Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Raumsemantik in Felix Saltens "Bambi". Es wird die Frage untersucht, was die Raumsemantik des Werks über das Mensch-Tier Verhältnis aussagt und inwiefern dadurch Grenzen gezogen oder aufgelöst werden. Für diese Untersuchung wird die Raumtheorie nach Jurij M. Lotman in Kombination mit den Human-Animal Studies genutzt. Daneben werden noch weitere erzähltheoretische Aspekte angewandt. Außerdem sollen die wichtigsten Motive des Werks mit einbezogen werden, die mit dem Mensch-Tier Verhältnis in Verbindung gebracht werden können.
Seit der Verfilmung durch Disney im Jahre 1942 ist das Werk von Felix Salten sehr in Vergessenheit geraten. Für die Literaturwissenschaft ist das Werk jedoch weiterhin interessant, da es nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1923 einige Diskurse auslöst. Dabei geht es vor allem um die Darstellung der Jagd und des Jägers. Die sehr realistische Beschreibung der Tiere in "Bambi" schockiert die damalige Leserschaft. Viele Jäger fühlen sich durch diese brutale Darstellung falsch verstanden. Felix Saltens Verhältnis zur Jagd ist eher schwierig, da er selbst in seiner Freizeit ein Jäger ist, aber sich gleichzeitig für die Tierrechte einsetzt. Neben "Bambi" schreibt er noch viele weitere Tiergeschichten, die mithilfe von anthropomorphen Tieren auf menschliche Konflikte aufmerksam machen. Entgegen der allgemeinen Meinung ist das Werk, im Gegensatz zum Film, nämlich nicht für Kinder, sondern vorrangig für Erwachsene gedacht. Es handelt vor allem von der Entwicklung des Protagonisten Bambi und seiner größten Erkenntnis: der Mensch ist ein Tier neben den anderen Tieren. Damit wird die Mensch-Tier Grenze scheinbar aufgelöst.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Raumtheorie
3 Felix Saltens Bambi
3.1 Ambivalenz der Lichtung
3.1.1 Ort der Freude
3.1.2 Ort des Leids
3.2 Räume der Freiheit und Domestizierung
3.2.1 Wald der Tiere
3.2.2 Hütte des Jägers
4 Fazit
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„[D]enn kein Geschöpf des Waldes ertrug Seine Nähe.“1 Gemeint ist mit dieser Aussage der Mensch beziehungsweise der Jäger in Felix Saltens Werk Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde2. Der Mensch wird dort gleichzeitig als ein Feind und Gott betrachtet. Einerseits tötet der Jäger die Tiere des Waldes, aber andererseits soll er sie auch alle geschaffen haben. Diese Ambivalenz zeichnet das Mensch-Tier Verhältnis des gesamten Werks aus. Mit diesem Aspekt beschäftigen sich die Human-Animal Studies in der Literatur. Diese Theorie ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstanden und macht es sich unter anderem zur Aufgabe das Mensch-Tier Verhältnis in Texten zu untersuchen.3 Wichtig ist dabei die Darstellung der Tiere, welche Funktion sie einnehmen und inwiefern dies auf unsere Welt übertragen werden kann.4 Das Mensch-Tier Verhältnis in Bambi ist von den unterschiedlichen Erfahrungen der Tiere geprägt, die wiederum mit der Raumsemantik des Waldes zusammenhängen. Die Grenze zwischen den tierischen und menschlichen Räumen wird nämlich immer wieder von Tieren und Menschen überschritten.
