In dieser Hausarbeit wird der Begriff der Gelegenheitslyrik von der Zeit des Barock bis zum Anfang der Moderne erläutert, in dem die spezifischen Merkmale von Erlebnis- und Kasuallyrik unterschieden werden. Die Unterscheidung wird anhand von Kriterien wie Zweck, Entstehung, Inhalt und literaturwissenschaftlicher Kritik vorgenommen. Hierbei werden die inhaltlichen Besonderheiten beider Gedichtarten und die Umstände eines eventuellen Ablösungsprozesses beschrieben. Außerdem geht die Hausarbeit auf die Wertung durch verschiedene Literaturwissenschaftler wie Dilthey, Segebrecht und Stockhorst ein und der hiermit einhergehenden Auffassung einer Dichotomie von Kunst- und Machwerk.
Die Gedichtart der Gelegenheitslyrik war in der Zeit des Barock bei Autoren und in der Gesellschaft sehr beliebt. Zu allen möglichen Gelegenheiten wurde Gedichte entweder per Auftrag oder aus eigener Motivation verfasst. Allerdings erfuhr das gesellschaftlich geprägte Kasualcarmen innerhalb des frühen 18. Jahrhunderts eine Phase aufkommender Kritik. Im Gegensatz dazu bildete sich das durch Individualismus geprägte Erlebnisgedicht heraus. Es stellt sich hier die Frage: Gab es einen Ablösungsprozess von dem Kasualcarmen zu dem Erlebnisgedicht und wenn ja, wie konnte es hierzu kommen?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Allgemeine Definition des Begriffes Gelegenheitslyrik
3. Das Gelegenheitsgedicht im Barock
4. Gelegenheitslyrik nach der Zeit des Barock und die Dichotomie von Mach- und Kunstwerk
5. Zusammenfassung
6. Bibliographie
1. Einleitung
Die Gedichtart der Gelegenheitslyrik war in der Zeit des Barock bei Autoren und in der Gesellschaft sehr beliebt. Zu allen möglichen Gelegenheiten wurde Gedichte ent- weder per Auftrag oder aus eigener Motivation verfasst. Allerdings erfuhr das gesell- schaftlich geprägte Kasualcarmen innerhalb des frühen 18. Jahrhunderts eine Phase aufkommender Kritik. Im Gegensatz dazu bildete sich das durch Individualismus ge- prägte Erlebnisgedicht heraus. Es stellt sich hier die Frage: Gab es einen Ablösungs- prozess von dem Kasualcarmen zu dem Erlebnisgedicht und wenn ja, wie konnte es hierzu kommen?
In dieser Hausarbeit werde ich auf den Begriff der Gelegenheitslyrik von der Zeit des Barock bis zum Anfang der Moderne eingehen, in dem ich die spezifischen Merkmale von Erlebnis- und Kasuallyrik unterscheide. Die Unterscheidung nehme ich anhand von Kriterien wie Zweck, Entstehung, Inhalt und literaturwissenschaftlicher Kritik vor. Hierbei werde ich auf die inhaltlichen Besonderheiten beider Gedichtarten, die Umstände eines eventuellen Ablösungsprozesses, die Wertung durch verschiedene Li- teraturwissenschaftler wie Dilthey, Segebrecht und Stockhorst eingehen und der hier- mit einhergehenden Auffassung einer Dichotomie von Kunst- und Machwerk.
2. Allgemeine Definition des Begriffes Gelegenheitslyrik
Der Begriff der Gelegenheitslyrik, bezeichnet sämtliche Gedichte, in denen sich ein Autor an einen Adressaten wendet und Bezug nimmt auf ein bestimmtes Ereignis in dessen Leben. 1 In der deutschen Literaturwissenschaft wird Gelegenheitslyrik diesbe- züglich in zwei verschiedene Termini unterteilt. So wird unterschieden zwischen ers- tens dem „Erlebnisgedicht“ und zweitens dem „Kasualcarmen“. Gemäß des Literatur- wissenschaftlers Wulf Segebrecht werden zwar beide Formen des Gedichts unter ei- nem Begriff aufgeführt, unterscheiden sich aber erheblich auf Grund der Qualität ihrer Beziehung zu der Gelegenheit sowie der Art ihrer Entstehung.
In Bezug auf die Qualität beider Gedichtarten gebe es zwei entscheidende Unter- schiede. So wird in dem Erlebnisgedicht die Gelegenheit als etwas vom Autor indivi- duell Verinnerlichtes beschrieben. Im Gegensatz dazu, sei das Kasualcarmen lediglich Zweckdichtung, welche der „festlichen Erhöhung eines Tagesereignisses“ diene. Au- ßerdem wird in der Literaturwissenschaft zumeist von dem Erlebnisgedicht als „Kunstwerk“ und entsprechend abwertend von dem Kasualcarmen als „Machwerk“ gesprochen. Die Auffassung einer bestehenden Dichotomie wird von vielen deutschen Literaturwissenschaftlern geteilt. Außer der qualitativen Unterscheidungsmerkmale können die Gedichtformen auch anhand der jeweiligen Entstehung unterschieden wer- den. Grundlegender Unterschied ist diesbezüglich die Tatsache, dass Kasualcarmen zu einem anstehenden Anlass verfasst werden, während Erlebnisgedichte aus einer Gele- genheit entstehen. 2
Das Kasualcarmen hatte während der Zeit des Barock Hochkonjunktur. 3 Das Erleb- nisgedicht wiederum entwickelte sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts und gewann ab diesem Zeitpunkt zunehmend an Bedeutung. Um die Veränderung des Gelegenheits- gedichts und den Übergang von Kasualcarmen zu Erlebnisgedicht verstehen zu kön- nen, ist es zuerst notwendig, sich mit den spezifischen Merkmalen der Gelegenheits- gedichte in der Zeit des Barock zu beschäftigen.
