Die vorliegende Arbeit versucht die Frage zu klären, welche Gründe in der Peirceschen Darlegung des Pragmatismus für die Weiterentwicklung oder Transformation der Korrespondenztheorie zur Konsenstheorie der Wahrheit vorliegen. In diesem Kontext erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Konsenstheorie und deren erkenntnistheoretischen Implikationen im Allgemeinen sowie im Speziellen mit dem konsensualen Kriterium, welches im Mittelpunkt dieser Wahrheitskonzeption steht.
Für Peirce ist der Pragmatismus eine Methode der Begriffsklärung, die sich in erster Linie auf die Wissenschaft erstreckt. Er wendet sich gegen den Intellektualismus und die Abstraktionen der Metaphysik und revolutioniert die Erkenntnistheorie maßgebend.
Das Hauptanliegen der Erkenntnislehre, welche Erkenntnis als eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung definiert, besteht in der Frage, wie begründet werden kann, dass eine Überzeugung oder ein Glaube wahr ist. Die zentralen erkenntnistheoretischen Hauptströmungen neben dem Pragmatismus, also der Rationalismus, Empirismus und Kritizismus, führen zur Klärung dieser Frage verschiedene Evidenzkriterien an, die sich jedoch allesamt auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit stützen. Wahrheit ist demnach die Übereinstimmung einer Aussage über die Realität mit der Realität.
Peirce hingegen verschiebt den Fokus im Gefüge der erkenntnistheoretischen Substanz aus Wahrheit, Rechtfertigung und Überzeugung.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Wesen des Pragmatismus nach Peirce
3 Erkenntnistheoretische Prozessualität -Von Überzeugungen zu Handlungsgewohnheiten
4 Das konsensuale Wahrheitsverständnis im Kontext weiterer Wahrheitstheorien
5 Der Versuch eines mehrfach kritischen Ansatzes hinsichtlich der Methode konsensualer Wahrheitsfindung innerhalb der Peirceschen Forschergemeinde
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Wir müssen glauben, dass alles eine Ursache habe, so wie die Spinne ihr Netz spinnt, um Fliegen zu fangen. Sie tut dieses, ehe sie weiß, dass es Fliegen in der Welt gibt.“
Georg Christoph Lichtenberg
Der öffentliche Geburtsakt einer philosophischen Strömung, die wohl wie keine andere den Habitus und das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft bis heute prägt, fällt auf das Jahr 1898, in welchem William James vor einem Publikum von mehr als eintausend Zuhörern einen Vortrag an der Universität von Berkeley über die Philosophie des Pragmatismus hält.
Die Wurzeln dieser Philosophie lassen sich auf denMetaphysical Clubder Harvard University zurückverfolgen, welcher von den befreundeten jungen Intellektuellen William James und Charles Sanders Peirce mitbegründet wurde. Innerhalb dieser Vereinigung wurden die theoretischen Grundpfeiler des Pragmatismus avanciert, dessen Kernanliegen darin besteht, dass sich die Bedeutung eines Gedankens stets in der Erfahrung, anhand seiner beobachtbaren Resultate, zeigt.
Obwohl Charles Sanders Peirce durch seinen im Jahre 1878 publizierten Artikel „How to Make our Ideas Clear“ als der maßgebende Begründer des Pragmatismus gilt, erlangte er erst durch zahlreiche Rückverweise in den Werken von William James und John Dewey philosophische Aufmerksamkeit.
Für Peirce ist der Pragmatismus eine Methode der Begriffsklärung, die sich in erster Linie auf die Wissenschaft erstreckt. Er wendet sich gegen den Intellektualismus und die Abstraktionen der Metaphysik und revolutioniert die Erkenntnistheorie maßgebend.
Das Hauptanliegen der Erkenntnislehre, welche Erkenntnis als eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung definiert, besteht in der Frage, wie begründet werden kann, dass eine Überzeugung oder ein Glaube wahr ist. Die zentralen erkenntnistheoretischen Hauptströmungen neben dem Pragmatismus, also der Rationalismus, Empirismus und Kritizismus, führen zur Klärung dieser Frage verschiedene Evidenzkriterien an, die sich jedoch allesamt auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit stützen. Wahrheit ist demnach die Übereinstimmung einer Aussage über die Realität mit der Realität.