Seit der Verfilmung durch Disney im Jahre 1942 ist das Werk von Felix Salten sehr in Vergessenheit geraten. Für die Literaturwissenschaft ist das Werk jedoch weiterhin interessant, da es nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1923 einige Diskurse auslöst. Dabei geht es vor allem um die Darstellung der Jagd und des Jägers. Die sehr realistische Beschreibung der Tiere in Bambi schockiert die damalige Leserschaft. Viele Jäger fühlen sich durch diese brutale Darstellung falsch verstanden. Felix Saltens Verhältnis zur Jagd ist eher schwierig, da er selbst in seiner Freizeit ein Jäger ist, aber sich gleichzeitig für die Tierrechte einsetzt.5 Neben Bambi schreibt er noch viele weitere Tiergeschichten, die mithilfe von anthropomorphen Tieren auf menschliche Konflikte aufmerksam machen.6 Entgegen der allgemeinen Meinung ist das Werk, im Gegensatz zum Film, nämlich nicht für Kinder sondern vorrangig für Erwachsene gedacht. Es handelt vor allem von der Entwicklung des Protagonisten Bambi und seiner größten Erkenntnis: der Mensch ist ein Tier neben den anderen Tieren.7 Damit wird die Mensch-Tier Grenze scheinbar aufgelöst.
Die folgende Hausarbeit wird sich damit beschäftigen, was die Raumsemantik des Werks über das Mensch-Tier Verhältnis aussagt und inwiefern dadurch Grenzen gezogen oder aufgelöst werden. Für diese Untersuchung wird die Raumtheorie nach Jurij M. Lotman in Kombination mit den Human-Animal Studies genutzt. Daneben werden noch weitere erzähltheoretische Aspekte angewandt. Außerdem sollen die wichtigsten Motive des Werks mit einbezogen werden, die mit dem Mensch-Tier Verhältnis in Verbindung gebracht werden können. Als Motiv definiere ich nach Elisabeth Frenzel „einen Handlungsansatz […], der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt“8.
2 Raumtheorie
Lange wird der Aspekt des Raums in der Literaturwissenschaft nicht mit einbezogen. Die bekannten erzähltheoretischen Aspekte, wie der Erzähler, die Handlung, die Figuren und die Zeit, sind stets wichtig in der Untersuchung literarischer Werke. In der bildenden Kunst wird die Untersuchung der Raumsemantik schon lange praktiziert. Ein Kunstwerk wird „als ein[…] in gewisser Weise abgegrenzte[r] Raum, der in seiner Endlichkeit ein unendliches Objekt abbildet“9 gesehen. Im literarischen Werk jedoch wird der künstlerische Raum bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selten betrachtet. Dies hat sich unter anderem durch Jurij M. Lotmans Raumtheorie geändert, die er in seinem Werk Die Struktur literarischer Texte vorstellt. In diesem Werk wird erläutert, dass die Raumsemantik nicht nur für räumliche, sondern auch für nicht-räumliche Objekte wichtig ist. Mithilfe von Gegensätzen, wie rechts – links oder hoch – niedrig, werden zum einen räumliche Merkmale genannt, aber zum anderen auch politische, soziale oder moralische Merkmale geschaffen.10 Daher erhält jeder Raum durch bestimmte Begriffe eine andere Semantik. Der künstlerische Raum ist neben diesen Begriffen auch durch das Vorhandensein von Grenzen bestimmt.11 Die Grenzen teilen den Raum in zwei Teilräume, die nicht von Figuren überschritten werden dürfen. Für eine Untersuchung der Raumsemantik nach Lotman sind Grenzüberschreitungen jedoch von Bedeutung. Wichtig dafür sind der von ihm geprägte Begriff des Sujets und die Begriffe Ereignis und Figur.
