Da die Ernährung eine so zentrale und existenzielle Rolle der Menschen darstellte, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Forschung begann, sich mit dieser Thematik umfassend zu beschäftigen. Für das Mittelalter und den für diese Arbeit eingegrenzten Zeitraum der Frühen Neuzeit sind verschiedene Monografien und Aufsätze erschienen, die unterschiedliche Forschungsperspektiven einnehmen.
Für den großen Komplex der Landwirtschaft sei vor allem Wilhelm Abel zu nennen, der sich intensiv mit dem deutschsprachigen Raum befasste und grundlegende Erkenntnisse für diese Arbeit lieferte. Ebenso essenziell waren auch die Publikationen von Günter Wiegelmann. Der Historiker hat sich in den vergangenen Jahrzehnten besonders mit dem soziokulturellen Wandel der Speisen- und Tischkultur auseinandergesetzt. Bezogen auf die sozialen Gegebenheiten und den daraus resultierenden Konsumgewohnheiten der einzelnen Bevölkerungsschichten sei auch auf das von Irmgard Bitsch und Trude Ehlert herausgegebene Sammelband "Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit" verwiesen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Einflussfaktoren des Mittelalters
3. Die Standeszugehörigkeit als bestimmendes Merkmal der Ernährung der Frühen Neuzeit
4. Das 18. Jahrhundert im Spiegel landwirtschaftlicher Verbesserungen, feudaler Strukturen und Ernährungsinnovationen
5. Zusammenfassung
6. Quellenverzeichnis
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Kaum eine Population von höherentwickelten Lebewesen hat sich in den vergangenen 200 Jahren so drastisch vergrößert als die der menschlichen Spezies. Lag die globale Bevölkerungszahl im Jahre 1800 noch bei knapp 980 Millionen, sollte diese im Übergang zum 21. Jahrhundert die 6 Milliarden Marke überschreiten.1 Die Gründe für diese anhaltende „Bevölkerungsexplosion“ sind multikausal zu betrachten. Hierbei stechen vorrangig zwei Entwicklungen hervor: Zum einem die bahnbrechenden Errungenschaften in der Medizin und der Gesundheitserziehung, die zu einem kontinuierlichen Rückgang der Sterberaten führten, und zum anderen die landwirtschaftlichen Verbesserungen und Innovationen, die die Produktion von Nahrungsmitteln vereinfachte und extensivierte, sodass eine ausreichende Versorgung der Menschen auf regionaler und überregionaler Ebene gewährleistet werden konnte.2 Vor allem in den Industrienationen der nördlichen Hemisphäre wurden jegliche Nahrungsmittel für die meisten Menschen erschwinglich – größere Hungerphasen gab es nur noch in Kriegsjahren und zu anderen gesellschaftlichen Krisenzeiten. Wird der Fokus auf Europa und Deutschland gerichtet, so scheinen die Zeiten der Ernährungsengpässe und des Hungers endgültig vorbei zu sein. Laut eines Berichts des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 2017 waren 62% der erwachsenen Männer und 43% der erwachsenen Frauen übergewichtig.3 Obwohl sich dieser „Wohlstandsbauch“ in vielen Industrienationen und anderen Ländern ebenfalls etabliert hat und überdies zu einem nationalen Gesundheitsproblem avancieren konnte, leiden dennoch rund 2 Milliarden Menschen unter Mangelernährung und 820 Millionen an Hunger.4 Eine genaue Aufstellung sämtlicher Gründe für diesen Umstand zu machen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und wäre aufgrund seiner Komplexität nicht durchdringbar, jedoch liegen Unterernährung und Hunger in den meisten Fällen in mangelnden Strategien begründet, die eine ausreichende Nahrungsversorgung einzelner Länder, Regionen oder Bevölkerungsschichten ermöglichen. In Bezug auf das zur Verfügung stehende Wissen, die Bereitstellung von Mitteln oder die globale Nahrungsproduktion müsste heutzutage kein Mensch mehr hungern.
In den Zeiten vor der Industrialisierung und den zunehmenden globalen Handelsbestrebungen kann von einer Überproduktion von Nahrungsmitteln auch in Europa keinesfalls gesprochen werden. Im Gegenteil – verschiedene Einflussfaktoren, seien sie natürlich, sozial oder ökonomisch bedingt, erschwerten die Produktion und den ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln, sodass Hunger und Unterernährung in weiten Teilen der Bevölkerung zu den alltäglichen Bürden zählten.
