Die Arbeit thematisiert die in Artur Schnitzlers Novelle "Fräulein Else" dargestellte Bewusstseinskrise und ihre psychischen und gesellschaftlichen Folgen. Arthur Schnitzler erschafft in seinem Werk ein Bewusstseinsprotokoll der titelgleichen Hauptfigur. In dem sozioökonomischen Wirkungszusammenhang der Novelle wird die Reinheit einer jungen Frau als gesellschaftliches Kapital einer Familie angesehen.
Um das Thema der Bewusstseinskrise überhaupt angehen zu können, bedarf es einer künstlerischen Darstellungsform der Erzählung, die es den Lesenden ermöglicht, am Bewusstsein der Figur teilzuhaben. Durch die Erzähltechnik des taktisch gewählten inneren Monologs bekommen die Lesenden exklusive Einblicke in Elses Gedanken- und Gefühlswelt, sowie die sozioökonomischen Einflüsse auf diese und die unmittelbare innere Reaktion. Die lesende Person kann sich als GedankenleserIn verstehen und befindet sich in einer Machtposition gegenüber den Figuren in der fiktiven Welt. Elses Handlungen erscheinen den Lesenden als gravierende Konsequenz der gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, hingegen werden sie in der fiktiven Welt als hysterisch empfunden. Eine Vielzahl von Widersprüchlichkeiten wie Traum-Realität, Leben-Tod, gutbürgerliche Tochter-Prostuierte spiegeln Elses gespaltenes Ich wider und entführen sie in die Bewusstseinskrise.
Der Titel Fräulein definiert Else als junge, unberührte Frau, die auf der einen Seite Männern gefallen soll, aber auf der anderen Seite sie nicht an sich heranlassen darf, um die Chancen auf dem Heiratsmarkt zu bewahren. Diese Bedingung eines Fräuleins wird jedoch auf eine harte Probe gestellt, als Else den Anblick ihres nackten Körpers zur Schau stellen muss, um ihren Vater vor dem Gefängnis zu bewahren. Dieses Dilemma fordert Elses psychisches Innenleben in einem hohen Maße heraus und mündet in einer Bewusstseinskrise.
Inhalt
1. Einleitung
2. Textstruktur
2.1. Der innere Monolog - Eine allgemeine Definition
2.2. Der innere Monolog in Fräulein Else
3. Die Bewusstseinskrise
3.1. Traum und Realität - die Selbstinszenierung des Wunsch-Ichs
3.2. Der Blickwechsel
3.3. Der Akt der Entblößung
3.4 Psychische und gesellschaftliche Konsequenzen
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Selten ist eine Frauenseele in ihren geheimsten Regungen so durchleuchtet worden.“1 Mit diesen Worten rezensiert Felix Salten 1924 in der Neue Freien Presse die Novelle Fräulein Else. Diese Aussage fasst den Kernpunkt der Novelle zusammen, denn Arthur Schnitzler er- schafft in seinem Werk ein „Bewusstseinsprotokoll“2 der titelgleichen Hauptfigur, die sich in „einer außerordentlichen sozialen Situation“3 befindet. In seinen Werken erscheinen die Frau- enrollen häufig determiniert als „Puppen in einem männlichen Welttheater.“4 In dem sozio- ökonomischen Wirkungszusammenhang der Novelle wird die Reinheit einer jungen Frau als gesellschaftliches Kapital einer Familie angesehen. Der Titel Fräulein definiert Else als junge, unberührte Frau, die auf der einen Seite Männern gefallen soll, aber auf der anderen Seite sie nicht an sich heranlassen darf, um die Chancen auf dem Heiratsmarkt zu bewahren.5 Diese Bedingung eines Fräuleins wird jedoch auf eine harte Probe gestellt, als Else den Anblick ih- res nackten Körpers zur Schau stellen muss, um ihren Vater vor dem Gefängnis zu bewahren. Dieses Dilemma fordert Elses psychisches Innenleben in einem hohen Maße heraus und mün- det in einer Bewusstseinskrise. Um das Thema der Bewusstseinskrise überhaupt angehen zu können, bedarf es einer künstlerischen Darstellungsform der Erzählung, die es den Lesenden ermöglicht, am Bewusstsein der Figur teilzuhaben. Durch die Erzähltechnik des taktisch ge- wählten inneren Monologs bekommen die Lesenden exklusive Einblicke in Elses Gedanken- und Gefühlswelt, sowie die