In Deutschland ist Andersartigkeit kein Problem. Alle Bürger sind frei und gleich und werden vor dem Gesetz auch so behandelt. Inbesondere private Teile des Lebens haben keinen Einfluss auf Benachteiligung oder Bevorzugung einer Person haben. Oder?
Eine derartige Sichtweise und Auslebung von Individualität ist in Deutschland jedoch lange Zeit undenkbar gewesen. Der Paragraph 175 im Strafgesetzbuch hat über Dekaden festgelegt, dass die Auslebung der männlichen Homosexualität unter Strafe steht.
Ziel dieser Arbeit ist es, die vier Fassungen des §175 in deskriptiver Art und Weise in deren historischen Kontext einzubetten. Zudem werden Anstrengungen unternommen, um herauszustellen, wie und warum es zu Änderungen der jeweils aktuellen Versionen gekommen ist. Innerhalb von rund 120 Jahren wurde der Paragraph erst merklich verschärft und schließlich aufgehoben. Die Abschaffung des genannten Gesetzestextes kann als Bruch mit den verbreiteten homophoben Einstellungen gegenüber sexuell Andersartiger, die über Jahrhunderte in Deutschland und Europa präsent war, aufgefasst werden. Sie stellt einen Meilenstein für die Emanzipation Homosexueller in Deutschland dar.
Inhaltsverzeichnis
1 Homophobie als europäische Tradition
2 Gesetzesentwicklung des Paragraphen 175 und historische Einbettung
2.1 Erste Fassung des Paragrafen 175 im Kaiserreich und der Weimarer Republik (1871- 1935)
2.2 Zweite Fassung des Paragrafen 175 im Dritten Reich und der Nachkriegszeit (1935- 1969)
2.3 Dritte Fassung des Paragrafen 175 (1969- 1973)
2.4 Vierte Fassung des Paragrafen und Abschaffung (1973-1994)
3 Probleme und Perspektiven für das Kommende
Literaturverzeichnis
1 Homophobie als europäische Tradition
Der Art. 3 III GG besagt:
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Für einen nach 1994 geborenen Leser oder Leserini dieses Gesetzestextes scheinen die angeführten Grundsätze nicht nur glasklar, sondern auch selbstverständlich: in Deutschland ist Andersartigkeit kein Problem. Alle Bürger sind gleich und werden vor dem Gesetz auch so behandelt. Selbst wenn Sexualität im Art. 3 III GG nicht explizit erwähnt wird, läge es nahe, dass gerade ein solch privater Teil des Lebens keinen Einfluss auf Benachteiligung oder Bevorzugung einer Person haben könnte und dürfte.
Eine derartige Sichtweise und Auslebung von Individualität ist in Deutschland jedoch lange Zeit undenkbar gewesen. Der Paragraph“ 175 im Strafgesetzbuch hat über Dekaden festgelegt, dass die Auslebung der männlichen Homosexualität unter Strafe steht. Dieser Straftatbestand hat in Deutschland und Mitteleuropa lange Tradition. Sexuelle Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienen, sind im Mittelalter unter dem Begriff der Sodomie zusammengefasst und von der Kirche scharf verurteilt worden. In ganz Europa „wurde der Sodo- mit so zum festen Personal in der Predigtliteratur“ (Puff, 2007, S. 80). Man warnte „vor Seuchen, Hungersnöten und anderen Katastrophen, die angeblich von denen verursacht wurden, die sich ,gegen die Natur‘ versündigten“ (Puff, 2007, S. 80). Auch im weltlichen Recht fand Homosexualität als Straftatbestand recht früh Erwähnung: im ersten allgemeinen Gesetzbuch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, dem Constitutio Criminalis Carolina von 1532, wurden unter anderem sexuelle Handlungen zwischen Menschen des gleichen Geschlechts unter Todesstrafe gestellt (vgl. Puff 2007, 81f.):
„Wenn jemand mit einem Tier oder ein Mann mit einem Manne oder eine Frau mit einer Frau eine Unreinheit begeht, so haben sie ihr Leben verwirkt und sollen nach dem allgemeinen Brauch zum Tod durch Verbrennen verurteilt werden“ (Growing, 2007, S. 130).
