Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, die Passage Lk 4,16–22c genauer zu betrachten und die Bedeutung der Armen in dieser Perikope zu entdecken.
Als erster Schritt wurde der griechische Text ins Deutsche übersetzt und analysiert. Darauf werden einige Überlegungen zum Kontext aufgeworfen, in dem der Text entstand, mit einer besonderen Aufmerksamkeit auf die redaktionellen Ausarbeitungen des dritten Evangelisten. Der anschließende Arbeitsabschnitt nennt die Gründe dafür, warum die Perikope auf 6 Verse limitiert ist. Der nun folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem Hauptziel dieser Arbeit, nämlich, dem Thema Armut und Reichtum in der Perikope Lk 4,16 – 22c mit Blick auf das gesamte Evangelium und die Apostelgeschichte. Hier werden die einzelnen Verse interpretiert und kommentiert.
Der Evangelist Lukas stellt Jesus in seinem Evangelium als Retter der sozial Unbeachteten dar. Das Gottesbild Jesu bezieht sich auf einen Gott, der auch die Armen, Niedrigen, und die Sünder inkludiert. Das Lukasevangelium überliefert viel Stoff, der das Thema Armut und Reichtum umfasst, und aus diesem Grund wird es sogar oft als das Evangelium der Armen oder für die Armen betrachtet. Dieses Thema ist ein wesentliches Element des lukanischen Doppelwerks. Besonders drückt die Nazareth-Episode die heilbringende Botschaft für die Armen und Niedrigen aus.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Übersetzung
3. Diachrones Profil
3.1 Die Datierung
3.2 Der Adressat
3.3 Redaktion des Textes
4. Einordnung der Perikope in den Kontext
5. Abgrenzung des Textes
6. Form und Struktur
7. Armut und Reichtum bei Lukas
Vers–für–Vers Analyse
8. Schlusswort
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
1. Einführung
Der Evangelist Lukas stellt Jesus in seinem Evangelium als Retter der sozial Unbeachteten dar. Das Gottesbild Jesu bezieht sich auf einen Gott, der auch die Armen, Niedrigen, und die Sünder inkludiert.
Das Lukasevangelium überliefert viel Stoff, der das Thema Armut und Reichtum umfasst, und aus diesem Grund wird es sogar oft als das Evangelium der Armen oder für die Armen betrachtet. Dieses Thema ist ein wesentliches Element des lukanischen Doppelwerks. Besonders drückt die Nazareth-Episode die heilbringende Botschaft für die Armen und Niedrigen aus. Und dieses Ziel bringt der Evangelist zum Ausdruck dadurch, dass Jesus selber ankündigt, wofür er ausgesandt ist.
Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, die Passage Lk 4,16–22c genauer zu betrachten und die Bedeutung der Armen in dieser Perikope zu entdecken. Als erster Schritt wurde der griechische Text ins Deutsche übersetzt und analysiert. Darauf werden einige Überlegungen zum Kontext aufgeworfen, in dem der Text entstand, mit einer besonderen Aufmerksamkeit auf die redaktionellen Ausarbeitungen des dritten Evangelisten. Der anschließende Arbeitsabschnitt nennt die Gründe dafür, warum die Perikope auf 6 Verse limitiert ist. Der nun folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem Hauptziel dieser Arbeit, nämlich, dem Thema Armut und Reichtum in der Perikope Lk 4,16 – 22c mit Blick auf das gesamte Evangelium und die Apostelgeschichte. Hier werden die einzelnen Verse interpretiert und kommentiert.
2. Übersetzung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3. Diachrones Profil
Der Handlungsort der zu bearbeitenden Perikope ist eine Synagoge. Um ein genaueres Verständnis zu gewinnen, ist es hilfreich, die Überlegungen auf den historischen Kontext zu richten. Drei Aspekte sind hier besonders wichtig: Die Datierung und der Adressat des Evangeliums, den Synagogenkult der Juden zurzeit Jesu und die Bearbeitung der Quellen durch den Evangelisten.
Man kann die wahrscheinliche Ordnung eines Synagogendienstes im ersten Jahrhundert rekonstruieren. Er sah aus wie folgt: a) Die Zitierung des Schema Israels1 und des Shemoneh Esreh s2 ; b) Lesungen aus dem Pentateuch und den Propheten; c) Gebet; d) eine Predigt durch eine kompetente Person, insbesondere einen Priester oder Rabbiner auf Besuch; und e) Abschluss mit dem aronitischen Segen3. Der Vorleser des Tages wurde vom Präsidenten der Synagoge vor Beginn des Gottesdienstes ernannt. Obwohl es jedoch nicht sicher ist, ob es einen festen Abschnitt zu lesen gab, oder ob der Vorleser einen Abschnitt frei wählen konnte,4 sind einige Autoren der Meinung, dass die Lesungen aus dem Pentateuch fortlaufend gelesen wurde und die Lesung aus den Prophetenbücher der Vorleser frei wählen konnte.5 In der lukanischen geht es nur um die Lesung und die dann folgende Predigt.