Das Sujet bezeichnet, nach Lotman, die globale Struktur eines Textes.12 Das Ereignis ist dabei „die kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“13. Demnach stellt ein Ereignis immer eine Grenzüberschreitung durch eine Figur im Text dar, wodurch eine bestehende Ordnung gebrochen wird.14 Je unwahrscheinlicher das Ereignis ist, desto sujethafter ist gleichzeitig der Text.15 Lotman unterscheidet daher zwischen sujetlosen und sujethaften Texten. Sujetlose Texte enthalten keine Grenzüberschreitungen, sondern bestätigen eine bestimmte Ordnung.16 Dazu können etwa Telefonbücher oder Kalender gezählt werden. Sujethafte Texte beruhen auf der bestehenden Ordnung der sujetlosen Texte, aber enthalten zusätzlich Grenzüberschreitungen.17 Dabei kann es sich um topologische, semantische und topografische Grenzen handeln, die von einer Figur außer Kraft gesetzt werden. Die topologischen Grenzen umfassen Gegensätze, wie hoch – niedrig oder links – rechts.18 Diese Grenzen werden oft mit den semantischen Grenzen verbunden, die etwa Gegensätze darstellen, wie vertraut – fremd oder gut – böse.19 Diese Verbindung wird zuletzt durch die topografischen Grenzen ergänzt, die Gegensätze beinhalten, wie Himmel – Hölle oder Stadt – Wald.20 Lotman unterscheidet bei den sujethaften Texten zusätzlich zwischen restitutiven und revolutionären Texten. Bei restitutiven Texten wird die Ordnung bestätigt, indem die Grenzüberschreitung entweder scheitert oder wieder rückgängig gemacht wird.21 Bei revolutionären Texten dagegen wird die Grenzüberschreitung vollzogen und die bestehende Ordnung somit außer Kraft gesetzt.22 Neben der Sujethaftigkeit können in jedem Text noch der Held, die Umwelt, die Hindernisse, die Hilfe und die Gegenumwelt identifiziert werden.23
Die wichtigsten Elemente eines Sujets werden im Folgenden zusammengefasst:
1. ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen unterteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall […] für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger.24
All diese Aspekte können in der folgenden Untersuchung anhand Felix Saltens Werk Bambi erprobt werden, da die Raumsemantik des Werks entscheidend für das Mensch-Tier Verhältnis ist. Es finden mehrere Grenzüberschreitungen statt, die durch die Tiere und den Menschen hervorgerufen werden. Der Text ist somit definitiv als sujethaft einzuordnen. Dadurch werden die tierischen und menschlichen Räume miteinander verbunden, aber gleichzeitig auch durch die starken Gegensätze voneinander abgegrenzt. Außerdem sind die Ambivalenzen innerhalb der Semantik des Waldes sehr interessant, da dieser für die Tiere und Menschen unterschiedliche Merkmale aufweist.
3 Felix Saltens Bambi
3.1 Ambivalenz der Lichtung
Die Lichtung25, auch die Wiese oder die Blöße genannt, ist ein sehr bedeutsamer Ort für das gesamte Werk, da viele Handlungen dort stattfinden. Eine Lichtung ist generell eine offene Fläche im Wald, die von vielen Tieren und Pflanzen bewohnt wird. Daher ist es für Jäger auch sehr einfach dort Tiere zu erschießen, da sie keinen Schutz durch Bäume und Büsche haben. Die Lichtung in Bambi wird mit der ersten Beschreibung als ein wundervoller Ort dargestellt, an dem die Tiere ihre Freiheit genießen können. Dieser Ort symbolisiert gleichzeitig die Freude der Tiere, die sich auf der Lichtung treffen, um zu spielen oder sich zu paaren und das Leid der Tiere, die auf der Lichtung vom Jäger gejagt und getötet werden. Bambi erlebt deshalb schöne und grausame Momente auf der Lichtung, wie einerseits das Kennenlernen mit Gobo und Faline und andererseits den Tod anderer Rehe. Die Ambivalenz dieses Orts wird somit deutlich gezeigt.
3.1.1 Ort der Freude
„Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen, strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu Ende, die Straße war zu Ende. Nur ein paar Schritte noch, und sie kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete.“26
Hiermit wird Bambis erster Ausflug auf die Lichtung beschrieben. Die Raumsemantik der Lichtung ist auf der einen Seite deutlich positiv einzuordnen. Bambi erlebt dort viele schöne Momente, zunächst mit seiner Mutter und später mit seinen Freunden.
