jahrhundert ... ein neuartiges, rühriges Bürgertum von Bankiers und Reedern, das sich weniger um Religion als um Gold sorgt. Kein Wunder also, daß diese Schicht ehrgeiziger Emporkömmlinge, die nunmehr die Städte beherrscht und danach trachtet, die Beschränkungen einer ‚veralteten‘ Moral zu umgehen, sich bei Ausbruch der Reformation sogleich auf die Seite der neuen Propheten stellt. In diesen sieht sie ... Befreier von seit langem lästigen moralischen Schranken und von einem parasitären ... Klerus, der ihr noch dazu als peinliches Relikt eines vergangenen Zeitalters erscheint. Dieses selbe Bürgertum paßt sich nach der merkantilistischen Epoche den Erfordernissen der neuen Wirtschaftsordnung an und macht sich zum Anwalt des säkularisierten Staates und der ihn tragenden liberalen Grundsätze der religiösen Toleranz, der Verfassungsmäßigkeit und der unternehmerischen Freiheit.“ 6
2.1.1.3. Der Liberalismus als Sozialphilosophie
Aus der solcherart entstandenen und inhaltlich umrissenen „liberalen Weltanschauung“ (im Sinne eines die Religion ersetzenden allgemeinen, abstrakten anthropozentrisch-rationalen und a- bis antireligiösen „Gedankengebäudes“) erwuchs nach Césaire eine „Philosophie des sozialen Liberalismus“ 7 als ideelles Fundament von Staat und Gesellschaft. Ihre Grundfesten seien die Naturrechtslehre und die Gesellschaftsvertragstheorie gewesen. „Ihre Grundpostulate vom Vorrang der natürlichen Rechte und von der natürlichen Harmonie der Gesellschaft hätten auch nur ein Ausläufer der scholastischen und christlichen Tradition sein können; im Gefolge der neuen ‚Weltanschauung’ gewinnen sie jedoch eine rationalistische und utilitaristische Bedeutung. ... [Die seit Beginn des 17. Jahrhunderts auftretende] Philosophie des Naturrechts ... [ersetzt] unter dem Einfluß der rationalistischen und naturwissenschaftlichen Methode das persönliche Handeln und Wollen Gottes ... durch die immanente Ordnung der Natur. Locke, der Verkünder und Vorreiter des politischen Liberalismus, gibt dieser Ordnung deutlich eine individualistische Richtung: die Menschenrechte sind individuelle Rechte, die unabhängig von jeder Gesellschaft gelten, nur setzt man zu ihrer Wahrung durch Vertrag einen Schiedsrichter mit begrenzter Amtsgewalt ein. Demnach – und das ist die Kernthese des Liberalismus – kann keine Regierung Rechtmäßigkeit für sich beanspruchen, wenn sie ihre Gewalt nicht der freien Zustimmung der Regierten verdankt ... [Die] Autorität [des Fürsten] findet ihre Grenze an den Gesetzen der Natur und des Staates ... der Staat ist nichts anderes als das Werkzeug zur Förderung der individuellen Freiheiten. ... Folglich kann allein die liberale Gesellschaft das Glück der Menschheit gewährleisten, denn sie allein achtet die unveräußerlichen Freiheiten des einzelnen und die immerwährende naturgewollte Ordnung.“ 8
Diese Betonung des Individualismus gefährde jedoch nicht die Gesellschaftsordnung und das allgemeine Beste, denn „die Welt ist genauso beschaffen wie die persönlichen Interessen; der natürliche Egoismus, ja selbst die menschlichen Laster nützen stets auch dem Wohl des Ganzen. Mit anderen Worten: wie in der Naturordnung, so kommt es auch in der sozialen Ordnung zu einem spontanen Ausgleich zwischen der Verfolgung des persönlichen Wohls und der Verwirklichung eines einträglichen Gemeinwesens.“ Übergriffe der Regierung auf die privaten und wirtschaftlichen Beziehungen wirkten sich auf das Wohlergehen von Individuen und Kollektiven nur störend aus9.