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestand das Karolingische Recht fort. Der §175 StGB, das Untersuchungsobjekt dieser Arbeit, wurde 1871/1872 erlassen. Dieser Paragraph stellt „widernatürliche Unzucht“ unter Gefängnisstrafe. 123 Jahre war er, in insgesamt vier Fassungen, in Kraft, bis er 1994 schließlich aufgehoben wurde.
Ziel dieser Arbeit ist es, die vier Fassungen des §175 in deskriptiver Art und Weise in deren historischen Kontext einzubetten. Zudem werden Anstrengungen unternommen, um heraus zustellen, wie und warum es zu Änderungen der jeweils aktuellen Versionen gekommen ist. Innerhalb von ungefähr 120 Jahren wurde der Paragraph erst merklich verschärft und schließlich aufgehoben. Die Abschaffung des genannten Gesetzestextes kann als Bruch mit den verbreiteten homophoben Einstellungen gegenüber sexuell Andersartiger, die über Jahrhunderte in Deutschland und Europa präsent war, aufgefasst werden. Sie stellt einen Meilenstein für die Emanzipation Homosexueller in Deutschland dar.
In der vorliegenden Arbeit wird hauptsächlich die männliche Homosexualität thematisiert. Die Begründung dafür ergibt sich in der Retrospektive: „Das Modell platonischer Freundschaften, das während der frühen Neuzeit in ganz Europa in höchstem Ansehen stand, schien die Unschuld und Keuschheit der Frauen zu beweisen“ (Growing, 2007, S. 136). Frauen galten als „von Natur aus [...] asexuell“ (Growing, 2007, S. 143). Lesbische Beziehungen waren zudem in der Öffentlichkeit weniger präsent als schwule. Durch einen Mangel an Freiheiten räumlicher und gesellschaftlicher Natur mussten Frauen ihre Intimitäten eher im Verborgenen halten (vgl. Growing 2007). Diese Punkte könnten Gründe dafür sein, dass sich zeitgenössische Ärzte verhältnismäßig wenig an der weiblichen Homosexualität interessierten und diese schlicht für bedeutungslos hielten (vgl. Tamagne 2007, 170). Auch der Versuch, in Deutschland lesbische Beziehungen unter Strafe zu stellen, scheiterte 1909 (vgl. Tamagne 2007, 187).
Diese juristische peaux a peaux Entwicklung ist ein zentraler Punkt der vorliegenden Arbeit. In dieser Abhandlung soll es jedoch nicht nur um den exakten Wortlaut und die Zeit, in der er aktuell war, gehen. Vielmehr wird auch einigen Akteuren, die sich für eine Liberalisierung der Gesellschaft und nicht zuletzt des Strafrechts gegenüber Homosexuellen zu verschiedenen Zeiten eingesetzt haben, Bedeutung beigemessen.
Da der Fokus dieser Seminararbeit auf der Entwicklung des bereits genannten Gesetzes liegt, wird in dieser Abhandlung chronologisch vorgegangen. Beginnend mit dem Ursprung des Gesetzes im Kaiserreich wird im nächsten Abschnitt zur Rechtslage in der NS-Zeit übergeleitet. Auch nach Ende des zweiten Weltkriegs ist Homosexualität weiterhin unter Strafe gestellt geblieben. Auch in den 1950ern und 60ern kam es zu einer Vielzahl von Verurteilungen. In den Jahren 1969 und 1973 wurde der §175 StGB erneut überarbeitet und 1994 schließlich abgeschafft.
Wie eine solche Entwicklung möglich war, versucht diese Arbeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu beantworten. Die Strukturen und Akteure hinter großen gesellschaftlichen und juristischen Veränderungen, die viele Jahrzehnte andauerten, herauszustellen, ist eine große
Aufgabe. Aufgrund des relativ kleinen Umfangs einer universitären Hausarbeit ist es kaum möglich, die Gesamtzahl der betreffenden Dynamiken ausreichend darzustellen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht sich diese Hausarbeit an einer angemessenen Analyse. Zu diesem Zweck werden auch relevante Originaltexte, wie zum Beispiel von Kurt Hiller, Friedrich Radzuweit oder Adolf Hitler, mit in die vorliegende Abhandlung einbezogen. Auf welche Art und Weise rückte die Thematik der Homosexualität, die in erster Linie nur das Private betrifft, in die Öffentlichkeit? Mit welcher Härte wurde von staatlicher Seite gegen Homosexualität vorgegangen? Wäre dem keine relativ breite Aufmerksamkeit zugekommen, wäre es weniger wahrscheinlich gewesen, dass in jenem Bereich letztendlich Veränderungen - egal welcher Art - eintreten. Die hier getroffenen Aussagen sollen dementsprechend nicht nur auf Sekundärliteratur zu basieren. Sie fußen auch auf den Aussagen von Zeitgenossen, die sich aktiv mit den Konsequenzen des Paragraphen 175 in ihrer jeweiligen Zeit auseinandergesetzt haben.