Die Lichtung wird von den Tieren klar mit dem Begriff der Freiheit in Verbindung gebracht. Freiheit ist eine menschliche Vorstellung, die vor allem im politischen beziehungsweise wirtschaftlichen Bereich genannt wird.27 Tieren wird die Freiheit durch den Menschen meist abgesprochen, indem sie als Haustiere oder Nutztiere gehalten werden, obwohl sie ihnen eigentlich von Natur aus gegeben ist.28 Diese Freiheit kann im Werk jedoch auch von den Wildtieren nur nachts genossen werden, wenn der Jäger nicht in der Nähe ist. Tagsüber halten sie sich daher im Dickicht auf, welches im Gegensatz zur Lichtung für den Schutz der Tiere steht. Die Freiheit der Lichtung bedeutet gleichzeitig auch, dass es keinen Schutz gibt und die Tiere ihre Freiheit manchmal mit dem Leben bezahlen müssen. Zwischen der Lichtung und dem Dickicht herrscht somit eine Grenze, deren Überschreitung eine Gefahr darstellt.29 Obwohl eine Grenze in einem Text eigentlich nur zwischen Räumen herrscht, die nicht beide der jeweiligen Figur zugeordnet sind, handelt es sich hier dennoch um eine Grenze. Die Überschreitung von dem Dickicht auf die Lichtung ist nämlich mit den Gegensätzen Leben – Tod verbunden, die eine totale Grenze darstellen, sobald sie vollständig überwunden wird. Der Text kann in diesem Fall als restitutiv gesehen werden, da die Grenzüberschreitung immer wieder rückgängig gemacht wird.30 Die Grenze zwischen den verschiedenen Teilen des Waldes wird topologisch durch die Gegensätze geschlossen – offen dargestellt und semantisch durch die Gegensätze sicher – gefährlich.31 Dadurch lassen sich topografisch die Gegensätze Dickicht – Lichtung aufstellen.32 Bambi hält sich in seiner frühen Kindheit ausschließlich im Dickicht auf, da dies ein Schutzort ist. Die Lichtung ist für ihn daher ein Wunder und ausschließlich positiv einzuordnen. Dies liegt jedoch nur an seiner kindlichen Unwissenheit. Im Dickicht ist es dunkel, geschlossen und einsam. Deswegen erscheint die Lichtung, die hell, offen und belebt ist, zunächst nur als Ort der Freiheit. Diese Freiheit ist jedoch mit Gefahren verbunden. Als Bambis Mutter zum ersten Mal mit ihm auf die Lichtung geht, erklärt sie ihm daher genau, wie er sich zu verhalten hat.
Er sah, wie die Mutter nach allen Seiten lauschte, er sah sie zusammenfahren und fuhr selbst zusammen, bereit ins Dickicht zurück zu springen. Da wurde die Mutter wieder ruhig, und als eine Minute verging, wurde sie fröhlich.33
Die Rehe haben sich sozusagen Verhaltensregeln für Ausflüge auf die Lichtung aufgestellt. Diese sind scheinbar in ihren Instinkten verankert, da Bambi sich sofort dem Verhalten seiner Mutter anpasst.34 Er versteht dadurch, dass die Lichtung auch negative Eigenschaften aufweist. Die Freiheit auf der Lichtung zu genießen, fällt ihm daher schwer und er verhält sich instinktiv wie die anderen Rehe, die aufmerksam auf der Lichtung sind. Dies zeigt deutlich das Mensch-Tier Verhältnis des Werks, welches auf Angst und Gewalt beschränkt wird.35 Die Tiere können sich in ihrem eigenen Lebensraum nicht bewegen, ohne immer auf die Gefahr warten zu müssen. Auf der Lichtung lernt er dann viele verschiedene Tiere kennen, wie Schmetterlinge, Hasen, Eichhörnchen, aber natürlich auch Rehe. All diese Tiere sind diegetische Tiere, das heißt sie sind Teil der Erzählung.36 Neben den diegetischen existieren in der Literatur noch semiotische Tiere. Dabei handelt es sich um Tiere, die nicht Teil der Erzählung sind, sondern als Begriffe und rhetorische Figuren auftauchen.37 Sowohl diegetische als auch semiotische Tiere existieren jedoch immer nur durch den Text und den jeweiligen Kontext.38 Somit können Tiere die Literatur beeinflussen und