2.1.2. Jacob Salwyn Schapiro
„Der Ausdruck ‚Liberalismus‘“ – so Jacob Salwyn Schapiro – „wurde erst gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts allgemein gebräuchlich. Das Wort war neu, aber die Geisteshaltung, die es beinhaltete, war alt, vielleicht so alt wie die Menschheit selbst. Ganz allgemein schloß der Liberalismus einen Glauben an die Kraft der Vernunft als Regulator des Lebens ein, ein Glaube, der dogmatischen Glaubenslehren kritisch gegenüberstand und bei Problemen von Regierung und Gesellschaft eine Haltung einnahm, die neuem gegenüber aufgeschlossen war. Herausragende Einzelpersonen – ein Sokrates, ein Abélard, ein Milton – hatten der liberalen Haltung einen tönenden, aber flüchtigen Ausdruck gegeben, als sie sich den großen Problemen des Lebens gegenübergestellt sahen. Aber Liberalismus als das Lebensprinzip eines auf repräsentativen Institutionen beruhenden politischen Systems und einer Gesellschaftsordnung, die sich auf den Individualismus gründet, ist ausgesprochen modern. Erst im neunzehnten Jahrhundert bildeten sich Bewegungen und Parteien, deren Ziel es war, das Leben der nationalen Gemeinschaft in Übereinstimmung mit liberalen Prinzipien zu organisieren.“ 10
2.1.3. Victor Leontovitsch
Den wohl am weitesten zurückreichenden, zugleich besonders eigenwilligen Ansatz zur Ideengeschichte des Liberalismus liefert Victor Leontovitsch. Für ihn stellt sie sich so dar: „Der Liberalismus ist eine Schöpfung der westeuropäischen Kultur, im wesentlichen bereits eine Schöpfung der griechisch-römischen Welt des Mittelmeerraumes. Zu dem schon der Antike bekannten Kern des Liberalismus gehörten die klar geprägten Begriffe des Rechtssubjektes und des subjektiven Rechtes (vor allem des Privateigentums) wie auch manche Institutionen, in deren Rahmen sich Staatsbürger an der Ausübung der Staatsgewalt, primär an der Ausübung der gesetzgeberischen Funktionen, beteiligten. Diese Grundlage wurde durch die modernen westeuropäischen Nationen wieder entdeckt und durch manche neue Beiträge ergänzt.“ 11 Ferner weist Leontovitsch auf zwei weitere historische Quellen des westeuropäischen Liberalismus hin: zum einen den Feudalismus, genauer gesagt: „das Gleichgewicht ... zwischen dem König und den feudalen Herren ...“ („Gewaltenteilung“, „politische Freiheit in aristokratischer Form“), zum anderen das vom Staat unabhängige Papsttum („die Unabhängigkeit der geistlichen Gewalt von der weltlichen im Laufe des Mittelalters“), durch welches „eine Sphäre der geistigen Autonomie dem Staat gegenüber begründet wurde“ 12.
Anders als Césaire sieht Leontovitsch die Bedeutung der Kirche für die Ausbildung des liberalen Ideengebäudes also nicht negativ, sondern positiv. Nicht die Reaktion auf die Kirche, ihre Ordnung und die in ihr herrschenden Zustände, sondern die Kirche selbst bildete seiner Meinung nach einen der Böden, in denen der Liberalismus Wurzeln schlug.
2.2. Die Politisierung des Liberalismus und die Liberalisierung von Politik und Wirtschaft in der Neuzeit (nach Césaire, Gall, Sheehan, Brandt und Schapiro)
Ab der Frühen Neuzeit erfuhr das „liberale Gedankengut“ durch das neue Menschen- und Weltbild, das neugewonnene Selbstbewußtsein und das Hinterfragen des Althergebrachten Auftrieb13. Der Liberalismus, ein „Kind“ der „Modernisierung“, wurde zugleich zu einem ihrer „Motoren“. (Auf die weiter oben zitierten Ausführungen Césaires, der etliche für die hier behandelte Thematik gleichfalls bedeutsame Gedanken formuliert hat, kann in diesem Zusammenhang nochmals verwiesen werden14.)
Lothar Gall unterscheidet zwei klar zu trennende Kräfte, die die „liberale Modernisierung“ von Staat und Gesellschaft und die Entstehung der „bürgerlichen Gesellschaft“ bewirkt hätten: er trennt den Aspekt der „‚politischen Emanzipation‘ im Sinne von Freisetzung zu eigenständiger Entwicklung“ von dem der „‚bürokratischen Reform‘ im Sinne der ‚Modernisierung‘ von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft von oben her“; „politische Emanzipation steht danach für die Veränderung der Gesellschaft aus sich heraus mit Hilfe der in ihr vorhandenen Kräfte und der in ihr angelegten Entwicklungstendenzen, denen durch politische Mobilisierung, durch Verlagerung der politischen Entscheidungsprozesse und der politischen Macht in die Gesellschaft selber freie Bahn verschafft werden soll, bürokratische Reform für die Veränderung dieser Gesellschaft von außen nach einem rationalen, gesamtgesellschaftlich-utilitaristisch orientierten Planungskonzept mit Hilfe des monarchisch-bürokratischen Anstaltsstaates unter zunächst bewußter Aufrechterhaltung einer weitgehenden Trennung der staatlichen und der gesellschaftlichen Sphäre.“ 15 Die „Erneuerung“ wäre demnach das Resultat des „Zusammenströmens“ dieser zwei Kräfte, deren erstere eher in der „Basis“, der Bevölkerung, „verwurzelt“ gewesen sei respektive diese als Zielgruppe gehabt habe, wohingegen die letztere im (politischen) „Überbau“, bei den das Staatswesen führenden Organen, „beheimatet“ gewesen sei.