Da nun die Ernährung eine so zentrale und existenzielle Rolle der Menschen darstellte, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Forschung begann, sich mit dieser Thematik umfassend zu beschäftigen. Für das Mittelalter und den für die vorliegende Arbeit eingegrenzten Zeitraum der Frühen Neuzeit sind verschiedene Monografien und Aufsätze erschienen, die unterschiedliche Forschungsperspektiven einnehmen. Für den großen Komplex der Landwirtschaft sei vor allem Willhelm Abel zu nennen, der sich intensiv mit dem deutschsprachigen Raum befasste und grundlegende Erkenntnisse für diese Arbeit lieferte.5 Ebenso essenziell waren auch die Publikationen von Günter Wiegelmann. Der Historiker hat sich in den vergangenen Jahrzehnten besonders mit dem soziokulturellen Wandel der Speisen- und Tischkultur auseinandergesetzt.6 Bezogen auf die sozialen Gegebenheiten und den daraus resultierenden Konsumgewohnheiten der einzelnen Bevölkerungsschichten sei auch auf das von Irmgard Bitsch und Trude Ehlert herausgegebene Sammelband „Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit“ verwiesen.7
Die grundlegenden Ausführungen und Erkenntnisse dieser und weiterer Autoren können auf den deutschen – wenngleich auch auf den gesamteuropäischen – Raum übertragen werden, müssen jedoch teilweise mit regionalen Gegebenheiten, wie klimatischen Bedingungen, Anbauprodukten, Handelsbeziehungen etc., verknüpft werden, die die jeweilige Esskultur dauerhaft prägten. Bedauerlicherweise ist die Aufarbeitung regionaler Gegebenheiten und Gewohnheiten sehr unterschiedlich ausgeprägt und daher für die eigene Recherche manchmal unergiebig. Dieser Fall trifft leider auch für das Herzogtum von Mecklenburg zu. Zwar können auch hier viele der ernährungsspezifischen Erkenntnisse der Frühen Neuzeit auf Mecklenburg übertragen werden, aber aufgrund der unzureichenden Quellenlage und Forschungsdichte können oftmals nur ebendiese allgemeinen Darstellungen zu Rate gezogen werden. Einige Lichtblicke sind hinsichtlich der düsteren Quellenlage jedoch vorhanden und werden an konkreter Stelle miteingebracht. So gesehen kann mit der vorliegenden Arbeit nur der Versuch unternommen werden, die eher allgemein gehaltene Thematik der frühneuzeitlichen Ernährung innerhalb Deutschlands mit konkreten Bezügen zu Mecklenburg partiell zu verbinden.
Das vornehmliche Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick darüber zu verschaffen, inwiefern sich die damaligen Menschen verschiedener Schichten ernährten und welche Faktoren ihre Ernährung beeinflussten, wobei auf die Ernährungsweise einzelner Herrscher, Fürsten und hohen Kleriker nicht eingegangen wird. Wie wirkten sich beispielsweise die Jahreszeiten, die Nahrungsmittelpreise oder die Religion auf die Ernährung aus? Welche Innovationen gab es in der Landwirtschaft? Welche gesellschaftlichen Umstände waren für die Ernährung maßgebend. All diesen und anderen Fragen soll nachgegangen werden. Der Aufbau der Arbeit äußert sich wie folgt: Zunächst werden im anschließenden Kapitel die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Einflussfaktoren des ausgehenden Spätmittelalters beleuchtet, die die Grundlage für die Esskultur der Frühen Neuzeit bildeten. Im darauffolgenden Kapitel werden die einzelnen Bevölkerungsschichten in Bezug auf ihre Ernährungsgewohnheiten, -möglichkeiten oder gar -privilegien analysiert, da sich durchaus vehemente Unterschiede zwischen den einfachen und höheren Ständen feststellen lassen. Im vierten Kapitel wird das 18. Jahrhundert konkret betrachtet, in dem sich landwirtschaftliche Verbesserungen, feudale Strukturen und das Aufkommen neuer Genuss- und Nahrungsmittel gegenüberstehen, um zu schauen, welche Entwicklung die Ernährung am Ende der Frühen Neuzeit vollzogen hat. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst.
2. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Einflussfaktoren des Mittelalters
Es ist nahezu unmöglich, alltagsgeschichtliche Themen monokausal zu betrachten – vor allem, wenn die Ernährung als Gegenstand einer Untersuchung herangezogen wird. Gerade dieses gesellschaftlich allumfassende Thema bedarf der Heranziehung verschiedener Aspekte. In diesem Kapitel werden zunächst die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Einflussfaktoren des Mittelalters betrachtet, die die Ernährung innerhalb der Frühen Neuzeit prägten und teilweise auch noch weit bis in 19. Jahrhundert hineinwirken sollten.
Es mag einem aufgrund populärer Auffassungen schwer fallen, statt beleibter Menschen, denen das Bier und die Bratensäfte während ausgiebiger Feste nur so die Münder runterlief, sich Menschen vorzustellen, die zum größten Teil ihres Lebens nur dünne und zusammengekochte Breie aus Getreide, Gemüse und Brot zu sich nahmen. Doch genau diese Kost spiegelt, abgesehen von einer privilegierten Minderheit, die Ernährungsweise der Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Europa wider.8 Die Gründe für diese „eintönige“ Ernährungsweise liegen vor allem in der quantitativen und gesellschaftlichen Entwicklung der Bevölkerung sowie den landwirtschaftlichen Möglichkeiten der damaligen Zeit begründet. Nahezu 80% der damaligen Bevölkerung lebte in unterschiedlich ausgeprägten Siedlungsgemeinschaften auf dem Land und arbeitete in der Landwirtschaft. Der überwiegende Großteil dieser ruralen Bevölkerung bestand aus gewöhnlichen Bauernfamilien, die bedingt durch das vorherrschende Feudalsystem meist in rechtlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu höhergestellten Personen (weltliche und geistliche Feudalherren) standen und bislang nur in geringen Fällen unabhängig und frei waren.9
Diese Großgruppe der Bauern betrieb zur Deckung ihrer Eigenversorgung und - im Falle einer Abhängigkeit - zusätzlich für die Versorgung ihres Feudalherren als Frondienst oder zur Abgabendeckung Ackerbau. Der Ackerbau, der sich bereits seit Jahrhunderten als die produktivste Form der Landnutzung etabliert hatte, setzte sich spätestens mit dem Beginn des Mittelalters als unangefochtene Nahrungsgrundlage durch, da die zunehmende Bevölkerungszahl in den ländlichen und sich allmählich herauskristallisierenden urbanen Dauersiedlungen des Mittelalters es notwendig machte, neue Wege oder Strategien der Nahrungsversorgung zu entwickeln.10 Denn durch die Siedlungszunahme in den europäischen Landen traten langfristig folgende Effekte ein, die vor allem die extensive Viehhaltung zurückdrängten und den arbeitsaufwendigen Ackerbau begünstigten: Zum einen gingen die Wald- und Weideflächen durch die starke Rodung und die zunehmende Begrenzung der Gemarkungsflächen zurück, sodass eine wirksame Viehhaltung zur ausreichenden Produktion von Milch- und Fleischerzeugnissen durch die Bauern nicht mehr möglich war. Zum anderen zeigte sich, dass gerade der Anbau von vorderasiatischen und mediterranen Getreidesorten die effektivste Methode war, den sich verknappenden Nutzflächen zu begegnen und gleichzeitig die steigende Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln zu decken.11 Das robuste und nahrhafte Getreide, wie Roggen, Dinkel und Hafer, war zudem auch unter den teilweise ungünstigen natürlichen Gegebenheiten ein Garant für gute Ernteerträge, da es mit den unterschiedlichen Witterungsbedingungen der Jahreszeiten und den meist nährstoffarmen Böden Mitteleuropas zurechtkommt. Es verwundert daher nicht, dass sich die damalige Landwirtschaft spätestens seit dem Frühmittelalter auf den Anbau von Getreide und dessen Ertragssteigerung ausrichtete – schließlich waren dessen Produkte, wie Mehl und Brot, besonders gut verdaulich und nahrhaft.12 In der Fachwissenschaft wird diese einseitige Ausrichtung des Ackerbaus auf die extensive Getreideproduktion während des zunehmenden Mittelalters und im Speziellen während des Hochmittelalters oft als sogenannte „Vergetreidung“ beschrieben.13
