Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Gumbrechts Gedankengang. Es soll untersucht werden, wie stimmig Gumbrechts Analysen sind und ob deren normative Schlussfolgerung gerechtfertigt ist. Es wird sich zeigen, dass Gumbrecht sowohl bei seinen Dekonstruktionen als auch bei seiner Konklusion schwerwiegende Fehler begeht. Dies hat unter anderem mit falschen Begriffsverständnissen und inkorrekten Interpretationen zu tun.
Gumbrechts Vorhaben in dessen Buch Präsenz (2016) besteht darin, die Bedeutung der Historie und die mit ihr einhergehende hermeneutische Praxis zu entkräften, oder zumindest in Frage zu stellen. Bisher hat die Historie als wissenschaftliche Institution die Zeit in ein instrumentales Paradigma verwandelt und hat durch das Forschen und die Berichterstattung über geschichtliche Ereignisse dazu beigetragen, der Gemeinschaft eine Identität zu geben (Gumbrecht, 2016: 9). Durch das Aufkommen diverser philosophischer Strömungen, wie jener des Poststrukturalismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde dieses historische Paradigma jedoch in Frage gestellt. Gumbrecht spannt diesen Gedanken nun weiter und fragt sich, wo die Grenzen der Historie, der Geisteswissenschaft und ihrer hermeneutischen Methode in der heutigen Zeit liegen (Gumbrecht, 2016: 10).
Er behauptet, dass sich unsere Gesellschaft aus dem historischen Verständnis heraus bewegt hat. Dies hat mit der zunehmenden Komplexität von Raum- und Zeitkonzepten zu tun, welche sich durch die Globalisierung und den zunehmenden Fluss von Informationen, Technologien, etc. verdeutlicht. Die Gegenwart nimmt deshalb in der heutigen Zeit laut Gumbrecht eine andere Stellung ein im Vergleich zu früheren Epochen. Eine Epochenklitterung der vergangenen Entwicklungen bis zur heutigen Gegenwart scheint ihm deshalb als unfruchtbar und arbiträr (Gumbrecht, 2016: 28f). Von hier aus möchte er nun den Begriff der Posthistorie propagieren (Gumbrecht, 2016: 11). Dieser Begriff weist darauf hin, dass das historische Bewusstsein und die hermeneutische Methode für die heutige Zeit nicht mehr produktiv angewandt werden können. Insofern könne man von einem Ende der Geschichte sprechen (Gumbrecht, 2016: 128f). Die Geschichte, welche das Gefäss der Ereignisse und der Schmelztiegel der gesellschaftlichen Entwicklung war, wird damit selbst zu einem überholten und geschichtlichen Begriff.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Posthistorie
2. Das Ende der Geschichte
3. Ende der Zukunft
4. Ende der Hermeneutik
5. Schlusswort
6. Literatrurverzeichnis
1. Einleitung: Posthistorie
Gumbrechts Vorhaben in dessen Buch Präsenz besteht darin, die Bedeutung der Historie und die mit ihr einhergehende hermeneutische Praxis zu entkräften oder zumindest in Frage zu stellen. Bisher hat die Historie als wissenschaftliche Institution die Zeit in ein instrumentales Paradigma verwandelt (vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit) und hat durch das Forschen und die Berichterstattung über geschichtliche Ereignisse dazu beigetragen, der Gemeinschaft eine Identität zu geben (Gumbrecht, 2016: 9). Wer wusste, woher er oder sie kommt - sei es ein Individuum oder eine Gesellschaft -, wusste auch, wer er oder sie ist und wie man sich in der Zukunft entwickeln könnte. Durch das Aufkommen diverser philosophischer Strömungen, wie jener des Poststrukturalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde dieses historische Paradigma jedoch in Frage gestellt. Gumbrecht spannt diesen Gedanken nun weiter und fragt sich, wo die Grenzen der Historie, der Geisteswissenschaft und ihrer hermeneutischen Methode in der heutigen Zeit liegen (Gumbrecht, 2016: 10). Gumbrecht behauptet, dass sich unsere Gesellschaft aus dem historischen Verständnis heraus bewegt hat. Dies hat mit der zunehmenden Komplexität von Raum- und Zeitkonzepten zu tun, welche sich durch die Globalisierung und den zunehmenden Fluss von Informationen, Technologien, etc. verdeutlicht. Die Gegenwart nimmt deshalb in der heutigen Zeit laut Gumbrecht eine andere Stellung ein im Vergleich zu früheren Epochen. Eine Epochenklitterung der vergangenen Entwicklungen bis zur heutigen Gegenwart scheint ihm deshalb als unfruchtbar und arbiträr (Gumbrecht, 2016: 28f).