umgekehrt die Literatur auch das Leben der Tiere. Außerdem handelt es sich in Bambi um phantastische Tiere, da sie sprechen können und ihre Verhaltensweisen teilweise anthropomorphisiert sind, um eine Kritik an dem Verhalten des Menschen zu zeigen.39 Sprache ist nämlich eine Eigenschaft, die nur dem Menschen zugesprochen wird und sonst keinem anderen Tier, weshalb Sprache immer mit einem höheren Verstand in Verbindung steht.40 Hinzu kommt, dass die Sprache der Tiere dazu genutzt wird, ihr eigenes Leid durch den Menschen auszudrücken.41 Somit werden die Rollen von Menschen und Tieren umgekehrt, indem die Menschen stumm sind und die Tiere sprechen. In ihrem Aussehen und den Verhaltensweisen sind sie jedoch realistische Tiere, da sie den Tieren in unserer Welt entsprechen.42 Die Rehe erhalten dabei nur die positiven Eigenschaften des Menschen, wie die Moral und den Verstand.43 Das Zusammenleben der Tiere des Waldes verdeutlicht beispielsweise, dass die Tiere, im Gegensatz zum Menschen, ein friedvolles Leben miteinander führen können. Doch auch unter den Tieren gibt es die Jagd, wenn etwa im Winter nicht genug Nahrung zur Verfügung steht.44 Allerdings ist diese Jagd nicht mit der des Menschen zu vergleichen, da die Tiere zum Überleben töten müssen, während die Menschen nur zum Vergnügen töten.45 Außerdem spielen die jungen Rehe die Jagd miteinander nach.46 Dabei bemerken sie vermutlich nicht, dass sie den Menschen nachahmen. Dies stellt ebenfalls eine Kritik am Menschen dar, der sich der Grausamkeit seines Verhaltens gegenüber den Tieren manchmal nicht bewusst ist.47 Diese Beschäftigung üben beispielsweise auch Bambi und seine Freunde Faline und Gobo aus. Für sie ist die Jagd ein Spiel und die Gefahr durch den Jäger wissen sie noch nicht einzuschätzen. Dies unterstützt wieder die kindliche Unwissenheit der Rehe.
Plötzlich machte Faline einen Sprung und fegte davon. […] Augenblicklich stürzte sich Bambi hinter ihr her. Gobo folgte sogleich. Sie flogen in halben Kreisen, sie machten blitzschnell kehrt, purzelten übereinander, jagten kreuz und quer. […] Als sie dann unvermittelt und ein wenig atemlos stehen blieben, waren sie schon ganz vertraut miteinander.48
Neben der Jagd als Spiel findet sie auch in Form der Paarung statt. Sobald Bambi ein erwachsenes Reh ist, spürt er immer wieder das Verlangen danach sich fortzupflanzen.49 Dabei versteht er anfangs jedoch nicht, was diese Sehnsucht bedeutet.50 Erst als er Faline wiedersieht, erkennt er, dass es sich um das Verlangen nach Liebe handelt.51 Um sich mit ihr fortpflanzen zu können, muss er jedoch jegliche Rivalen ausschalten. Damit wird die Paarung auch durch die Jagd bestimmt und die Aussage von Bambis Mutter, dass Rehe keine anderen Tiere verletzen, wird zunichte gemacht.52 Dies erinnert an den Menschen, der sich seiner Triebnatur nicht bewusst sein möchte, während die Rehe sich ihrer Gewalt nicht bewusst sein wollen.53 Die Paarung der Tiere wird damit mit der gewaltvollen Jagd des Menschen gleichgestellt, die beide der Befriedigung eines Verlangens oder Wunsches dienen.54 Deshalb kann Bambi seinen Trieben nicht entkommen und muss, möglicherweise auf Leben oder Tod, für die Paarung mit seinen Konkurrenten kämpfen. Bambi muss zunächst Ronno im Kampf besiegen, um Faline für sich zu gewinnen.55 Dies gelingt ihm, da Ronno schon zuvor durch den Jäger verletzt wird und daher eines seiner Beine hinkt.56 Der Kampf wird jedoch nicht auf Leben oder Tod ausgetragen, sondern Bambi verschont Ronno. Damit wird Bambi auf eine höhere Stufe gestellt, indem er gütig handelt und seine Gewaltnatur besiegt. Daraufhin verbringt er seine Zeit auf der Lichtung und im Dickicht mit Faline.