2 Gesetzesentwicklung des Paragraphen 175 und historische Einbettung
Im 19. Jahrhundert kam es bezüglich der gleichgeschlechtlichen Liebe in Deutschland und Europa zu signifikanten Veränderungen. Ein Wandel wird bereits in der Terminologie ersichtlich. Sprach man im Mittelalter und der frühen Neuzeit noch von „Sodomiten“, wurde im 19. Jahrhundert der Begriff „Homosexueller“ gebräuchlich (das erste Zeugnis dieses Begriffs findet sich 1869 (vgl. Tamagne 2007, 167)). Die Bedeutungen dieser Begrifflich- keiten gehen mit Veränderungen des Strafrechtes einher: Das Wort Sodomie hat etymologischen Bezug zum Christentum („Sodom und Gomorra“). „Galt der Sodomit als ,Verbrecher vor Gott‘, der den Tod verdient hatte, sah man den Homosexuellen als ,Kranken‘, ,Perver- sen‘, ,Degenerierten‘, der für die Gesellschaft schädlich und deshalb ein Fall für medizinische Behandlung und für Gerichte war“ (Tamagne, 2007, S. 167). Homosexualität ging nun nicht mehr mit der „Verwirkung des eigenen Lebens“ (siehe das Karolingische Recht, S. 3) einher, sondern sie wurde zu einem Phänomen, das man behandeln konnte und musste (vgl. Tamagne 2007, 168). Diese Veränderungen in der Wahrnehmung Homosexueller gehen mit einer säkularisierten modernen Weltanschauung im Zuge der Industrialisierung einher und bilden auch die Basis für den Paragraphen 175 im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches 1871. Homosexualität bedeutete nun kein Vergehen an Gott und der Kirche mehr, sondern viel mehr eine Gefahr für die Gesellschaft und somit auch den Staat.
Die Strafgesetzgebung stand in Europa hinsichtlich der Homosexualität Ende des 19. Jahrhunderts mit den vorherrschenden Konfessionen und Kulturen der jeweiligen Länder in Verbindung:
„Staaten, deren Kultur hauptsächlich romanisch und katholisch geprägt war (Frankreich, Italien, Spanien und Portugal) [...], hatten keine Gesetze, die homosexuelle Praktiken unter Strafe stellten. Deutschland, die angelsächsischen und slawischen Länder, die vor allem protestantisch oder orthodox geprägt waren, neigten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, Gesetze zu erlassen, die homosexuelle Beziehungen zwischen Männern ausdrücklich strafbar machten“ (Tamagne, 2007, S. 186f.).
In Deutschland kam es zu jenem ausdrücklichen Strafbarmachen im Jahr 1871 durch den Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches.
2.1 Erste Fassung des Paragrafen 175 im Kaiserreich und der Weimarer Republik (1871- 1935)
Als 1871 das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm I. - der erste deutsche Nationalstaat als solcher - gegründet wurde, wurde auch das Reichsstrafgesetzbuch erlassen. Es ging auf Vorgängerregelungen des Preußischen Königreichs zurück (vgl. Tamagne 2007, 187). Der Paragraf 175 legte fest, welche rechtlichen Konsequenzen „widernatürliche“ sexuelle Aktivitäten haben würden.
„§175
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen zwei Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“ (Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze, 1897, S. 211).
Homosexuelle Praktiken zu kontrollieren und zu ahnden erwies sich jedoch als schwierig. Zwar wurden „in Deutschland [...] Spezialeinheiten der Polizei zur Überwachung schwuler Treffpunkte wie Parks und öffentlicher Toiletten abgestellt“ (Tamagne, 2007, S. 188). Das Problem jedoch lag nicht nur darin begründet, dass die Sexualität in den meisten Fällen im Privaten passiert. Eine viel grundlegendere Frage war, wie Homosexualität und die sogenannte „Unzucht“ überhaupt klar juristisch zu definieren seien.