Peirce hingegen verschiebt den Fokus im Gefüge der erkenntnistheoretischen Substanz aus Wahrheit, Rechtfertigung und Überzeugung.
Die Wahrheit ergibt sich bei Peirce daher aus einer bestimmten Konstitution der Überzeugung.
Die vorliegende Arbeit versucht die Frage zu klären, welche Gründe in der Peirceschen Darlegung des Pragmatismus für die Weiterentwicklung oder Transformation der Korrespondenztheorie zur Konsenstheorie der Wahrheit vorliegen. In diesem Kontext erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Konsenstheorie und deren erkenntnistheoretischen Implikationen im Allgemeinen sowie im Speziellen mit dem konsensualen Kriterium, welches im Mittelpunkt dieser Wahrheitskonzeption steht.
2 Das Wesen des Pragmatismus nach Peirce
Zunächst gilt es zu konstatieren, dass der Pragmatismus keine exakt zu bestimmende homogene philosophische Disziplin ist, da es bereits zwischen den Klassikern Probleme gab, sich auf eine einheitliche inhaltliche Bedeutung festzulegen. Gerade zwischen den beiden frühsten Vertretern Charles S. Peirce und William James gibt es eklatante definitorische Divergenzen1, insbesondere bezüglich des Wahrheitsbegriffes, auf welchen später noch näher eingegangen wird. Diese Divergenzen führen schließlich dazu, dass Peirce seine eigene Position später inPragmatizismusumbenennt, um sich von dem Populärpragmatismus im Sinne von James deutlich abzugrenzen2.
Jedoch verstehen die klassischen Pragmatisten die pragmatische Methode seit jeher vor allem als Anwendung der „pragmatischen Maxime“3, welche von Peirce wie folgt formuliert wurde:
„Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffes in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkung das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.“4
Nach dieser Maxime besteht der Inhalt eines Begriffes also in den denkbaren praktischen Wirkungen von Gegenständen, welche unter diesen Begriff fallen. Demzufolge kann es keinen Unterschied des begrifflichen Gehaltes geben, dem nicht zugleich auch ein möglicher Unterschied in der Praxis entspricht. Somit sind die praktischen Auswirkungen verschiedener Begrifflichkeiten und Theorien als deren retrospektive Bedeutungsermittlung anzusehen.
Peirce bezeichnet in seinem Brief „Ein Überblick über den Pragmatismus“ aus dem Jahre 1907 diese retrospektive Bedeutungsermittlung von Begriffen sogar als vorrangige Aufgabe und zugleich Methode des Pragmatismus:
„Es mag genügen, noch einmal zu betonen, daß der Pragmatismus als solcher keine metaphysische Lehre ist, kein Versuch, die Wahrheit von Gegenständen zu bestimmen. Er ist allein eine Methode, die Bedeutung schwieriger Wörter und abstrakter Begriffe zu ermitteln. Alle Pragmatisten jedweder Schattierung werden dieser Feststellung aufrichtig zustimmen.“5
Diese Bedeutungsermittlung entspricht laut Peirce der experimentellen Methode bewährter Wissenschaften, die bereits einen hohen Grad an Gewissheit oder vielmehr Resilienz ihrer Wissensbestände hervorbringen konnten6. Diese Auffassung kennzeichnet eine wissenschaftsfreundliche und empiristische Grundhaltung des Peirceschen Pragmatismus. Sie geht mit einem strikten Experimentalismus einher, welcher sich nicht allein auf den Kontext der Naturwissenschaften, sondern ebenso auf ethisch - moralische, wie auch politische Gegenstände erstreckt7.
Zusammenfassend besteht der Leitgedanke der pragmatischen Methode bei Peirce also in der Determiniertheit theoretischer Unterschiede durch praktische Konsequenzen8. Folglich legt er ein Primat der Praxis gegenüber der Theorie fest oder auch ein Primat der theoretischen Imagination der praktischen Wirkung einer Theorie gegenüber dieser Theorie selbst.