Im Vergleich zu heute waren die Möglichkeiten der damaligen Landwirtschaft jedoch ziemlich begrenzt: Die gemeinen Bauern besaßen noch keine Erntemaschinen, industriell produzierten Mineraldünger oder gigantische Gewächshäuser, mit denen sie ihre Ernteerträge und -vielfalt enorm verbessern konnten. Die lokalen und regionalen Gegebenheiten des Bodens und des Klimas sowie das zunächst einfache Arbeitsgerät aus Hacken, Eggen oder einfachen Pflügen bestimmten ihren Handlungsrahmen, sodass das Nahrungsangebot nur in den Frühjahrs- und Sommermonaten einigermaßen ergiebig war – wohingegen die Herbst- und Wintermonate nur durch konservierte Lebensmittel, winterhartes Gemüse, Fleisch, Fisch und gelagerte Getreidevorräte überbrückt werden konnten.14 Dennoch kam es im Mittelalter auch zu einigen Weiterentwicklungen in der Bodenbewirtschaftung. Hier sei vor allem die Dreifelderwirtschaft zu nennen, die ungefähr seit dem 12. Jahrhundert in ganz Europa Einzug erhielt und für einen nachhaltigeren und ertragsmaximierenden Ackerbau sorgte. Dieses Bewirtschaftungssystem sah es vor, die parzellierten Anbauflächen zu dritteln und diese in einem dreijährigen Rhythmus von Winterfrucht (Wintergetreide), Sommerfrucht (Sommergetreide) und Brache zu nutzen. Während des Brachjahres konnte sich der Boden erholen und der natürliche Pflanzenwuchs wurde von den Weidetieren abgefressen – im Laufe der Zeit wurde das Brachland aber auch zum Anbau von sog. Blattfrüchten (z. B. Rüben oder Hülsenfrüchte, wie Erbsen und Bohnen) genutzt.15 Darüber hinaus wurden Hülsenfrüchte und andere Gemüse- und Obstsorten von den Bauern auch in eigenen Gärten oder anderen Feldstücken (Beunden) angebaut, die nicht dem Flurzwang oder dem gemeinsamen Weidegang unterlagen. Neben der Dreifelderwirtschaft gab es auch andere Bodennutzungssysteme. In Mecklenburg etablierte sich zur Zeit des Hochmittelalters eine Vier- oder Mehrfelderwirtschaft, bei der in der Abfolge zusätzlich noch ein Gersten- oder Haferfeld eingeschoben war. In anderen Regionen bestand neben der Dreifelderwirtschaft die Einfeld- oder Zweifelderwirtschaft weiterhin fort.16
Abgesehen von alternativen Anbaustrategien kamen im Hochmittelalter weitere Faktoren hinzu, die die Landwirtschaft „gedeihen“ ließen: Zum einen wurden die allgemeinen Anbauflächen weiträumig ausgedehnt, neue Gebiete im Osten erschlossen (Landesausbau, Ostkolonisation), die Arbeitsinstrumente verbessert und der Einsatz von Nutztieren (Ochsen) verstärkt. Zum anderen führte der vom 11. bis zum 13. Jahrhundert andauernde wirtschaftliche Aufschwung im deutschen Raum zu einem Aufblühen der Städte und damit zu einem beträchtlichen Anstieg der städtischen Bevölkerung durch die zahlreichen Städte-neugründungen.17 Die dadurch entstandene Nachfrage nach Nahrungsmitteln über den städtischen Markt hatte nicht nur die Wirkung inne, gesteigerte Bodenerträge erzielen zu müssen, sondern auch, dass der lokale und überregionale Handel mit Nahrungsmitteln (v. a. Getreide) stark expandierte.18 Die Entwicklung der Städte und der Landwirtschaft stand somit in einer unmittelbaren Wechselbeziehung. Die Stadt, als Handels- und Wirtschaftszentrum einer Region, begünstigte einerseits den Landesausbau, förderte die Marktbeziehungen der ländlichen Bevölkerung und verbesserte deren Einkommensverhältnisse und Ausstattungsmöglichkeiten.19 Andererseits bestimmten die landwirtschaftlichen Erträge, gar die Erträge aus der Überproduktion, das Nahrungsangebot und deren Preise auf den Märkten. In Zeiten eines ausreichenden Angebots und angemessenen Preisen konnten die Städte wachsen, da ihre Bewohner genügend ernährt werden konnten. Sicherlich ist diese Aussage in Bezug auf städtisches Wachstum etwas zugespitzt, aber tatsächlich gab es zwischen der städtischen und ländlichen Bevölkerung einen gravierenden Unterschied: Die „Städter“ waren reine Konsumenten und führten allenfalls nur weiterverarbeitende Gewerke, als Müller, Bäcker oder Schlachter aus; die „Grundzutaten“ wurden auf dem Land gezüchtet oder geerntet. Die meisten städtischen Haushalte mussten ihre Nahrungsmittel demnach ganz oder teilweise dazukaufen, wobei diese Aufwendungen knapp dreiviertel ihres Gesamteinkommens ausmachten.20