„Man bestrafte Unzucht, aber man hatte nie definiert, was Unzucht ist. Man bestrafte die Erregung öffentlichen Ärgernisses, aber man hatte nie definiert, was öffentliches Ärgernis ist. Das Gesetz sollte Anstand und Schamgefühl schützen, doch man wusste eigentlich nie, was Anstand und Schamgefühl sind“ (Foucault, 2003, S. 959).
Anfang des 20. Jahrhunderts war das Thema Homosexualität längst kein Geheimnis mehr.
Im Zuge der sogenannten „Eulenberg-Affäre“ von 1907/1908 stand es im Fokus der breiten Öffentlichkeit, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die engen Freunde und Berater des Kaisers Wilhelm II., Fürst Phillip von Eulenberg und Graf Kuno Moltke, waren von dem Herausgeber Maximilian Harden in dessen Zeitschrift „Die Zukunft“ öffentlich als schwul betitelt worden. Dieser Skandal hatte in ganz Europa das Bild der Homosexualität als deutsche Vorliebe zur Folge (vgl. Tamagne 2007, 174). Ob die „Eulenberg-Affäre“ der Wahrheit entsprach oder auf einem Gerücht basierte, ist fraglich. „Jemanden als homosexuell zu verdächtigen, war [zu der Zeit, Anmerkung der Verfasserin] ein probates Mittel, den Gegner in Verruf zu bringen, unabhängig von seiner tatsächlichen sexuellen Orientierung“ (Tamagne, 2007, S. 191). Homosexualität galt, obwohl, oder vielleicht gerade weil es in die Öffentlichkeit gerückt worden war, weiterhin als Abartigkeit oder Perversion. Nichtdestotrotz erschienen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend Literatur, Filme, Schlager und Theater, die sich mit diesem Thema beschäftigten und sogar klar die Abschaffung des Paragrafen 175 forderten (vgl. Tamagne 2007, 185f.). Der homosexuelle Aktivist und Sexualwissenschaftlicher Magnus Hirschfeld gründete bereits 1897 das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ (WhK). Ziel dieser Initiative war zum einen Aufklärung über die Sexualität (Hirschfeld gab Bücher über das Tabuthema Verhütung heraus) und Homosexualität im Speziellen. Hirschfelds Kernthese war, dass es sich bei der Homosexualität nicht um eine Krankheit oder um Perversion handelte, sondern um etwas Angeborenes, das er „das dritte Geschlechte“ nannte (vgl. Tamagne, 2007, S. 168). Das zweite Ziel war die Abschaffung des §175. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten (Thomas Mann, Albert Einstein, Leo Tolstoi und viele weitere) unterzeichneten diesbezügliche eine Petition des WhK (vgl. Tamagne, 2007, S. 176). Ein weiteres Beispiel für eine Institution dieser Art war der Bund für Menschenrechte, der von Friedrich Radszweit gegründet worden war. In seiner Denkschrift an den Reichstag aus dem Jahr 1927 forderte er „Straffreiheit für alle homosexuellen Handlungen, die von erwachsenen Personen [18 Jahre, Anm. d. Verf.] aus freiem Willen und in gegenseitigem Einverständnis miteinander vorgenommen werden“ (Radszuweit, 1927, S. 10). Der Aktivist Kurt Hiller ging sogar noch weiter und erklärte den Wortlaut und den Inhalt des Paragrafen 175 an sich für lächerlich. Er vertrat die Überzeugung, Sexualität sei etwas Normales, das es nicht zu stigmatisieren galt. Homosexuelle Handlungen waren für ihn nicht weniger natürlich. Er beschrieb Homosexualität als „unausrottbare Eigenschaft vieler Menschen“, die zwar relativ selten, aber deswegen noch lange nicht „widernatürlich“ sei. Nach dieser Logik sei rotes Haar schließlich auch widernatürlich, weil es nicht so häufig wie braunes oder schwarzes Haar auftrete (vgl. Hiller, 1922, S. 6). Auch er verwies auf prominente Unterstützung seiner Forderungen.
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