Dieser Leitgedanke stellt zugleich die Antwort auf das Anliegen des Pragmatismus9dar, eine Klarheit des Denkens zu erreichen, welche von einem höheren Grad ist als die Deutlichkeit der Logiker oder Rationalisten10. Die Unterscheidung von klaren und deutlichen Vorstellungen übernimmt Peirce anerkennend von Descartes, erweitert diese aber durch eine Steigerung der Klarheit, da seiner Auffassung nach über den definitorischen Gehalt der Deutlichkeit keine höhere Verständlichkeit des Denkens erzielt werden kann und der Erkenntnis - und Lernfortschritt somit stagniert11. Während deutliche Vorstellungen eine begriffliche Formalisierung und Partikularisierung des betreffenden Erkenntnisgegenstandes ermöglichen,
erfolgt über klare Vorstellungen die Differenzierung von Erkenntnisobjekten, z.B. einer Unterscheidbarkeit von Fahrzeugen, Lebewesen oder Weinsorten. Diese Unterscheidbarkeit beruht auf einem impliziten Verständnis der Wesensart, Beschaffenheit und Abgrenzung eines Erkenntnisgegenstandes.
Der Begründer der Ästhetik, Alexander G. Baumgarten, warb in seinen Texten bereits vor Peirce für eine Steigerung der Klarheit durch Intensivierung und Extensivierung, um sinnliche Erkenntnis zu erlangen12. Diese Steigerung entspricht bei Baumgarten der Prägnanz.
Im Folgenden soll die Frage geklärt werden, welches erkenntnistheoretische Momentum bei Peirce ausschlaggebend dafür ist, den angestrebten „dritten Grad der Klarheit einer Auffassung“13zu erreichen.
3 Erkenntnistheoretische Prozessualität -Von Überzeugungen zu Handlungsgewohnheiten
Am Anfang der Erkenntnisgewinnung stehen bei Peirce zunächst die Zustände des Zweifels und der Überzeugung, welche sich episodisch abwechseln. Er beschreibt den Zweifel als einen unangenehmen und unbefriedigenden Zustand, welcher das Subjekt dazu motiviert selbigen schnellstmöglich zu überwinden14. Die mit dem Zweifel einhergehende Irritation stößt einen Denkprozess an, welcher mit einer Hypothese beginnt und zur Festlegung einer Überzeugung führt15. Für den irritierenden Zweifel lassen sich nach Peirce zwei Quellen festmachen. Einerseits die Diskrepanz zwischen unseren Erwartungen und der Empirie, also dem, was tatsächlich eintritt, und andererseits den von Meinungsverschiedenheiten ausgehenden sozialen Impulsen16. Der Zweifel regt den Verstand zu einer Aktivität an, die dem „Ringen um eine Überzeugung“17gleichkommt, da nach Peirce eine selbstregulierende Absicht zur Überwindung der Ungewissheit und innerer Verwirrung besteht. Das Denken ist daher ein System der kontinuierlichen Generierung von Überzeugungen zur Minderung der eigenen Aktivität, welche durch den Reiz des Zweifels initiiert wurde18. Erst mit der Festlegung einer Überzeugung kann ein vorübergehender Ruhepunkt des Denkens erreicht werden.
Peirce schreibt einer Überzeugung drei charakteristische Merkmale zu:
„Erstens ist sie etwas, dessen wir uns bewußt [sic] sind, zweitens bringt sie die Erregung des Zweifels zur Ruhe und drittens schließt sie die Einrichtung einer Regel des Handelns in unsere Natur ein - oder kürzer: Eine Verhaltensgewohnheit.“19
Überzeugungen manifestieren sich folglich in bestimmten Verhaltensgewohnheiten, welche nach diesen ausgerichtet sind. Um dies zu verdeutlichen, bietet es sich an dieser Stelle an ein selbstgewähltes Beispiel einzubringen. Wenn man nach der Phase des Zögerns und Zweifelns hinsichtlich der thermischen Wirksamkeit der Flammen eines Lagerfeuers zu der Überzeugung gelangt ist, dass diesen Flammen eine erwärmende, anstatt abkühlende Wirkung innewohnt und bei ihrer Berührung nach kurzer Zeit starke Verbrennungen am eigenen Körper auftreten, wird man, vorausgesetzt man besitzt keine masochistische Ader, seine Verhaltensweise so anpassen, dass eine Berührung mit dem Feuer ausbleibt. Ist man gegenteiliger Überzeugung, also geht man von einer abkühlenden Wirkung des Feuers aus, dann sollten als Konsequenz in der Handlungspraxis demnach jegliche Verbrennungserscheinungen ausbleiben.