Sheehan stellt fest: „Der Liberalismus nahm seinen Anfang als Teil jenes Bündels von Entwicklungssträngen, das zuweilen unter dem Begriff der ‚Modernisierung’ zusammengefaßt wird: Ausweitung der Verwaltungsapparate, Erweiterung der demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, Bevölkerungswachstum und soziale Mobilität, wirtschaftliche Entwicklung und Verstädterung, wissenschaftlicher Fortschritt und kulturelle Säkularisation sind Stichworte, die auf andere Stränge aus diesem Bündel hinweisen. Der Liberalismus als Weltanschauung verkörperte einen der ersten und wirkungsvollsten Versuche, diese Veränderungen zu begreifen und zu bewerten. Und wie jede einflußreiche Weltanschauung war auch der Liberalismus gleichzeitig ein Aufruf zum Handeln, und in dieser Eigenschaft schuf er sich rasch einen organisatorischen Unterbau. Der Liberalismus war demnach ein Versuch, die Welt sowohl zu verstehen als auch zu verändern, war Weltanschauung und Bewegung zugleich. ... Seine tiefsten Wurzeln schlug das liberale Denken ... in Westeuropa und Nordamerika, wo es den fruchtbarsten gesellschaftlichen Boden und das günstigste politische Klima für seine Entfaltung vorfand.“ 16
In ähnlichem Sinne äußert sich auch Hartwig Brandt, wenn er „Liberalismus“ als „jene gedankliche Kraft“ definiert, „die im 18. Jahrhundert den Epochenumbruch vorantrieb und den Prozeß parteilicher Differenzierung des öffentlichen Lebens in Bewegung brachte.“ 17 Das Wirken dieser „Kraft“ beschreibt Schapiro wie folgt: „Die Philosophen [in Frankreich] waren so einflußreich, daß es ihnen gelang, ein liberales Ideenmuster zu schaffen, das von den gebildeten Schichten ganz Westeuropas weitgehend akzeptiert wurde. Zur gleichen Zeit vollzog sich in England die Industrielle Revolution, die sich als der Nährboden des Liberalismus erweisen sollte. ... [Dort] fegte der moderne Industrialismus die für den Feudalismus charakteristische statische Gesellschaftsordnung hinweg und schuf eine Gesellschaft, die ständig in Bewegung war ... Der dauernde Wandel in Handel und Beruf, die dauernde Verschiebung der Bevölkerung vom Land zur Stadt und von Stadt zu Stadt, das Vergehen alter und das Entstehen neuer Verdienstmöglichkeiten – alles das schuf Bedingungen, die günstig für die dynamischen Ziele des Liberalismus waren. Einen weiteren starken Impuls erhielt der Liberalismus durch die Französische Revolution. Wo immer und wann immer die Französische Revolution vordrang, verkündete sie seine Prinzipien und setzte sie seine Politik durch. ... Praktisch wurde im neunzehnten Jahrhundert jede liberale Bewegung auf dem Kontinent direkt oder indirekt von der Französischen Revolution beeinflußt. Mit der Reformbill von 1832 in England und mit der Revolution von 1830 verbuchte der Liberalismus endlich einen eindeutigen Sieg. ... [Die] Interessen, ... Ideale [und] Werte [der Bourgeoisie] verdrängten die des grundbesitzenden Adels, der so lange die herrschende Klasse gewesen war.“ 18
3. WESENSMERKMALE DES LIBERALISMUS
3.1. VORBEMERKUNG
Nachdem nun also Herkunft und Entwicklung von Begriff und Idee des Liberalismus umrissen worden sind (wobei zwangsläufig bereits einige Aussagen zu Wesen und Inhalt des Liberalismus getroffen wurden), ist die Frage nach den Inhalten dieser Idee nun eingehender zu erörtern. Daß dies nicht ganz einfach ist, wurde ja bereits am Beginn dieser Arbeit angesprochen; und die zahlreichen im folgenden wiedergegebenen Definitionsansätze – vielfältig und nicht selten einander widersprechend – legen in der Tat Zeugnis ab von der Schwierigkeit, eine „letztverbindliche“, „allgemeingültige“ Begriffsbestimmung zu finden. Sie alle können wohl letztlich nicht anders denn als „Steinchen“ in dem großen „Mosaik“ des Liberalismus angesehen werden.