3. Das Gelegenheitsgedicht im Barock
Das Kasualcarmen erfuhr, wie oben erwähnt, seine Blütezeit in dem Zeitalter des Ba- rock um das 17. Jahrhundert. Dies zeigte sich vor allem durch eine hohe Anzahl pro- duzierter Texte, einer großen Vielfalt und Multifunktionalität. Zu Anfang wurde das Kasualcarmen vorrangig dazu genutzt, dem Herrscher zu huldigen. Bei den Dichtern handelte es sich um akademisch Gebildete, welche ihre Werke an das Publikum der höheren Stände bzw. den Adel richtete. 4 Dies änderte sich jedoch mit der Ausweitung der deutschen Schriftkultur. Durch die zahlreichen Anleitungen zum Verfassen von Kasualcarmen in Form von deutschsprachigen Poetiken, wurde es jedem Menschen ermöglicht diese anzufertigen. Somit versuchten sich zusehends auch Mitglieder des Bürgertums an ihrer Produktion. 5 Bewirkt wurde der Erfolg und die weite Verbrei- tung der Kasualcarmen ebenfalls durch die Entwicklung des Buchdrucks und in Folge dessen vermehrten Produktion von Poetiken, welche zum einfachen Verfassen von Gedichten anleiteten. Jedoch waren die Kasualcarmen durch die Regelsysteme der Po- etiken stark normativ geprägt und ließen wenig Platz für individuelle Ideen. Kasual- carmen wurden zu vielen verschiedenen Anlässen verfasst. M.D. Omeis unterscheidet hier im Hauptsächlichen 12 Themenbereiche. So gibt es das Geburtsgedicht, Namens- tags-, Neujahrs-, Ehren-, Lob-, Dank-, Siegs-, Glückwünschungs-, Hochzeits- und Leichgedicht. Außerdem gibt es den Glückwunsch wegen wieder erlangter Gesund- heit, den Glückwunsch zur bevorstehenden Reise und das Willkommensgedicht. 6 Alle diese Arten des Kasualcarmen konnten anhand von Poetiken innerhalb dreier Schritte verfasst werden: 1. Der inventio, 2. dispositio und 3. elocutio. In der Inventio, auf Deutsch „Erfindung“, geht es darum, alle Umstände der zu bedichtenden Gelegenheit bezüglich der Person, des Ortes, der Zeit sowie der äußeren Gegebenheiten, des Zwe- ckes und seiner spezifischen Merkmale zu sammeln und zu betrachten. Hieraufhin er- hält man einen Katalog von Daten, den „Realienkatalog“, welcher zu der Erfindung des Gedichtes führt. Schließlich werden die Daten mit Hilfe von Fragen an die soge- nannten „loci topici“, Fundorte gebunden. Das Ergebnis sind verschiedene Einzelar- gumente, welche später in der „Dispositio“ in die richtige Reihenfolge gebracht wer- den. 7 Der Dichter konnte bei der Invention auf bereits vorhandenes Material anderer Autoren zurückgreifen, wie etwa in Form von „Emblembüchern, Symbolsammlungen und Ikonologien“. 8 So wurde ihm bereits bei der grundlegenden Erfindung des The- mas und der Einzelargumente durch Vorlagen ein wichtiger Teil seiner Arbeit abge- nommen oder zumindest um einige Schritte erleichtert.