Auf diese Weise werden also falsche von richtigen Überzeugungen unterschieden, je nachdem welcher praktische Handlungsfolge auftritt.
Erwähnenswert ist hierbei jedoch, dass Menschen nicht unbedingt primär nach wahren Meinungen suchen , sondern nur nach einer Meinung, welche derart beschaffen ist, dass diese unsere Zweifel schnellstmöglich beseitigen kann und in Form einer festen Überzeugung unser Verhalten stabilisiert20. Daher ist man nach Peirce zunächst schon deshalb mit einer festen Überzeugung, ungeachtet ihres Wahrheitsgehaltes, zufrieden, da durch diese das eigene Verhalten usualisiert werden kann.
Nun könnte man einwerfen, dass die Flammen des Feuers nicht zwingend unter allen denkbaren Bedingungen die entsprechende Hitze erzeugen, aus welchen Verbrennungen resultieren, oder vor der Berührung eigentlich kalt sind. Es ist darüber hinaus nicht einmal genau nachvollziehbar, ob die Verbrennungen tatsächlich von dem Feuer herrühren. Die Verbrennungen könnten schließlich auch von einer anderen Ursache als dem Feuer herrühren und damit würde es sich um ein rein zufälliges, räumlich-zeitlich geordnetes Auftreten von Feuer und Brandwunden handeln, bei welchem die notwendige Verknüpfung beider Ereignisse fehlt. Diese Argumentation entspricht der Kausalitätsproblematik bei David Hume21. Diese Ereignisse wären laut Hume zwar verbunden, aber nicht notwendigerweise verknüpft, sodass wir nicht von einer Kausalbeziehung ausgehen können. Zudem dürften wir ausgehend von unzähligen Verbrennungen im direkten Verbund mit Feuereinwirkung in der Vergangenheit keine Aussage über zukünftige Ergebnisse dieses Phänomens ableiten22. Denkbar wäre immerhin auch ein Ausbleiben dieser Wirkung bei exakt gleichem Ablauf.
An dieser Stelle würde Peirce den vorgebrachten Einwänden vermutlich folgendermaßen entgegnen. Den Grundgedanken seines Diamantenbeispiels23abgeleitet und auf unsere Exemplifizierung transferiert, wäre es unbedeutend, ob Feuer vor der Berührung auch eine abkühlende oder neutrale thermische Eigenschaft aufzeigen würde, da sich ein herkömmliches Lagerfeuer stets als verbrennend bzw. erhitzend offenbart und dementsprechend sowohl praktische Nutzbarkeit ermöglicht als auch präventives Verhalten erfordert. Es weist demnach also eine bestimmte Disposition auf, also die Anordnung bzw. Eigenschaft einer Entität, die unter bestimmten Bedingungen zur Geltung kommt24. Demzufolge könnte man auch sagen, dass beispielsweise das Phänomen der Schwerkraft nicht zwingend und absolut räumlich-zeitlich wirkt, jedoch eine diesbezügliche Disposition dahingehend besteht, dass Objekte, welche man auf der Erdoberfläche loslässt, genau durch diese Kraft in den überwiegenden Fällen zu Boden fallen werden.
Auch David Hume würde vermutlich angesichts einer an ihn gerichteten Aufforderungen mit seine Hände in die Flammen des Feuers zu greifen, von dieser Handlung absehen, mit der Begründung, dass dieses Feuer zwar nicht zwingend und in dem derzeit gegebenen Fall verbrennend wirken müsse, er aber aus seiner Gewohnheit heraus handle25und diese wiederum darin bestehe, nicht in offenes Feuer zu fassen.
Aber genau in diesem Punkt gelingt es der Peirceschen Argumentation, sowohl das Problem der Kausalbeziehungen als auch das Gewohnheitsmotiv von Hume zu umgehen.