sozioökonomischen Einflüsse auf diese und die unmittelbare inne- re Reaktion. Die lesende Person kann sich als GedankenleserIn verstehen und befindet sich in einer Machtposition gegenüber den Figuren in der fiktiven Welt. Elses Handlungen erscheinen den Lesenden als gravierende Konsequenz der gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, hinge- gen werden sie in der fiktiven Welt als hysterisch empfunden. Ihre „Wunsch- und Phantasie- vorstellungen […] werden mit den Gegebenheiten ihrer wirklichen Welt konfrontiert“6, die den Kontrast der Innen- und Außenperspektive Elses darstellen. Eine Vielzahl von Wider-sprüchlichkeiten wie Traum-Realität, Leben-Tod, gutbürgerliche Tochter-Prostuierte spiegeln Elses gespaltenes Ich wieder und entführen sie in die Bewusstseinskrise. Im Folgenden wird die Bewusstseinskrise als Spaltung des Ichs verstanden, die aufgrund der gesellschaftlichen und persönlichen Anforderungen an das Ich entstehen und schließlich zum inneren Konflikt führen. In der folgenden Arbeit möchte ich analysieren, in welcher Form Arthur Schnitzler die Bewusstseinskrise seiner Protagonistin realisiert. Dazu sollen die Besonderheiten des inneren Monologs erläutert werden, da dieser eine relevante Voraussetzung ist, um die psychischen Vorgänge zu durchleuchten. Im Hauptteil sollen anhand des inneren Monologs Elses Traum- und Realitätswelt gegenübergestellt werden und ihre Selbstinszenierungsversuche, der Blick- wechsel, ihre Entblößung und die gesellschaftlichen und psychischen Konsequenzen vorge- legt werden, die sie schließlich von der Bewusstseinskrise in die Bewusstlosigkeit überführen. Resümierend soll die Realisierung der Bewusstseinskrise reflektiert und bewertet werden.
2. Textstruktur
Arthur Schnitzler baut in seiner Erzählung eine Brücke zwischen der graphischen Darstellung des psychologischen Profils und der sozialen Beziehungen seiner Protagonistin7, dass der ana- lytische Blick in die Textkonstruktion offenbart. Diese Verbindung eines Psycho- und Sozio- gramms steigert die Authentizität des „Seelendramas.“8. Die Textstruktur verläuft nach Kron- berger auf zwei Sinnebenen synchron, denn dem „manifeste[n] Textinhalt“9 steht „Elses Irrita- tion und Interpretation“10 entgegen. Die Adressaten können auf der einen Seite die manifeste Handlungschronik11 durch die stattfindenden Dialoge mitverfolgen und auf der anderen Seite wird die Handlung nur mit dem Blick der Protagonistin12 interpretiert und eine subjektive Wahrnehmung ausgestrahlt. Elses Gefühls- und Gedankenwelt werden in Form von Selbstge- sprächen und imaginären Dialogen mit den tatsächlichen Begebenheiten konfrontiert und folglich eine Zusammenführung der inneren und äußeren Welt initiiert. Der Vergleich dieser zwei Welten lässt „die Diskrepanz zwischen dem, was in einer Welt sein müßte, und dem was tatsächlich ist, als Elses Erfahrung“13 einordnen, die das Leid der Heldin offenbart. Insofern wird der Begriff dem des inneren Monologs, laut Barbara Surowska nicht gerecht, da die Textstruktur mit einem inneren Zwiegespräch14 korrespondiert. Um alle Darstellungsformen, die im Werk repräsentiert sind, zu vereinigen, reformiert sie den Terminus des inneren Mono- logs zur „Bewußtseinsstromtechnik“15, der die Besonderheiten der erzählerischen Formen im Werk zusammenfasst. Dadurch wird deutlich, dass der innere Monolog in Fräulein Else eine essenzielle Relevanz für die Handlung hat. Schnitzler nutzt den inneren Monolog, um durch die Protagonistin Else die äußere Handlung subjektiv zu reflektieren und zu bewerten und gibt den Rezipienten nicht nur Einblicke in das abgründige Ich, sondern auch in die heimtückische Gesellschaft. Eine allgemeine Definition des inneren Monologs soll die Rahmenbedingungen erläutern und die Realisierung des inneren Monologs in Schnitzers Werk hervorheben.