Eine andere Bemerkung bezieht sich auf den Synagogendiener, der in V 20b erwähnt wird, dem Jesus die Buchrolle zurückgibt. Zurzeit Jesu gab es drei Synagogenbeamte: den Präsidenten, den Ältesten bzw. Priester und den Diener. In der dritten Anmerkung über den Synagogengottesdienst geht es darum, dass die Schriftlesung stehend erfolgen musste, während die Predigt sitzend gehalten wurde, was Jesu Aktionen in der Synagoge erklärt.6
3.1 Die Datierung
Der terminus a quo für die Datierung des Lukas wird allgemein als der Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. angesehen.7 Die Narrative der Ankündigung vom Zerfall des Tempels und Jerusalems sprechen dafür. Der terminus ad quem ist aber schwierig zu bestimmen. Barbara Shellard geht davon aus, dass die Lk–Apg, mit ihrer positiven Einstellung zu Rom, dem letzten Teil der Herrschaft Domitians vorausgehen muss, da es ab 89 bis 96 n.Chr. zur Verfolgung gegen Juden und Christen kam. Und aufgrund der Tatsache, dass Polycarp in seiner Epistel an die Philipper die Apg erwähnt, kann die Lk-Apg nicht später als 95-100 verfasst worden sein.8 Der erste Teil des lukanischen Doppelwerks müsste um 80 n.Chr. entstanden sein.9
3.2 Der Adressat
Obwohl sich die beiden Werke von Lukas an Theophilus richten, ist in diesem Teil der Arbeit von implizierten Adressaten die Rede. Das Lukasevangelium wird oft als das Evangelium für die Heiden bezeichnet, und die Erlösung der Heiden ist von Anfang an ein wichtiges Thema (Lk 2,32; 3,6). Aus diesem Grund, wie Paul-Gerhard Müller meint, lässt der dritte Evangelist viele Erzählungen aus Mk, die an das jüdische Volk angerichtet waren, weg oder formuliert sie um.10 Lukas hatte sicher das hellenistische Volk im Blick, zu mindestens die zum Christentum bekehrten Heiden, angesichts der Tatsache, dass Theophilus selbst kein Jude war.
3.3 Redaktion des Textes
Interessanterweise kann man das Nomen πλοῦτος im Lukasevangelium nur einmal sehen (Lk 8,14). An anderer Stelle kommen die Adjektive πλούσιος und πτωχός vor. Und ausgehend von der Tatsache, dass diese Begriffe niemals auch in der Apostelgeschichte vorkommen, lässt es sich behaupten, dass die im dritten Evangelium entgegengesetzten Begriffe von Reichtum und Armut nicht in Lukas ihren Ursprung haben, sondern sie stammen aus der vorlukanischen Tradition.11
Lukas hat wahrscheinlich Mk 6,1–2 als Quelle für die Verfassung des Abschnitts 4,16–22c benutzt. Aber die redaktionelle Arbeit von Lukas ist hier klar bemerkbar besonders durch das Vorlesen des Jesajatextes. So wollte Lukas das Kommen Jesu als die Erfüllung der Propheten und damit auch des AT gleich am Anfang des äußeren Wirkens Jesu darstellen. In Mk und Mt gibt es nur ein διδάσκειν in der Synagoge. Aber Lukas arbeitet diese Perikope aus, fügt die Prophetenworte hinzu, was zur Selbstbezeugung Jesu führt.12
Es ist sicher, dass der Evangelist Lukas sich nicht für einen chronologisch korrekten Bericht interessiert. Lk 4,23 zeigt, dass Jesu schon zahlreiche Taten gewirkt hat, bevor er nach Nazareth kam.13 In diesem Sinne steht die Nazareth-Rede nicht vor dem Beginn von Jesu Wirken, wenn man es chronologisch betrachtet. Aber weil für Lukas die Darstellung seiner Theologie bedeutsam ist, befindet sich dieser Abschnitt zu Beginn des Wirkens Jesu.