Wie gravierend sich dabei die wiederkehrenden Preisschwankungen von Getreide und anderen Nahrungsmitteln oder gar deren Engpässe auf die städtische Bevölkerung ausgewirkt haben müssen, zeigen die vielen allgemeinen und regionalen Hungersnöte in dieser bzw. der gesamten vorindustriellen Zeit. Der Hunger war aber nicht nur innerhalb der städtischen, sondern auch in der ländlichen Bevölkerung allgegenwärtig und alltäglich, denn die Ursachen für Nahrungsengpässe sind auch hier wieder vielfältig. Neben ökonomischen Ursachen, sozialen Ungleichheiten oder Kriegen, muss zuvorderst auch wieder die Natur als bestimmende Kraft angesehen werden.21 Zu lange Winterfröste oder verregnete und kühle Sommer trafen die Menschen durch die daraus resultierenden Missernten hart. Da die Bauern direkt von ihren eigenen Produktionsleistungen und Ernteerträgen lebten, zogen Missernten Monate – manchmal auch Jahre – der Nöte, der Entbehrungen, der Disziplin und des Durchhaltewillens nach sich. Darüber hinaus kam es oft vor, dass sich Menschen am Saatgetreide vergriffen und dadurch ein verregneter Sommer zwei darauffolgende Notjahre bedeuten konnte.22 Für die städtische Bevölkerung führten die Missernten der umliegenden Anbaugebiete nicht nur mittelfristig zu Nahrungsengpässen, sondern längerfristig auch zu einer Verteuerung der Lebensmittelpreise, da Getreide und andere Nahrungsgüter aus entfernteren Regionen beschafft werden mussten und somit u. a. höhere Transportkosten anfielen. Menschen mit einem geringen Einkommen gerieten damit unwiderruflich in existenzielle Notlagen und drohten zu verhungern. Die Folgen des dauerhaften Hungerleidens der breiten Bevölkerung strapazierten nicht nur das fragile Gerüst menschlicher Ordnungen und gesellschaftlicher Normen, sondern machten die Menschen aufgrund des Mangels an Nährstoffen auch anfälliger gegenüber Infektionskrankheiten.23 Abgesehen von den verheerenden Pestepidemien, welche in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in ganz Europa wüteten und die Bevölkerung in Deutschland um mehr als ein Drittel reduzierte, stieg auch die Sterblichkeitsrate in Hungerzeiten spürbar an.24 Ernst Schubert ergänzte dazu, dass die erste Folge in Notzeiten oftmals nicht das Verhungern gewesen ist, sondern die Vergiftung durch ungeeignete Nahrung. Die häufigste Erscheinung war dabei der Ergotismus, der gemeinhin auch als „Antoniusfeuer“ oder „Mutterkornbrand“ bekannt ist. Obwohl dieses Krankheitsbild schon im 9. Jahrhundert beschrieben wurde, scheinen die Ursachen für diese furchtbare Krankheit erst um 1600 erkannt worden zu sein. Verantwortlich ist ein Schlauchpilz, der in den Roggen- oder Weizenähren schwarze Körner erzeugt, welche wiederum zwei Gifte enthalten. Infolge des Verzehrs dieser Körner verengen sich die Blutgefäße, sodass es zu Durchblutungsstörungen in den Organen oder Gliedmaßen kommen kann und diese dann absterben. Dies führte nicht nur zu Verstümmelungen und Deformationen, sondern brachte in vielen Fällen auch den Tod mit sich – eine wahrhaft qualvolle Krankheit, die innerhalb des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wiederkehrend Einzug hielt.25
Ein Aspekt wurde bisher noch nicht behandelt, nämlich der des Trinkens. Das Trinken ist für das Überleben eines Menschen ebenso notwendig, wie dessen Versorgung mit organischen und anorganischen Nährstoffen aus der Nahrung, da der Körper für die unzähligen Prozesse und Reaktionen Wasser benötigt und zu einem großen Teil (50-70%) aus dieser Molekülverbindung besteht.26 Während heutzutage niemand zögert, sich aus dem häuslichen Wasserhahn ein Glas mit Wasser zu befüllen, wurde das Wasser aus den Brunnen und Flüssen zur Zeit des Mittelalters gemieden – Wasser war Notnahrung und wurde getrunken, wenn andere Getränke, wie Bier und Wein, knapp waren und der schwer ertragbare Durst die Menschen dazu nötigte.27 Die Gründe für den vorrangigen Verzehr von Bier und Wein sind vielerlei: Der Genuss von alkoholischen Getränken war