2.1. Der innere Monolog - Eine allgemeine Definition
Der innere Monolog ist eine „direkte und nicht erkennbar durch den Erzähler vermittelte Form der Präsentation von Gedanken und anderen Bewusstseinsinhalten“16, die direkt von der Figur vermittelt werden. Syntaktisch werden assoziative Bilder aneinandergereiht, die sponta- ne Gedanken und Eindrücke der fiktiven Figuren darstellen und vom Standpunkt in der Erzäh- lung geprägt sind.17
2.2. Der innere Monolog in Fräulein Else
Die Darstellungsform des inneren Monologs erleichtert die Betrachtung der krisenhaften, psy- chischen Zuständen Elses, die sich im Spannungsbogen chronisch zuspitzen. Das Geschehen wird ohne Erzähler präsentiert und mit der Ausnahme von wenigen Dialogpassagen dominie- ren in dem Werk die reinen Gedankenreden Elses. Die Impulsivität, Spontanität, Affektivität und Unkontrollierbarkeit der Gedankenausbrüche sind vollkommen transparent, die die litera-rische Gestaltung eines dramatischen Psychodramas entfalten.18 Elses kompliziertes Seelenle- ben wird in seiner ganzen Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit dargestellt, welches bewuss- te, unbewusste und halbbewusste Impulse und Emotionen beinhaltet. Die psychische Krisen- situation19 Elses wird als Produkt, „einer vom Autor genau kalkulierten personalen Erzählstra- tegie“20 vorgeführt. Da der innere Monolog nur eine wahrgenommene Faktizität21 darstellt, entsteht eine Diskrepanz zwischen der Authentizität der literarischen Figur und der Verklä- rung der Wirklichkeit. Die Ermittlung des Verzerrungsmoments kann jedoch durch die statt- findenden Dialoge in Verknüpfung mit träumerischen Fantasien, bewertenden Gedanken und assoziativen Bildern vollzogen werden, die einen Bezug von der subjektiven Innenwelt zur objektiven Außenwelt herstellen lässt. Mit der Wahl einer intelligenten und selbstkritischen Protagonistin verwirklicht Schnitzler einen Anspruch auf einen selbstanalytischen inneren Monolog22, der die Persönlichkeitsentwicklung durch die Vereinigung des Bewusstseins mit dem Unbewusstem erfassen kann. Der innere Monolog bevollmächtigt nun die beurteilende Entwicklung von Elses Bewusstseinskrise, die sich aus ihrer inneren Ambivalenz und äußeren Ansprüchen fortschreitend entwickelt.
3. Die Bewusstseinskrise
Im Werk Fräulein Else wird der Grad der Literarizität durch die Verwendung von Alltagsspra- che reduziert23, doch diese Verwendung erlaubt die authentische Darstellung von Bewusst- seinsinhalten. Mit Momentaufnahmen seelischer Prozesse verwirklicht Arthur Schnitzler zeit- genössische Literaturkonzepte.24 Die belegte Einflussnahme Freuds Psychoanalyse auf Schnitzlers literarische Arbeit25 erlaubt es, von einer dargestellten psychischen Krise zu spre-chen. Der Blick in Elses Psyche ermöglicht den Rezipienten das Entschlüsseln von verborge- nen Abläufen, die bewusste und unbewusste Inhalte der Protagonistin offenbaren.26
Die Novelle wird in Elses Erfahrungen und Empfindungen gespiegelt und als Spiegelbild der Außenwelt27 vorgestellt, die die fiktive Figur durch die Innenperspektive durchschaubar macht.28 Else wird als poetische, junge Dame präsentiert, die dazu prädestiniert ist, in eine „verklärte Traumwirklichkeit“29 zu flüchten, jedoch gelingt ihr eine absolute Isolation nicht. Sie wird mit der widersprüchlichen Realität konfrontiert, die ihre morbide Persönlichkeits- struktur zunehmend spalten. Die materielle Not30 und die Zuspitzung der finanziellen Proble- me ihrer Familie, die durch die Veruntreuung von Mündelgeldern ihres Vaters auf den Höhe- punkt gebracht wird, verwehren Else ein autonomes Leben. Ihr bleibt nur die Wahl „Herrn Wilomitzer heiraten oder mich von Ihnen aushalten lassen?“31 Joachim Heimerl bringt es auf den Punkt: „Ehe oder Prostitution.“32 Um ihren Vater aus dem Gefängnis retten zu können und die Ehre ihrer Familie wieder herstellen zu können, muss sie den Anblick ihres nackten Körpers verkaufen. Aus dieser Ausweglosigkeit erprobt Else Fluchtversuche, die auch ihre Todessehnsucht hervorbringen. Der theatralische Abschied vom Tennisspiel am Anfang der Novelle kann als Vorausdeutung im Rahmen eines symbolischen Abschieds vom Leben gese- hen werden.33 Der sozio-historische Rahmen der Erzählung, der von ökonomischer Unsicher- heit und tradierter Wertvorstellung geprägt ist, dient als Hintergrund und als Auslöser für El- ses Bewusstseinskrise. Schnitzler präsentiert sie als Opfer „der moralisch korrupten, repressi- ven Jahrhundertwendegesellschaft.“34 Mit dem Empfang des Briefes ihrer Mutter und der Bit- te Dorsday nach Geld zu fragen, beginnt der Konflikt des Seelendramas.35
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1 Scheffel, Michael (2015): Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S.94.