Von hier aus möchte er nun den Begriff der Posthistorie propagieren (Gumbrecht, 2016: 11). Dieser Begriff weist darauf hin, dass das historische Bewusstsein und die hermeneutische Methode für die heutige Zeit nicht mehr produktiv angewandt werden können. Insofern könne man von einem Ende der Geschichte sprechen (Gumbrecht, 2016: 128f). Die Geschichte, welche das Gefäss der Ereignisse und der Schmelztiegel der gesellschaftlichen Entwicklung war (vgl. Kapitel 2), wird damit selbst zu einem überholten und geschichtlichen Begriff.
Zum Beweis seiner Gedankenführung unternimmt Gumbrecht nun zwei Dekonstruktionen: Eine bezüglich der massgebenden Aspekte der Vergangenheit (Zeit und Geschichte), die andere bezüglich jener der Zukunft (Fortschritt und Vernunft). Indem er aufzeigt, wie sehr die Vergangenheit und die Zukunft in der heutigen Zeit an Bedeutung verloren haben, möchte er auf die Bedeutung der Gegenwart und die dazugehörigen präsentischen Praktiken hinweisen. Gumbrecht ist in diesem Sinne also nicht rein deskriptiv zu verstehen, sondern er nimmt selbst eine normative Haltung ein, und zwar jene, welche auf die präsentische Gegenwart ihren Fokus legt.
Die Leitfrage der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich nun mit Gumbrechts Gedankengang. Es soll untersucht werden, wie stimmig Gumbrechts Analysen sind und ob deren normative Schlussfolgerung gerechtfertigt ist. Es wird sich zeigen, dass Gumbrecht sowohl bei seinen Dekonstruktionen als auch bei seiner Konklusion schwerwiegende Fehler begeht. Dies hat unter anderem mit falschen Begriffsverständnissen und inkorrekten Interpretationen zu tun.
Der Aufbau der vorliegenden Arbeit sieht also wie folgt aus: In den Kapiteln 2 und 3 werden die Dekonstruktionen von Gumbrecht analysiert und anschliessend auf ihre Fruchtbarkeit und Genauigkeit hin analysiert. Darauf wird in Kapitel 4 die Konklusion von Gumbrecht untersucht, in welcher er das Ende der Hermeneutik postuliert. Auch die Konklusion wird kritisch betrachtet. Die vorliegende Arbeit wird durch eine kurze Zusammenfassung und einige Kommentare abgerundet.
2. Das Ende der Geschichte
Im ersten Teil seiner Argumentation versucht Gumbrecht zu beweisen, dass man heutzutage die Gegenwart nicht mehr als Zukunft der Vergangenheit betrachten kann. Die Vergangenheit hat ihre Bedeutung für das historische Bewusstsein eingebüsst. Hierbei dekonstruiert er die Begriffe Zeit und Geschichte.1 Dieses Kapitel beschäftigt sich zuerst mit der Nachzeichnung von Gumbrechts Analyse und wird anschliessend kritisch zu jeder von Gumbrechts Dekonstruktionen beleuchtet. Es wird sich zeigen, dass Gumbrecht einige wesentliche Punkte der Begriffe Zeit und Geschichte freilegt, wohingegen er andere relevante Punkte nicht ausreichend betrachtet. Insofern wird seine Dekonstruktion nicht überzeugen können.
Dekonstruktion der Zeit
Seit Kant und spätestens seit Husserl, so erklärt Gumbrecht, wird die Zeit als Erfahrungsprämisse betrachtet (Gumbrecht, 2016: 14). Das bedeutet, die Zeit ist kein vom Menschen unabhängiges Ding oder eine Substanz, sondern sie dient als Modus der menschlichen Wahrnehmung. Ein Musikstück ist nur über das Medium der Zeit erfahrbar, da ein Vorher und ein Nachher in der Tonfolge existieren und erst diese Abfolge als Melodie verstanden werden kann. In der zeitgenössischen Diskursordnung der Zeit2 lassen sich daher vier Punkte (1-4) herauskristallisieren.