Die ganze Nacht war er mit Faline glücklich gewesen, hatte sich bis in den hellen Morgen mit ihr getummelt und in seiner Seligkeit sogar der Nahrung vergessen. Dann aber war er so müde geworden, daß er selbst den Hunger nicht mehr spürte.57
Diese Unaufmerksamkeit sorgt jedoch dafür, dass die Freude zur Gefahr werden kann. Normalerweise zeichnen sich die Rehe dadurch aus, dass sie wachsam sind und immer auf die Gefahr warten. Die Paarung ist daher eine Zeit, in der die Rehe eine leichte Beute für den Jäger sind. Bambi verwechselt nämlich in seiner Liebe zu Faline ihre Rufe mit denen des Jägers.58 Nur durch das Wissen des Alten über die hinterhältigen Taktiken des Jägers kann Bambi davon abgebracht werden, den Rufen zu folgen. Bambi fällt es jedoch sehr schwer diesem Drang zu widerstehen. Dies zeigt deutlich, dass die Rehe von ihren Instinkten und Trieben bestimmt werden.59 Im Gegensatz dazu kann der Mensch freie Entscheidungen treffen und die Tiere täuschen. Der Schuss auf Bambi findet ebenfalls statt, nachdem er Faline wieder trifft und auf der Lichtung nicht aufmerksam genug ist.60 Sie stellt damit seine Schwäche dar, die der Mensch für seine Jagd ausnutzen kann.
Die Lichtung als Ort der Freude existiert nur in der Zeit, wenn der Mensch den tierischen Raum nicht betritt. Dies ist vor allem nachts der Fall, weshalb die Tiere ihr Leben an den Menschen anpassen und tagsüber Schutz im Dickicht suchen müssen. Nachts dagegen verbringen sie viel Zeit auf der Lichtung, da die Lichtung ein Ort ist, um sich zu treffen und zu paaren. Doch auch während der Ausflüge auf die Lichtung wird die Gefahr nicht vergessen. Dies zeigt sich am Verhalten aller Tiere, die stets aufmerksam sind. Das Mensch-Tier Verhältnis ist somit schon in den Instinkten der Tiere festgelegt.61 Sie sehen sich selbst als Opfer und den Menschen als Täter.
3.1.2 Ort des Leids
Auf der anderen Seite ist die Raumsemantik der Lichtung stark negativ dargestellt. Die Jagd durch den Menschen findet immer auf der Lichtung statt, da dies ein Ort ist, der keinen Schutz bietet. Auch die Jagd durch andere Tiere findet auf der Lichtung statt, wenn diese im Winter nicht genug Nahrung finden. Daher stellt jede Freude, die die Tiere des Waldes dort erleben, gleichzeitig eine große Gefahr dar. Freude und Leid sind daher immer miteinander verbunden.