3.2. CHARAKTERISTIKA DES LIBERALISMUS
3.2.1. Jacob Salwyn Schapiro
Das Verhältnis des Liberalismus zum Menschen als Individuum, zum Staat und zur Gesellschaft wird von Jean Césaire19, von Jacob Salwyn Schapiro und Victor Leontovitsch analysiert – mit teilweise unterschiedlichem Resultat. „Aufgrund seines Glaubens, daß die menschliche Natur ihrem Wesen nach gut sei“, so postuliert Schapiro, „hatte der Liberalismus ein tiefes Vertrauen in den guten Willen des gewöhnlichen Menschen. Wenn nicht Angst vor Ungesichertheit und Ungerechtigkeit ihn trieb, neigte der Durchschnittsmensch dazu, in seinen persönlichen Beziehungen freundlich und in bezug auf das Allgemeinwohl kooperativ zu sein. Davon ausgehend wurde es die große Aufgabe des Liberalismus, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die den Menschen von den ihn immer bedrängenden Ängsten befreite, indem sie Sicherheit für sein Leben, sein Eigentum und seine Überzeugungen garantierte und sein materielles und soziales Wohl förderte. ... Der Liberalismus verschob den großen Kampf der Menschheit: der Konflikt lag nicht länger zwischen der bösartigen menschlichen Natur und der göttlichen Gnade, sondern zwischen dem Menschen, der gut war, und der Gesellschaft, die böse war. ... Eine Gesellschaftsordnung, die vom Glauben an die ihrem Wesen nach gute menschliche Natur getragen war, bedurfte keiner autoritären Unterdrückung, um ihre Stabilität zu erhalten.“ 20
3.2.2. Victor Leontovitsch
Eine in Teilen andere Sichtweise vertritt Victor Leontovitsch: „Die Grundidee des Liberalismus – schon die Bezeichnung selbst besagt es – ist die Verwirklichung der Freiheit, der Freiheit des Individuums. Die Grundmethode des Liberalismus ist nicht das Schaffen, sondern das Abschaffen, d. h. die Beseitigung von allem, was die individuelle Freiheit in ihrem Bestehen bedroht und in ihrer Entfaltung hindert. ... Wie bekannt, löste der Liberalismus als entwickeltes System den absolutistischen Polizeistaat ab [wobei ‚Polizei‘ im Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts ‚Verwaltung‘ im allgemeinen bezeichnete; Anm. B. P.] . ... So mußte es das natürliche Bestreben der liberalen Tendenzen sein, dieses Verwaltungssystem, seine Vorschriften und Organisationen zu reduzieren. ... Dieser liberale Individualismus ist jedoch kein absoluter, sondern ein relativer. Der Liberalismus nimmt nicht an, daß der Mensch immer gut und sein Wille nur auf das Gute gerichtet ist. Im Gegenteil, der Liberalismus weiß wohl, daß der Mensch als Subjekt eines relativ selbständigen Bewußtseins und als Träger eines relativ freien Willens sich sowohl dem Guten als auch dem Bösen zuwenden kann. Darum verlangt der Liberalismus im Unterschied zum Anarchismus (gewisse Formen von diesem können als eine Form des absoluten Individualismus bezeichnet werden) die Schöpfung einer objektiven Rechts- und Staatsordnung, die dem Willen des einzelnen gegenübersteht und diesen bindet. Darum bejaht er Institutionen oder soziale Gefüge, in die das Individuum eingereiht und dadurch diszipliniert wird. Nichtsdestoweniger ist der Liberalismus ein individualistisches System, weil der einzelne Mensch, das Individuum, an erster Stelle steht und den sozialen Einheiten oder Institutionen nur insoweit Wert beigemessen werden kann, als sie vom Standpunkt der Interessen und der Rechte des einzelnen ihre Rechtfertigung finden und die Verwirklichung der Ziele der einzelnen Subjekte fördern. So ist die Grundaufgabe des Staates und der sonstigen sozialen Gefüge der Schutz und die Sicherung dieser Rechte.“ 21
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