(1) Erstens weist die Zeit als Erfahrungsprämisse eine spezielle Struktur auf. Diese ist insofern mehrdimensional, als etwas Gegenwärtiges wahrgenommen wird und dabei Vergleiche zur Vergangenheit (Retention) gezogen und Absichten für die Zukunft (Protention) verfolgt werden. Jedoch muss hier unterstrichen werden, meint Gumbrecht, dass die Zeit im heutigen Diskurs als zweidimensionales Gebilde verstanden wird. Dieses Gebilde der Zeit sei ein lineares Zeitverständnis, welches der aristotelischen Tradition folge und sich durch eine Asymmetrie auszeichne. 'Linear' bedeutet hier für Gumbrecht, dass in der einen Richtung der Zeit die Vergangenheit liegt und in der anderen die Zukunft. Die Gegenwart als Moment des Jetzt fasst sich in einem unendlich kleinen Punkt zusammen, welcher dieser Linie entlang folgt (Gumbrecht, 2016: 58). 'Asymmetrisch' bedeutet hier für Gumbrecht, dass die Vergangenheit abgeschlossen ist, da sie schon vorbei ist, und die Zukunft noch offen vorliegt, da sie noch nicht geschehen ist (Gumbrecht, 2016: 70). Demgemäss kann die Zeit im heutigen Diskurs bspw. nicht als ein zyklisches Ding verstanden werden, so wie dies einige Vorsokratiker (und bspw. auch Nietzsche) getan haben.
(2) Die restlichen drei Punkte (Gumbrecht, 2016: 15f) beschreiben die Idee der Zeit, auch wenn sie nicht als unabhängiges Ding verstanden werden kann. Zweitens wird Zeit als abstrakt betrachtet. Sie ist, wie schon erwähnt, kein konkretes Ding, nichts in der Welt vorfindbares und losgelöst von menschlichen Handlungen. Jedoch werden umgekehrt jegliche Handlungen, die begangen oder geplant werden, in die Matrizen der Zeit eingeteilt.
(3) Drittens wird die Zeit als kontinuierlich verstanden. Zeit ist nicht etwas, das ab und zu auftaucht (sonst müsste sie in eine Meta-Zeit eingebettet sein). Sie ist fortwährend. Dies erklärt auch die oben erwähnte Asymmetrie. Indem die Zeit sich andauernd fortbewegt (das Jetzt läuft der Linie entlang), ergibt sich auch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Vorher und dem Nachher, wie es bei dem Beispiel mit der Melodie beschrieben wurde.
(4) Viertens und als letzter Punkt wird die Zeit als das Gefäss der Phänomene und Ereignisse betrachtet. Insofern als ein Subjekt handeln kann, wird die Zeit zu jenem Faktor, der diese Handlungen hervorbringt. In diesem Sinne ist sie die Ursache der Veränderungen (Gumbrecht, 2016: 34). Dieser Punkt wird für die Dekonstruktion der Geschichte noch besonders relevant sein.
Diese vier erwähnten Punkte können laut Gumbrecht als das Grundgerüst des heutigen Zeitverständnisses betrachtet werden. Sie bedingen sich alle gegenseitig. Ausgehend davon legt er nun weitere Punkte frei und versucht zu zeigen, weshalb dieses Zeitverständnis für heute nicht aufgehen kann.
Mit der Entstehung dieses Zeitverständnisses hat sich im 18. und 19. Jahrhundert ein teleologisches Paradigma entwickelt (Gumbrecht, 2016: 15). Da die Zeit nicht zyklisch ist, müssen die Entwicklungen, die in ihr ablaufen, wohl auf ein Ziel gerichtet sein. Dieses Ziel bestand darin, den Menschen und seine Geschichte zu vervollkommnen (Gumbrecht, 2016: 16). Der Mensch, als Subjekt der Zeiterfahrung und als Subjekt der Geschichte, hat es in der Hand, seine eigene Geschichte zu formen. Indem er sich weiterentwickelt, verhindert er, dass die Zeit stehen bleibt oder zyklisch verläuft. Das dies sowohl aufgrund das diskursiv herrschenden Zeitverständnisses als auch aufgrund der historischen Ereignisse unwahrscheinlich ist, erklärt Gumbrecht als Schwerpunkt seiner Dekonstruktion (vgl. Gumbrecht, 2016: 17 und 95). Die Zeit der Menschen folgt (mindestens seit den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs) keinem erhabenen Ziel mehr. Ebenfalls können durch die Linearität auch keine Wiederholungen zugelassen werden (Gumbrecht, 2016: 16). Die Vergangenheit ist in diesem Sinne keine Richtschnur mehr für heutige und künftige Probleme. Hieraus folgert Gumbrecht, dass dadurch das historische Bewusstsein an Bedeutung verliert. Während er das historische Bewusstsein und damit die hermeneutische Tradition (Gumbrecht, 2016: 181) zuerst als komplett überflüssig beschreibt, wird er in späteren Teilen seines Buches (vgl. Gumbrecht, 2016: Teil 3) seine Ansicht etwas abmildern und dem historischen Bewusstsein nur die zugestandene Relevanz absprechen.