Die Jagd nach dem Reh ist ein häufig vorkommendes Motiv in der Literatur. Rehe stehen für das Kindliche und Erwachsenwerden, wie es auch in dem Werk thematisiert wird.62 Die Gegensätze Jäger und Gejagtes werden dabei stark hervorgehoben. Rehe zeichnen sich durch ihre Achtsamkeit und ihren stark ausgeprägten Schutzinstinkt aus.63 Außerdem werden sie stets mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht, weshalb auch Bambi für viele Leser zunächst weiblich wirkt.64 Dies zeigt sich auch in weiteren Diskursen um das Werk, in denen Bambi häufig als Neutrum genannt wird.65 Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Name Bambi weder männlich noch weiblich erscheint.66 Da Weiblichkeit oft mit Schwäche und Männlichkeit mit Stärke in Verbindung gebracht werden, werden die Rehe als schwach und der Jäger wiederum als stark beschrieben. So stehen sich Männlichkeit und Weiblichkeit in der Jagd gegenüber. Bambi wird schon in seiner Kindheit früh mit dem Tod anderer Rehe konfrontiert. Er sieht beispielsweise ein Reh sterben, nachdem es vom Jäger auf der Lichtung angeschossen wird.67 Dabei versteht er jedoch nicht sofort, was geschieht.68 Dies kann mit kindlicher Unwissenheit gleichgesetzt werden, jedoch interpretieren alle Rehe die Taten des Menschen falsch. Damit wird ihre generelle Verbindung mit dem Kindlichen und damit Unwissenden verstärkt. Die Jagd wird immer durch einen „Donnerschlag“69 eingeleitet, was das falsche Verständnis der Tiere von dem Menschen noch unterstützt. Sie können die menschliche Anatomie und seine Taten nur mit natürlichen Vorstellungen verknüpfen, da sie kein Wissen über die Menschen besitzen und damit auch keine menschlichen Begriffe kennen. Die Tatsache, dass sie dennoch die menschliche Sprache nutzen, wird hierdurch ins Lächerliche gezogen und sorgt gleichzeitig für eine Kritik an der gewaltvollen Sprache des Menschen, der in dem Werk nur durch seine Gewalt zur Sprache kommt.70
[...]
1 Salten, Felix. Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde. Vollständige Neuauflage. Berlin: Zenodot, 2016, S. 53.
2 Im Folgenden werde ich das Werk immer in der Kurzform Bambi nennen, um Platz zu sparen.
3 Vgl. Arbeitskreis, Chimaira. Eine Einführung in Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse und Human-Animal Studies. In: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Human-Animal Studies. Bielefeld: transcript Verlag, 2011, S. 26f.
4 Vgl. ebd., S. 20f.
5 Vgl. Radkau, Joachim. Die Ära der Ökologie: Eine Weltgeschichte. München: C.H. Beck, 2011, S. 414f.
6 Vgl. Wrobel, Dieter. Felix Salten: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde. Die niedliche, brutale Welt der Rehe. In: Wrobel, Dieter: Vergessene Texte der Moderne. Trier: WVT, Wiss. Verlag Trier, 2010, S. 69.
7 Vgl. Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 111.
8 Frenzel, Elisabeth. Motive der Weltliteratur. 6., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart: Kröner, 2008, S. VIII.
9 Lotman, Jurij M. Künstlerischer Raum, Sujet und Figur. In: Dünne, Jörg (Hrsg.): Raumtheorie. Original-Ausgabe, 8. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015, S. 529.
10 Vgl. Lotman, Jurij M. Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränderte Auflage. München: Fink, 1993, S. 313.
11 Vgl. ebd., S. 327.
12 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael. Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: C.H. Beck, 2016, S. 158f.
13 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 330.
14 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 336.
15 Vgl. ebd., S. 336.
16 Vgl. ebd., S. 336f.
17 Vgl. ebd., S. 338f.
18 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S. 159.
19 Vgl. ebd., S. 159.
20 Vgl. ebd., S. 159.
21 Vgl. ebd., S. 161.
22 Vgl. ebd., S. 161.
23 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 343.