4. Einordnung der Perikope in den Kontext
Das Lukasevangelium lässt sich in 3 Blöcken unterteilen, wie es z.B. Walter Radl macht: Das Vorwort (1,1–4), die Vorgeschichte (1,5–2,52) und der Hauptteil (3,1–24,53). Der Hauptteil kann wohl noch in 3 Teilen untereilt werden: Die Vorbereitung des Auftretens Jesu (3,1–4,13), das Wirken Jesu (4,14–21,38) und das Leiden und die Herrlichkeit Jesu (22, –24,53).14 Die Teile der Vorbereitung und des Wirkens kann man besondererweise mit dem Verb „kommen“ verbinden, obwohl unterschiedliche Wortstämme an beiden Stellen verwendet wird.15 Das Kommen von Jesus nach Nazareth in Lk 4,16 ist auf dem Hintergrund der Vorhersage von Johannes dem Täufer über das Kommen Jesu in 3,16 zu betrachten.16 In 4,16–22 erweist sich Jesus als der von Gott gesalbte und ausgesandte Christus, der sein Wort an die Armen, Blinden und Gefangenen richten wird, um sie aufzurichten.
5. Abgrenzung des Textes
Dass der Vers 17 den Anfang einer neuen Perikope charakterisiert, lässt sich hauptsächlich am Ortswechsel sehen. Der vorausgehende Abschnitt berichtet von Jesu Wirken in Galiläa, während V17 das Kommen Jesu in Nazareth anzeigt.
Außerdem wird die Abgrenzung des Textes von dem vorherigen Abschnitt durch die Verwendung anderer Verben impliziert. Während das Wort ὑπέστρεψεν (V14) für die Bewegung Jesu zu einem anderen Ort benutzt wird, verwendet dieser Abschnitt das Verb ἦλθεν. Auch liegt der Unterschied im Tun Jesu in der Synagoge: Im V15 kommt das Verb ἐδίδασκεν vor, das das Lehren Jesu unterstreicht. Aber was Jesus in unserer Perikope tut, ist nicht lehren, sondern die Schrift lesen: ἀναγνῶναι. Dieser Wechsel in den Verben impliziert auch den Szenenwechsel in beiden Perikopen.17
[...]
1 Schema Jisrael sind die ersten beiden Worte des Abschnitts Deut 6,4–9 und ist auch der Titel eines Gebetes, das als Kernstück der jüdischen Morgen- und Abendgebete dient.
2 Shemoneh Esreh oder Amidah besteht aus neunzehn Segnungen, die in den jüdischen Gottesdiensten rezitiert werden sollen.
3 Der Aaronische Segen ist der Segen, den Aaron und seine Söhne über das Volk Israel sprechen sollten, wie in Num 6,24–26 steht.
4 Vgl. PATE, C. Marvin, Luke, Chicago 1995, 118–119.
5 Vgl. STÖGER, Alois, Das Evangelium nach Lukas, Düsseldorf 51990 (= GS.NT 3/1), 134.
6 Vgl. Pate, Luke, 121.
7 Vgl. DODD, C H, More New Testament Studies, Manchester 1968, 69; SHELLARD, Barbara, New Light on Luke: Its Purpose, Sources and Literary Context, London – New York 2002, 23.
8 Vgl. Schellard, New Light on Luke, 23.
9 Vgl. MÜLLER, Paul-Gerhard, Lukas–Evangelium, Stuttgart 1984 (= SKK–NT 3), 20.
10 Vgl., Ebd., 19.
11 Vgl. KRAMER, Helga, Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um „Armut und Reichtum“ und den „Umgang mit materiellen Gütern“: Eine überlieferungsgeschichtliche und diskurskritische Untersuchung zur Besitzethik des Lukasevangeliums unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Sonderguts, Tübingen 2015 (= NET 21), 20.
12 Vgl. GLÖCKNER, Richard, Die Verkündigung des Heils beim Evangelisten Lukas, Bonn 1974, 54.
13 Vgl., Ebd., 53.
14 Vgl. RADL, Walter, Das Lukas–Evangelium, Darmstadt 1988 (= EdF 261), 48.
15 In Lk 3,16 kommt das Wort ἔρχεται vor, aber in Lk 4,16 ἦλθεν.
16 Vgl. MÄRZ, Claus-Peter, Das Wort Gottes bei Lukas: Die lukanische Worttheologie als Frage an die neuere Lukasforschung, Leipzig 1974 (= EThSchr 11), 41.
17 Vgl. SHIN, Gabriel Kyo-Seon, Die Ausrufung des endgültigen Jubeljahres durch Jesus in Nazareth: Eine historisch-kritische Studie zu Lk 4,16–30, Bern u.a. 1989 (= EH 378), 13.