Wir haben hinsichtlich der Prozesskette der Erkenntnisgewinnung bei Peirce bereits die Elemente des Zweifels, der Überzeugung und einer nach dieser ausgerichteten Verhaltensgewohnheit herausgearbeitet. Mit dem Einwand der Ausführung oder Unterlassung einer bestimmten Handlung aus Gründen der Gewohnheit lässt sich mit Peirce ein Rückschluss dieser Handlungsgewohnheit auf die ihr zugrundeliegende Überzeugung durchführen. Somit kann theoretisch für eine abkühlende Wirkung des Feuers argumentiert werden, während man sich in der Praxis stets so verhält als wäre Feuer gefährlich heiß und genau dieses Verhalten wiederum die eigentliche Überzeugtheit einer Person offenbart.
Nur worin bestehen die von Peirce angeführten Maßstäbe, um in der zweiten Instanz falsche von wahren Überzeugungen zu unterscheiden oder, anders formuliert, aufgrund welcher Maßstäbe werden Überzeugungen falsifiziert? Diese Frage geht einher mit einer Metaperspektive auf die Begriffe der Wahrheit und Realität nach dem Verständnis von Charles S. Peirce.
4 Das konsensuale Wahrheitsverständnis im Kontext weiterer Wahrheitstheorien
Zunächst unterscheidet Peirce zwischen vier Methoden, durch welche eine Überzeugung festgelegt werden kann. Diese sind die Methoden derBeharrlichkeit, derAutorität, derLogikund derWissenschaft[26].Die wissenschaftliche Methode stellt Peirce zufolge durch ihren empirischen Charakter jedoch die einzige Methode dar, um wahre von falschen Überzeugungen differenzieren zu können27. Diese Aussage begründet er damit, dass alleine das wissenschaftlichen Verfahren, und der damit einhergehende Experimentalismus, in der Lage ist, dem Prinzip des Fallibilismus gerecht zu werden28. Peirce ist der Auffassung, dass individuelle menschliche Handlungen und Problemlösungen prinzipiell fehlbar sind29. Deshalb können alle Hypothesen im Sinne von Vermutungen auf dem Wege zur festgelegten Überzeugung und diese Überzeugungen selbst immer nur provisorisch für wahr gehalten werden30. An dieser Stelle kann diesbezüglich eine Nähe von Peirce zu der Wissenschafts-philosophie, speziell zum Falsifikationismus von Karl R. Popper, konstatiert werden31. Die Falsifikation ist eine Methode die auf dem Mechanismus der Vermutung und Widerlegung beruht. Nach der Formulierung einer Hypothese, erfolgt der Versuch empirische Beobachtungen anzustellen mit dem Ziel, die anfangs aufgestellte Hypothese zu widerlegen. Annahmen, die so formuliert werden, dass sie falsifizierbar sind und entsprechenden Überprüfungen standhalten, können als verlässlich betrachtet werden32. Diese Methode stellt zugleich eine Methode des Lernens durch einen Prozess von Versuch und Irrtum (engl. „trial and error“) dar33. Popper und Peirce betrachten die Wissenschaftsentwicklung laut Karl O. Apel als „methodisch-bewusste Fortsetzung der natürlichen Selektion auf der Ebene des Wissens“34.
Der Unterschied zwischen der Popperianischen Interpretation und der Auffassung von Peirce besteht in Poppers Annahme, dass falsche Hypothesen eliminiert werden, während Peirce auf die Dauer eine Konvergenz aller Hypothesen im Sinne einer Annäherung an die Wahrheit annahm35.