Woran liegt aber dieses Scheitern, aufgrund dessen die Gegenwart nicht mehr als Zukunft der Vergangenheit betrachtet werden kann? Weshalb ist kein Telos für Gumbrecht mehr möglich?
Wenn man die hermeneutische Praxis als jene auffasst, welche die Erfahrungen der Vergangenheit abwandelt, um sie für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen, so ist dieses Vorhaben laut Gumbrecht in unserer Zeit zum Scheitern verurteilt (Gumbrecht, 2016: 71). Die Eigenart der heutigen Gegenwart besteht darin, dass sie sich durch Simultanität der Erfahrungen und Raumzeitkomplexe der Globalisierung ausdehnt (vgl. Gumbrecht, 2016: 66ff). Simultanität negiert Linearität und Komplexität negiert monokausale Entwicklungen. Vergangenheit und Zukunft büssen damit ihre Relevanz ein, da die Merkmale (1-4) so nicht mehr angewandt werden können. Die Gegenwart breitet sich somit aus und kann nicht mehr als unendlich kleiner Punkt auf der linearen Zeitachse verstanden werden. Die heutige Gesellschaft ist deshalb weitaus mehr bemüht, die Gegenwart in die Zukunft und Vergangenheit hineinzuschieben. Indem keine teleologischen Zukunftsbilder aus der Vergangenheit her mehr produziert werden können, verliert das bisher vorherrschende Zeitverständnis seine Bedeutung (Gumbrecht, 2016: 59). Anhand dieser ersten Dekonstruktion, die zeigt, dass sich die Gegenwart gegen das vorherrschende Zeitverständnis stemmt, möchte Gumbrecht den Begriff Posthistorie stark machen.
Kritische Betrachtungen zur Dekonstruktion der Zeit
Gumbrechts Dekonstruktion der Zeit hat einige relevante Punkte freigelegt, die für das heutige Verständnis massgebend sind. Gumbrecht liegt insofern richtig, als er auf die Komplexität der Zeitstruktur hinweist. Bei Safranskis Konzeption der Zeit findet man hierzu diverse Parallelen, wie die Zeit verstanden wird (Safranski, 2017: 11). Sowohl die Asymmetrie als auch die Kontinuität gehören zur vorherrschenden Diskursordnung. Ebenfalls kann man Gumbrechts Analyse insofern zustimmen, als die Gegenwart breiter wahrgenommen wird, als dies wohl früher der Fall war (Safranski, 2017: 51, 98 und 102). Dies hat hauptsächlich mit der zugenommenen Mobilität und dem anwachsenem Datentransfer durchs Internet zu tun.
Es fragt sich jedoch, inwieweit die Dekonstruktion tatsächlich der gegebenen Diskursordnung entspricht. Im Falle des philosophisch-geisteswissenschaftlichen Diskurses kann man Gumbrecht nicht zustimmen. Die Zeit wird mindestens seit Heidegger, welcher einen grossen Einfluss auf weitere Philosophen und Philosophinnen hatte, nicht mehr als zweidimensional verstanden.3 Ebenfalls kann man Gumbrechts Analyse nicht zustimmen, dass die Gegenwart in die Zukunft hineingeschoben wird. Heidegger hat den Begriff der Sorge geprägt, welche sich als das Hauptmerkmal des menschlichen Daseins auszeichnet (Heidegger, 2006: 191ff, sowie Merker in Rentsch, 2015). Demzufolge ist der Mensch stets um seine Zukunft bemüht, auch wenn heute der Begriff Sorge wohl vom Begriff Risiko abgelöst wurde (Safranski, 2017: 67). Ein Mensch, der nur die Gegenwart in die Zukunft hineinschiebt, ohne um seine Existenz besorgt zu sein, wäre nach Heidegger ein äusserst tragischer Fall der Existenz. Sich sorgen ist daher nicht irgendeine Beschäftigung, sondern bildet einen fundamentalen Zustand des menschlichen Daseins. Zusätzlich kann man nicht annehmen, dass die Zeit (trotz der wahrgenommenen Ausdehnung der Gegenwart) kein direktives Ziel mehr aufweist. Die heutige Gesellschaft ist beispielsweise weiterhin bestrebt nach Beschleunigung von verbesserten Investitions- und Produktionsmöglichkeiten (Safranski, 2017: 111).