schon im Mittelalter ein seit Jahrhunderten und Jahrtausenden gepflegter Brauch, welcher im Wesen des Menschen verankert zu sein scheint, da diese Getränke angenehme Lustgefühle und anregende Zustände erzeugen. Der zunächst mediterrane Weinbau wurde im Mittelalter auch auf die Regionen Mittel- und Westeuropas ausgeweitet und avancierte in den dortigen Anbaugebieten zum wichtigsten Erwerbszweig und Exportartikel und blieb vorrangig den Vornehmen vorenthalten.28 Die Bierbraukunst war dagegen ein vor allem in den mittleren und nördlichen Breiten Europas verbreitetes Handwerk und oblag zunächst vorrangig den niederen Klerikern – ein Bild, welches sich in den allgemeinen Vorstellungen über den Alltag der Mönche eingebrannt hat. Im Zuge der zunehmenden Urbanisierung und Bevölkerungszunahme im Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter wurde dieses Verfahren aber auch vermehrt von gewöhnlichen Menschen und Laien betrieben und erfreute sich dadurch einer zunehmenden Verbreitung und Beliebtheit, wodurch das Bier nicht nur zu einem alltäglichen Nahrungsmittel der Menschen wurde, welches zu jeglichen Anlässen oder Mahlzeiten zu sich genommen wurde, sondern sich auch hier zu einem wichtigen und lukrativen Bestandteil des Handels und der Wirtschaft entwickelte.29
[...]
1 Dabei sei angemerkt, dass Statistiken über die Bevölkerungsentwicklung bis zum 19. Jahrhundert mit Vorsicht betrachtet werden müssen, da bereits die erhobenen Zahlen einzelner europäischer Länder aus dieser Zeit mitunter stark variieren – von validen Aussagen über die Bevölkerungszahl in Asien, Afrika und Südamerika kann ebenso wenig gesprochen. Die hier miteinbezogenen Daten stammen aus einer Studie der UN im Jahre 1994, hier aus: Birg, Herwig: Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren, München 1996, S. 51.
2 Jöst, Frank: Bevölkerungswachstum und Umweltnutzung. Eine ökonomische Analyse, Heidelberg 2002, S. 28.
3 Siehe dazu: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/10/PD18_416_12212.html (abgerufen am 13.09.2019)
4 Siehe dazu: https://www.welthungerhilfe.de/hunger/ (aufgerufen am 13.09.2019)
5 Siehe dazu: Abel, Willhelm: Die drei Epochen der deutschen Agrargeschichte, Hildesheim 1964; Ders.: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978.
6 Siehe dazu: Mohrmann, Ruth/Wiegelmann, Günter (Hg.): Nahrung und Tischkultur im Hanseraum, Münster 1996; Hinrichs, Ernst/Wiegelmann, Günter (Hg.): Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts, Wolfenbüttel 1982.
7 Siehe dazu: Bitsch, Irmgard/Ehlert, Trude (Hg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1990;
8 Vgl. Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt 2010, S. 11 f.
9 Neben den freien und unfreien Bauern gab es noch andere soziale Gruppen, wie die Gesindekräfte, die als ungelernte Hilfskräfte in der Haus- und Landwirtschaft tätig waren oder Handwerker, die ihr Gewerbe auf den örtlichen Markt ausgerichtet hatten, sowie niedere Geistliche und Beamte, die bspw. in den Villikationszentren ihrer Feudalherren administrativ tätig waren. Vgl. Henning, Friedrich-Wilhelm: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland. Band 1. 800 bis 1750, Paderborn 1979, S. 58 f; vgl. Mathis, Franz: Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert, in: Gall, Lothar (Hg.): Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 11, München 1992, S. 4 f. Die Grundherrschaft war ein Kern der mittelalterlichen Agrarverfassung und wurde im Frühmittelalter zu wirtschaftlichen Basis für die unterschiedlichen Führungsschichten. Im Laufe ihrer Entwicklung erfasste sie die große Masse der bäuerlichen Bevölkerung und bestimmte nachhaltig deren soziale und wirtschaftliche Position durch ihre unterschiedlich ausgeprägten Organisationsgrade und -formen (mehrstufiges Villikationssystem, Abgabengrundherrschaft, Gutswirtschaft, Grundherrschaft des Königs). Siehe dazu: Rösener, Werner: Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, in: Gall, Lothar (Hg.): Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Band 13, München 1992, S. 7 u. 11 f.