Hierbei kann Wahrheit nach Peirce aber nicht inhaltlich bestimmt werden, sondern bildet sich formal in einem unendlichen Bewährungsprozess. Zudem stellt die Wahrheit keine Entität dar, sondern bleibt stets an den Bewusstseinsprozess des Denkens innerhalb eines theoretisch unbegrenzten Kollektivs an Forschenden gebunden36. Peirce definiert Wahrheit und Realität wie folgt:
„Diese große Hoffnung ist im Begriff von Wahrheit und Realität beschlossen. Die Meinung, die vom Schicksal dazu bestimmt ist, daß [sic] ihr letztlich jeder der Forschenden zustimmt, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, und der Gegenstand, der durch diese Meinung repräsentiert wird, ist das Reale. So würde ich Realität erklären.“37
Wahrheit beweist sich bei Peirce demnach als ein Bewährungskorrelat des Forschungsprozesses einer unbegrenzten idealen Forschungsgemeinde und die absolute Wahrheit würde der idealen, letzten Überzeugung aller Forschenden entsprechen38. Demzufolge würde all das wahr sein, was sich schlussendlich als Konsens dieser unbegrenzten Forschergemeinschaft ergibt (engl:community of investigators)39. Als regulative Idee gilt hierbei, dass diese Forschergemeinschaft, welche unter idealen Bedingungen agiert, zu einer ultimativen Meinung oder letzten Überzeugung gelangen wird, welche von niemandem mehr bestritten werden kann und mit der Wahrheit identisch wäre40. Dabei gibt Peirce zu bedenken, dass im Verlauf dieses idealisierten Verfahrens die menschliche Gattung aussterben könnte, ohne die angestrebte letzte Überzeugung zu erreichen41.
Die Realität ist, abgeleitet aus dem obigen Peirce-Zitat, also gegenständlicher Repräsentant der Wahrheit. In Anbetracht des bereits erwähnten selektiv-evolutionären Charakter des Forschungsprozesses lässt sich Realität auch als vergegenständlichte Wahrheit mit ihren selektiven Konsequenzen betrachten. Somit werden Verhaltensweisen oder Lebensweisen, die auf falschen Überzeugungen beruhen, durch die Wirkungen der Realität selektiert. Sie übt gewissermaßen einen Zwang dahingehend aus, eine konsensuale Überzeugung zu erlangen, da sich am Ende die Meinungen im experimentellen Prozess durchsetzen, welche funktionieren. Daher nutzen wir im Alltag vermutlich auch den Aufzug oder das Treppenhaus, um unversehrt vom fünften Stockwerk in das Erdgeschoss zu gelangen und nicht die Abkürzung über das Fenster. Die Realität richtet uns förmlich darauf ab, angesichts der praktischen Konsequenzen unserer Überzeugungen die dispositionale Existenz der Schwerkraft als wahr anzunehmen oder auch entsprechende Sicherheitsvorkehrungen bei offenen Feuerstellen zu treffen.
Es scheint fast so, dass die evolutionäre Entwicklung durch Belastungsdruck, Zufälligkeiten, Ungewissheiten und Unordnungen eine Situation hervorgerufen hat, der einige individuelle Organismen durch falsche Verhaltensweisen erst unterlegen sein mussten, damit andere aus deren Irrtümern lernen und somit funktionierende Lebensweisen hervorbringen konnten42. Diese Lebensweisen wären dann nach Peirce im Einklang mit der Realität und würden auf wahren Überzeugungen fußen.
Dieser Gedanke führt unmittelbar zu einem weitreichenderen Zusammenhang mit der Systemlehre.
Bestimmte systemische Einheiten, wie beispielsweise ein Zellkomplex, welche Partikularität, Dezentralität, Mobilität und einem dynamischen Funktionszusammenhang verkörpern, sind in der Lage sich relativ leicht an Unvorhersehbares und volatile Umwelteinflüsse anzupassen. Dahingegen werden immobile, statische Einheiten, wie beispielsweise ein Hochhaus durch exogene Faktoren, wie starken seismischen Aktivitäten, einheitlich destruiert. Selbst wenn einige Zellen absterben sollten oder beschädigt werden, kann der Organismus als Gesamtheit dadurch überleben, dass in ihm ein reflexiv-regulativer Korrekturmechanismus vorhanden ist43. Das popperianische Versuch-Irrtum-Prinzip, welchem auch Peirce durch seine Verherrlichung des Experimentalismus beipflichten müsste, wäre in diesem Beispiel immanent.
Für die Konstituiertheit der Peirceschen Forschergemeinschaft kann daraus abgeleitet werden, dass diese dezentral und dynamisch sein müsste, damit falsche Überzeugungen keinesfalls konserviert werden und nach erfolgreicher Falsifikation die entscheidenden Impulse gesetzt werden, um adäquatere Verfahren der Problemlösung zu finden.