Man gelangt folglich zum Schluss, dass Gumbrechts Dekonstruktion hier nicht vollständig überzeugt und das allgemeine Zeitverständnis (besonders jenes in den Geisteswissenschaften nach Heidegger) als vereinfachter Strohmann hingestellt wird.
Dekonstruktion der Geschichte
Auch der Begriff der Geschichte ist laut Gumbrecht nicht mehr sinnvoll verwertbar. Was er jedoch genau unter diesem Begriff versteht, wird in seinem Buch nicht genau erläutert. Hierzu jedoch einige Hinweise: Die Geschichte als Historie ist ein kultureller Habitus,4 welcher für eine Gesellschaft identitätsstiftend ist (Gumbrecht, 2016: 9). Durch die Geschichte kann man sich selbst und seine Gemeinschaft verstehen. Dabei dient die eigene Vergangenheit als Ursprungsmerkmal der Gegenwart. Insofern ist die Geschichte eine lebensweltliche Anwendung der Zeit (Gumbrecht, 2016: 9). Folglich kann man davon ausgehen, dass Geschichte wohl das institutionalisierte Wissen über Ereignisse ist, welche in der Vergangenheit stattgefunden haben und für die Gesellschaft eine produktive Bedeutung tragen.
Wie in Kapitel 1 schon dargestellt wurde, zweifelt Gumbrecht an dieser Auffassung. Für seine Dekonstruktion geht Gumbrecht von der Frage aus, was nach dem Ende der Geschichte passiert. Das Ende der Geschichte wurde beispielsweise schon von Hegel und Marx in unterschiedlicher Weise beschrieben. Beide verweisen jedoch auf ein Ende der linearen, teleologischen Entwicklungsabfolge von Ereignissen. An diesem Ende bleiben dementsprechend keine Handlungen und Aktionen mehr, sondern nur noch Spiel, Liebe und Kunst (Gumbrecht, 2016: 12f). Diese Beschäftigungen - Spiel, Liebe und Kunst - sind alles präsentische Seinsweisen, welche Gumbrecht in späteren Teilen seines Buches erläutert. Kapitel 4 wird sich noch eingehender mit ihnen beschäftigen.
Gumbrecht grenzt sich jedoch von Hegel und Marx ab, da er davon ausgeht, dass kein Telos in der Geschichte möglich ist (Gumbrecht, 2016: 13). Das Ziel einer solchen geschichtlichen Entwicklung, wie es Marx und Hegel propagieren, wird nicht erreicht und die Gesellschaft nicht erlöst. Dies hängt mit den Problemen des Zeitverständnisses zusammen, welches vorher dekonstruiert wurde. Anstatt dessen befürwortet Gumbrecht schlicht, dass die Geisteswissenschaft sich jetzt schon, ohne auf einen Endzustand zu hoffen, mit den präsentischen Seinsweisen beschäftigen soll.
[...]
1 Obwohl sich Gumbrechts Methode der Dekonstruktion in diversen Punkten von jener Derridas unterscheidet, verweist Gumbrecht dennoch oft auf Derrida bei seiner Beweisführung (bspw. Gumbrecht, 2016: 117). Zu Derridas Methode der Dekonstruktion, vgl. Lüdemann, 2013.
2 Ähnlich wie Gumbrecht wird in diesem Essay der Begriff Diskurs im Foucaultschen Sinne verstanden. Kurz gefasst: Der Diskurs bestimmt, wer wie über welches Thema spricht, denkt und handelt. Die Ordnung wirkt dabei eine hegemoniale Macht aus. Ausführlicher dazu, vgl. Foucault, 2014.
3 Vgl. hierzu den Begriff der Ekstase (Heidegger, 2006), welcher sich wohl auch an das husserlsche Konzept von Retention/Protention richtet.
4 Habitus wird hier im Sinne von Bourdieu verstanden. Vgl. beispielsweise Bourdieu (2015)