10 Vgl. Saalfeld, Diedrich: Wandlungen der bäuerlichen Konsumgewohnheiten vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Bitsch, Irmgard/Ehlert, Trude (Hg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1990, S. 60.
11 Vgl. ebenda.
12 Vgl. Saalfeld, S. 60. Die in Mitteleuropa vorherrschenden Braun-, Parabraun- oder Podsolerden sind sauer und an Nährstoffen verarmt und bieten ohne Düngung etc. keine gute Grundlage für einen facettenreichen Anbau von Feldfrüchten verschiedenster Art. Für einen allg. Überblick siehe dazu: Scheffer, Fritz/Schachtschabel, Paul (Hg.): Lehrbuch der Bodenkunde, 17. überarbeitete Auflage, Berlin 2018, S. 470 ff.
13 Vgl. Schubert, S. 74.
14 Vgl. Rösener, S. 5.
15 Vgl. ebenda, S. 6; vgl. Henning, S. 78 u. Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt/Main 2001, S. 115.
16 Auf die norddeutsche bzw. mecklenburgische Koppelwirtschaft wird im späteren Kapitel noch eingegangen. Die Zweifelderwirtschaft war besonders in einigen westdeutschen Weinanbaugebieten, da der Weinbau viel Arbeit und Dünger verlangte und so das Fortbestehen diese Bodenbewirtschaftung auf den Getreidefeldern begünstigte. Die Einfeldwirtschaft war vor allem auf den Eschböden Nordwestdeutschlands in Gestalt des „ewigen Roggenbaus“ weit verbreitet. Der kontinuierliche Roggenanbau verlangte jedoch eine beständige Erneuerung der pflanzlichen Wachstumsbedingungen, was durch die Ausbringung von Stalldung und Heide- und Grasplaggen erreicht wurde. Vgl. dazu Rösener, S. 20.
17 Vgl. Henning, S. 89 u. Rösener, S. 16 ff.
18 Vor allem der Fernhandel mit Nahrungsgütern sollte sich mit der stetig wachsenden Stadtbevölkerung stark ausweiten, da die benötigten Mengen an städtischen Lebensmitteln in der engeren Umgebung nicht mehr ausreichend produziert werden konnten. In manchen Fällen waren auch ganze Landschaften aufgrund ihrer ungünstigen natürlichen Verhältnisse auf die Zufuhr von Lebensmitteln entfernter Regionen angewiesen. Der florierende Fernhandel mit Nahrungsmitteln nahm im allgemeinen Fernhandelsverkehr bald eine wesentliche Stellung ein und konnte sich dadurch auch zu einem politischen Druckmittel avancieren. Vor allem die Hanse setzte mit ihren Handelsblockaden von Grundnahrungsmitteln, wie Getreide, Bier, Salz, Hering und Stockfisch, ihre politischen Kontrahenten unter Druck oder zwang diese damit zum Einlenken. Siehe dazu: Henn Volker: Der hansische Handel mit Nahrungsmitteln, in: Mohrmann, Ruth/Wiegelmann, Günter (Hg.): Nahrung und Tischkultur im Hanseraum, Münster 1996, S. 23-48.