24 Ebd., S. 341.
25 Im Folgenden werde ich immer den Begriff Lichtung verwenden, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.
26 Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 8.
27 Vgl. Garner, Robert. Freiheit. In: Ferrari, Arianna; Petrus, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Bielefeld: transcript Verlag, 2015, S. 117.
28 Vgl. ebd., S. 117.
29 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 338f.
30 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S. 161.
31 Vgl. ebd., S. 159.
32 Vgl. ebd., S. 159.
33 Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 9.
34 Vgl. ebd., S. 9.
35 Vgl. Büscher, Nick. Kulturökologie im Kinderzimmer. In: Grimm, Sieglinde; Wanning, Berberli (Hrsg.): Kulturökologie und Literaturdidaktik. Göttingen: V&R Unipress, 2016, S. 385.
36 Vgl. Borgards, Roland. Literatur. In: Ferrari, Arianna; Petrus, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Bielefeld: transcript Verlag, 2015, S. 226.
37 Vgl. Borgards, Roland. Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung. In: Grimm, Herwig; Otterstedt, Carola (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinen übergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 89.
38 Vgl. ebd., S. 93.
39 Vgl. Borgards, Roland: Literatur, S. 226.
40 Vgl. Glock, Hans-Johann. Sprache. In: Ferrari, Arianna; Petrus, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Bielefeld: transcript Verlag, 2015, S. 327.
41 Vgl. Büscher, Nick: Kulturökologie im Kinderzimmer, S. 385.
42 Vgl. Borgards, Roland: Literatur, S. 226.
43 Vgl. Büscher, Nick: Kulturökologie im Kinderzimmer, S. 380.
44 Vgl. Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 50f.
45 Vgl. Büscher, Nick: Kulturökologie im Kinderzimmer, 2016, S. 383.
46 Vgl. Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 20.
47 Vgl. Mütherich, Birgit. Die soziale Konstruktion des Anderen – Zur soziologischen Frage nach dem Tier. In: Brucker, Renate; et al: Das Mensch-Tier-Verhältnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2015, S. 52.
48 Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 20.
49 Vgl. ebd., S. 65.
50 Vgl. ebd.
51 Vgl. ebd., S. 66.
52 Vgl. ebd., S. 8.
53 Vgl. Mütherich, Birgit: Die soziale Konstruktion des Anderen – Zur soziologischen Frage nach dem Tier, S. 51f.
54 Vgl. Büscher, Nick: Kulturökologie im Kinderzimmer, 2016, S. 383.
55 Vgl. Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 67f.
56 Vgl. ebd., S. 48.
57 Ebd., S. 72.
58 Vgl. ebd., S. 74f.
59 Vgl. Mütherich, Birgit: Die soziale Konstruktion des Anderen – Zur soziologischen Frage nach dem Tier, S. 51f.
60 Vgl. Salten, Felix: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde, S. 96f.
61 Vgl. Fischer, Michael. Differenz, Indifferenz, Gewalt: Die Kategorie „Tier“ als Prototyp sozialer Ausschließung. In: Brucker, Renate; et al: Das Mensch-Tier-Verhältnis. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2015, S. 196f.
62 Vgl. Zerling, Clemens. Lexikon der Tiersymbolik. Völlig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Klein Jasedow: Drachen-Verlag, 2012, S. 247.
63 Vgl. ebd., S. 248.
64 Vgl. Zerling, Clemens: Lexikon der Tiersymbolik, S. 248.
65 Vgl. Baßler, Moritz. „Ein Rudel mißlungener Rehe". In: Mattle, Siegfried (Hrsg.): Felix Salten, Schriftsteller – Journalist – Exilant. Wien: Holzhausen Verlag, 2006, S. 136.
66 Vgl. Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, S. 152.
67 Vgl. ebd., S. 37.
68 Vgl. ebd., S. 37.
69 Ebd., S. 37.
70 Vgl. Büscher, Nick: Kulturökologie im Kinderzimmer, S. 382.