2 Ebd., S.97.
3 Ebd.
4 Gutt, Barbara (1978): Emanzipation bei Arthur Schnitzler. Berlin: Spiess. S.31.
5 Vgl. Jürgensen, Christoph/Lukas, Wolfgang/Scheffel, Michael (Hrsg.) (2014): Schnitzler Handbuch. Leben- Werk-Wirkung. Stuttgart [u.a.]: Metzler, S.224f.
6 Surowska, Barbara (1990): Die Bewußtseinsstromtechnik im Erzählwerk Arthur Schnitzlers. Warszawa: Wydział Neofilologii UW, S.215.
7 Vgl. Scheffel (2015), S.97.
8 Surowska (1990), S.193.
9 Kronberger, Silvia (2002): Die unerhörten Töchter- Fräulein Else und Elektra und die gesellschaftliche Funkti- on der Hysterie. Innsbruck [u.a.]: Studien-Verl., S.163.
10 Ebd., S.166.
11 Vgl. Surowska (1990), S.193.
12 Vgl. Ebd., S.214.
13 Surowska (1990), S.216.
14 Vgl. ebd., S.218.
15 Ebd. S.217.
16 Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moennighoff, Burkhard (Hrsg.) ([1984]; ³2007): Metzler Lexikon Lite- ratur. Begriffe und Definitionen. 3. völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler. S.349f.
17 Vgl. ebd.
18 Vgl. Neymeyr, Barbara (2007): Fräulein Else. Identitätssuche im Spannungsfeld von Konvention und Rebelli- on. In: Kim, Hee-Ju/Saße, Günther (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, S. 190ff.
19 Vgl. ebd.
20 Ebd.
21 Vgl. Aurnhammer, Achim (2013): Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin [u.a.]: De Gruyter. S.189.
22 Surowska (1990), S.194.
23 Vgl. Burdorf/Fasbender/Moennighoff (2007), S.445.
24 Vgl. Neymeyr (2007), S.191.
25 Vgl. Lange-Kirchheim, Astrid (1999): Die Hysterikerin und ihr Autor. Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else im Kontext von Freuds Schriften zur Hysterie. In: Anz, Thomas (Hrsg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg: Königshausen & Neumann, S.112.
26 Vgl. Perlmann, Michaela L. (1987): Arthur Schnitzler. Stuttgart: Metzler (Reihe Sammlung Metzler 239), S. 134.
27 Vgl. ebd., S.136.
28 Vgl. ebd.
29 Aurnhammer (2013), S.201.
30 Vgl. Heimerl, Joachim (2012): Arthur Schnitzler. Zeitgenossenschaft der Zwischenwelt. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang, S58.
31 Schnitzler, Arthur (1924): Fräulein Else. In: Bie, Oskar/Fischer, S./Saenger, S. (Hrsg.): Die Neue Rundschau. XXXV. Jahrgang der freien Bühne. Berlin und Leipzig: S. Fischer Verlag, S.1028.
32 Heimerl (2012), S.59.
33 Vgl. Neymeyr (2007), S.198f.
34 Perlmann (1987), S.144.
35 Vgl. Surowska (1990), S.197.