19 Vgl. Henning, S. 90 f.
20 Vgl. Schubert, S. 72.
21 Vgl. ebenda, S. 33.
22 Vgl. Schubert, S. 34.
23 Vgl. ebenda, S. 34 ff. u. Hirschfelder, S. 116.
24 Vgl. Montanari, Massimo: Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, [Aus dem Ital. übersetzt von Matthias Rawert], München 1999, S. 87 f; vgl. Henning, S. 145 f. In Folge der andauernden Pestwellen im 14. Jahrhundert führte der daraus resultierende Bevölkerungsrückgang zu beträchtlichen Verlusten an Dörfern, Höfen und bebauten Fluren, sodass das Siedlungsbild vieler Landschaften von Wüstungen geprägt war. Besonders Regionen, die nicht klimatisch und bodenmäßig begünstigt waren, dünnten sich aus, da die Menschen in umliegende Städte und Dörfer mit besseren Wirtschaftsverhältnissen abwanderten. Der Schwund der Dörfer war begleitet von einem Fall der Preise für Agrarprodukte – vor allem die Getreidepreise fielen am stärksten, da das Angebot an Getreide nicht parallel zur geschrumpften Nachfrage zurückging und daher ein Überhang entstand. Die Preise für tierische Produkte sowie für Roh- und Hilfsstoffe der Gewerbe (Wolle, Faserpflanzen) hielten sich hingegen besser, da sie durch die wachsende Kaufkraft der Städter, deren Löhne durch den hohen Bedarf an Handwerkern etc. stiegen, und die Entfaltung der gewerblichen Wirtschaft größeren Absatz fanden. Mit den Wüstungen in den ländlichen Regionen kam es für mehrere Jahrzehnte zu einem Aufleben der Viehwirtschaft, da die aufgegebenen Äcker eingehegt und als Weideland genutzt wurden – der Fleischkonsum stieg in dieser Periode daher wieder an. Mit dem Beginn des 15. Jahrhundert sollte die Preise für Getreide im Zuge der sich erholenden Bevölkerung wieder erhöhen. Siehe für die wirtschaftlichen Entwicklungen und Umstände im ausgehenden 14. Jahrhundert: Abel, Wilhelm: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg 1978, S. 57 – 103; vgl. Abel, Willhelm: Stufen der Ernährung, Göttingen 1981, S. 8; Rösener, S. 32 ff u. Teuteberg, Hans: Stadien der Ernährungsgeschichte, in: Teuteberg, Hans/Wiegelmann, Günter (Hg.): Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung, 2. Auflage, Münster 1986, S. 306.
25 Je länger das Getreide gelagert wird, desto mehr bauen sich die giftigen Substanzen wieder ab und werden unschädlich. In den wiederkehrenden Hungerzeiten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war dies jedoch nicht möglich. Vgl. Busch, Helmut: Unerwünschte Ernährungseffekte. Beispiele aus der Medizingeschichte, in: Bitsch, Irmgard/Ehlert, Trude (Hg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1990, S. 149 u. Schubert, S. 35 ff.
26 Vgl. Bitsch, Roland: Trinken, Getränke, Trunkenheit, in: Bitsch, Irmgard/Ehlert, Trude (Hg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1990, S. 207.
27 Vgl. Schubert, S. 169.
28 Vgl. Bitsch, S. 209. Für eine ausführliche Betrachtung des Weinanbaus und seiner Geschichte siehe Schubert, S. 173-205.
29 Besonders um Rostock wurde ein verstärkter Anbau von Hopfen zur Bierherstellung betrieben, wodurch das Bier und die aus dem Umland bezogene Gerste neben dem Hering eines der bedeutendsten Exportgüter der Hansestadt wurde. Vgl. Rösener, S. 36; Schubert, S. 224. u. Henn, S. 38 f; Um den Rostocker Heringshandel zu unterstreichen, soll an dieser Stelle auf die „Rostocker Heringstonne“ verwiesen werden, die seit dem 14. Jahrhundert zur Normtonne, auch für andere Waren, im Hanseraum wurde. Vgl. Wiegelmann, Günter: Butterbrot und Butterkonservierung im Hanseraum, in: Mohrmann, Ruth/Wiegelmann, Günter (Hg.): Nahrung und Tischkultur im Hanseraum, Münster 1996, S. 468. Auch Wismar war im 14. Und 15. Jahrhundert eine der führenden Brauerstädte im Ostseeraum und hatte schon im 13. Jahrhundert eine erstaunlich hohe Zahl an umliegenden Hopfengärten. Für den weitreichenden Handel bezog es aber auch Hopfen aus den östlichen und südöstlichen Teilen Mecklenburgs. Vgl. Irsigler, Franz: „Ind machden alle lant beirs voll“ Zur Diffusion des Hopfenbierkonsums im westlichen Hanseraum, in: Mohrmann, Ruth/Wiegelmann, Günter (Hg.): Nahrung und Tischkultur im Hanseraum, Münster 1996, S. 382.