Bei der Auswahl der Fundorte erwiesen sich bei der „inventio“ mit der Zeit drei ver- schiedene als am Erfolgreichsten. So wurden vor allem das „locus notationis“, „locus circumstantium“ und das „locus comparationis“ von den Autoren genutzt. 9 Es gab zwar noch andere Fundorte, doch war die Produktion von Kasuallyrik stark publikums- orientiert und an gesellschaftliche Erwartungen geknüpft. 10 Mittels des „locus notati- onis“ wurden Argumente bzw. das Thema des Gedichts anhand des Namens erfasst. Dies geschah z.B. durch einen Vergleich (Collatione), in welchem der Name des Ad- ressaten auf eine bekannte Figur der Bibel, Mythologie oder Historie bezogen wurde oder durch eine Gegenüberstellung (Oppositione). Besonders beliebt war allerdings das Auffinden von Argumenten anhand der Bedeutung des Namens (Significatione). 11 Der Name wurde hier durch das sogenannte Alludiren wörtlich genommen. So z.B. auch in dem Gedicht Auf Herrn Damian Gläsers und Jungfra Marien Reiminnen Hochzeit von Paul Fleming. In dem Hochzeitsgedicht spielt der Dichter auf die Namen beider Adressaten an und verbindet diese sinngemäß mit dem Anlass:
Braut, gedenket unterdessen, /
daß an euch was Gläserns ist! /[…]/
Daß ihr mögt nach kurzen Tagen /
Neue Reim` und Gläser tragen!/ 12
Die Allusion des Namens „Gläser“ bezeichnet hier das Merkmal der Verbindung von Bräutigam und Braut, nämlich die Zerbrechlichkeit derselben. Die Bedeutung des Na- mens wird genutzt, um indirekt den Rat an das Brautpaar zu geben, auf den beidseiti- gen Bund zu achten und ihn zu schätzen. Eine weitere Möglichkeit des locus notatio- nis ist das Bilden eines Anagramms, die Umstellung der Buchstaben des Adressaten in ein anderes Wort. So benutzte Tscherning z.B. in seinem Hochzeitsgedicht Auf Herrn Martin Nentwigs und Jungfrau Anna Christina Lobhartzbergerin Hochzeit das Anagramm „gewinnt“ für den umgestellten Namen des Bräutigams mit Namen „Nent- wig“. Während einige Autoren bald nur noch diesen einen Fundort nutzten auf Grund seines Versprechens des sicheren Erfolgs, kritisierten andere dies als lächerlich und rieten somit von seiner Nutzung ab. Doch es war gerade das Lächerliche was viele Autoren dazu trieb, bewusst diesen Fundort zu nutzen. 13 Ein weiterer wichtiger Fund- ort von Argumenten und Themen war der „locus circumstantium“. In diesem beschäf- tigte sich der Autor tiefergehend mit den gesammelten Daten, indem er sie weiterge- hend entweder in dem „locus circumstantium temporis“ oder „locus circumstantium loci“ miteinander verknüpfte. 14 Andreas Gryphius verknüpfte in dem Gedicht Auff H. Godofredi Eichorns und Rosine Stoltzin Hochzeit die Jahreszeit Winter mit dem dazu- gehörigen Schnee und seiner typischen Kälte:
OB gleich der weisse Schnee itzt Thal und Berge decket/
Und manch geschwinder Fluß in einen Harnisch führet/
In dem er sich des Zorns der grimmen Kält` erwehrt/
Vor welcher jeder Baum biß in den Tod erschrecket/
Ob gleich der bleiche Frost die scharffe Senß ausstrecket. /[…]/
Sie [die Sonne] hat/ Herr Gottfried/ euch die schöne Rose bracht/
Bey der ihr Frühling habt und aller Winte r lacht/ 15
Gryphius verknüpfte hier die Jahreszeit Winter zum Zeitpunkt der Hochzeit mit seinen charakteristischen Attributen. So gehören zum Winter, nach dem allgemeinen Ver- ständnis, die Kälte, der Frost, ebenso wie der Schnee dazu. Gryphius thematisiert hier, dass trotz des gegenwärtigen Winters und der damit einhergehenden Umstände, die Sonne für das Brautpaar scheint. Der Anlass bildet somit einen freudigen Gegensatz zu den eher negativen Eigenschaften der Jahreszeit.
[...]
1 Vgl. Drux, Rudolf: Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1, hg. von Gert Ueding. Tübingen: Max Niemeyer 1996. S. 654 f.
2 Vgl. Segebrecht, Wulf: Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. S. 2 f.
3 Vgl. Drux, Gelegenheitsgedicht (Anm. 1), S. 661
4 Vgl. Drux, Gelegenheitsgedicht (Anm. 1), S. 661
5 Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht (Anm. 2), S. 77‒78
6 Vgl. Drux, Gelegenheitsgedicht (Anm. 1), S. 661
7 Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht (Anm. 2), S. 113‒114
8 Ebd. S. 132
9 Ebd. S. 126
10 Ebd. S. 74
11 Ebd. S. 115
12 Fleming, Paul; Lappenberg, Johann Martin: Paul Flemings Deutsche Gedichte. S. 307, in: www.books.google.de. URL: http://books.google.de/books?id=PqkLAAAAIAAJ&pg=PA305&dq=Auf+Herrn+Damian+Gl%C3%A4ser s+und+Jungfra+Marien+Reiminnen+fle- ming&hl=de&sa=X&ei=vc5BUYjmKcPNtAaK6YDwCA&ved=0CC8Q6AEwAA#v=one- page&q=Auf%20Herrn%20Damian%20Gl%C3%A4sers%20und%20Jungfra%20Marien%20Reimin- nen%20fleming&f=false [Zugriff am 10.03.2013]
13 Vgl. Segebrecht, Gelegenheitsgedicht (Anm. 2), S. 117
14 Ebd. S. 123
15 Gryphius, Andreas: Gedichte, Stuttgart: Reclam 2012, S. 22