Die Festlegung einer wahren Überzeugung innerhalb der Gemeinschaft der Forschenden beschreibt Peirce genauer unter Verwendung einer geologischen Metapher als Ablagerung einer Meinung (engl.:settlement of opinion)44. Die Sedimentation einer Meinung führe Peirce zufolge zu einer Auflösung des Diskurses, weil diese bereits zu einer impliziten Schicht von Gewohnheiten, robusten Lebensweisen oder Ansichten innerhalb einer Gesellschaft geworden sei45. Hieraus kann man auch ableiten, dass all die Dinge als wahr zu betrachten sind, deren Ursachen, Funktionsweisen und Auswirkungen uns bereits als so selbstverständlich und bewährt erscheinen, dass es uns zu gegebenem Zeitpunkt nicht einmal in den Sinn kommen würde, diese anzuzweifeln oder in Frage zu stellen.
Eine derartige Robustheit von Auffassungen wird laut Peirce im Zuge eines zeitlich unbegrenzten Forschungsprozesses durch eine quantitativ unbegrenzte Anzahl an Forschenden bei Erkenntnisgegenständen jeglicher Art generiert und somit eine sichere und übereinstimmende Lösung erbringen, welche letztlich niemand mehr zu hinterfragen imstande wäre.
Dies entspricht dem Peirceschen Verständnis einer wahren Meinung oder wahren Überzeugung.
Damit gilt Charles S. Peirce als erster Philosoph innerhalb der erkenntnistheoretischen Disziplin, welcher sozusagen den Prototyp einer konsensualen Wahrheitstheorie einführt. Diese unterscheidet sich nicht nur von dem bis dato nahezu unisono verwendeten ältesten und bekanntesten Korrezpodenzbegriffes der Wahrheit, sondern weist auch fundamentale Differenzen zur pragmatischen Wahrheitstheorie seines Freundes William James auf46. Außerdem gilt das konsensuale Wahrheitsverständnis von Peirce als Basis für die spätere Weiterentwicklung zur rezenten Konsensustheorie, welche von dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel vertreten wird47.
[...]
1Vgl. Peirce 1991b, S. 502.
2Vgl. Nordmann 2008, S. 235.
3Hartmann et al. 2013, S. 10.
4Peirce 1991c, S. 195.
5Peirce 1991b, S. 501–502.
6Vgl. Ebd., S. 502.
7Vgl. Hartmann et al. 2013, S. 11.
8Vgl. Ebd., S. 10.
9An dieser Stelle und im Folgenden als Ausdruck für den Peirceschen Pragmatismus oder auch Pragmatizismus verwendet.
10Peirce 1991c, S. 187.
11Vgl. Ebd., S. 185.
12Vgl. Baumgarten 1992, S. 64.
13Peirce 1991c, S. 195.
14Vgl. Peirce 1991a, S. 156.
15Vgl. Nordmann 2008, S. 219.
16Vgl. Ebd., S. 219.
17Peirce 1991a, S. 157.
18Vgl. Peirce 1991c, S. 190.
19Ebd., S. 190.
20Vgl. Apel 1975, S. 120.
21Vgl. Hume 2007, S. 55–59.
22Vgl. Ebd., S. 59.
23Vgl. Peirce 1991c, S. 195.
24Vgl. Schmidt 1991, S. 146.
25Vgl. Hume 2007, S. 65.
26Vgl. Peirce 1991a, S. 160–178.
27Vgl. Ebd., S. 168.
28Vgl. Apel 1975, S. 120.
29Ebd., S. 120.
30Vgl. Reese-Schäfer 2017, S. 76.
31Vgl. Nordmann 2008, S. 228–230.
32Vgl. Popper 1979, S. 59–63.
33Ebd., S. 59
34Apel 1984, S. 120.
35Vgl. Reese-Schäfer 2017, S. 76.
36Vgl. Peirce 1991c, S. 205–206.
37Ebd., S. 205.
38Vgl. Apel 1975, S. 121.
39Vgl. Reese-Schäfer 2017, S. 77.
40Ebd., S. 77–78.
41Vgl. Peirce 1991c, S. 206.
42Taleb 2013, S. 112.
43Vgl. Taleb 2013, S. 130–137.
44Vgl. Nordmann 2008, S. 235.
45Ebd., S. 235.
46Vgl. Apel 1975, S. 120.
47Vgl. Zoglauer 2008, S. 32.