In dieser Ausarbeitung soll explorativ die Wirkung von Selbstverletzungsnarben im Kontext sozialer Interaktionen verfolgt beziehungsweise nach einer literaturtheoretischen Auseinandersetzung mit der Narbe als ‚Reminder‘, Wegweiser und Stigmasymbol das methodische Vorgehen beziehungsweise Forschungsdesign zu der Frage skizziert werden, inwieweit durch nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten entstandene Narben in privaten und beruflichen sozialen Alltagssituationen aus Sicht von Betroffenen als Stigmasymbol empfunden werden und wie sich das Vorhandensein dieser Narben und gegebenenfalls stattfindende (Selbst-)Stigmatisierungsprozesse auf das Erleben und Handeln der Betroffenen in sozialen Interaktionen über die Lebensspanne hinweg auswirken. Es handelt sich um eine literaturtheoretische Ausarbeitung mit skizzenhafter Beschreibung einer fiktiven empirischen Untersuchungsplanung.
Die Haut verweist somit auf Vergangenheit und Zukunft. Als "Vermittler zwischen Innen und Außen, von Ich und Umwelt und umgekehrt" (Bidlo 2010) beeinflusst sie wesentlich die Wirkung eines Menschen und prägt demzufolge auch dessen Selbstwertgefühl. Wenn die Haut als "identity card" (Connor 2001) und (Zeit-)Zeuge gelten kann, inwieweit beeinflussen Selbstverletzungsnarben soziale Interaktionen? Was lösen diese Narben aus, einerseits im Kontext einer Zeit, in der das Bewusstsein für Ästhetik geschärft ist und das Ideal des makellosen, medial präsentierten Körper herrscht, andererseits hinsichtlich der Tatsache, dass diese Narben von gewaltvollen Handlungen gegen den Körper der ausführenden Person zeugen, von Wut, Rage, einem symbolischen Angriff und somit von Ausdrucksformen, welche der Entwicklung zunehmender Affektkontrolle im Zuge des Zivilisationsprozesses diametral entgegenstehen.
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitende Bemerkungen zum Forschungsgegenstand und zurForschungsfrage
2.SoziologischeBetrachtungderSelbstverletzungsnarbe
2.1 Die soziale (Be-)Deutung der Narbe und ihr Verhältnis zu NSSV
2.2 Die Narbe als Stigmasymbol
3. MethodischesVorgehen
3.1 Vorannahmen und methodologische Überlegungen
3.2 Das Forschungsdesign – ein Überblick
3.3 Episodische Interviews mit Betroffenen
3.4 Sampling
3.5 Analyse
4.Fazit
5. Literaturverzeichnis
1.EinleitendeBemerkungenzurForschungsgegenstandundzurFor-schungsfrage
„The skin is a soft clock, which we wind up whenever we mark it; and when we mark the skin, and await its healing, we can make time run backwards. No other feature of our physical lives offers so magical a promise of reversibility. […] So the skin is nothing but time, and yet, because the skin marks time, and can even reverse it, it can sometimes seem, like us, to be at odds with time, and therefore on our side against it.“ (Connor 2001: 46).
Die Haut verweist somit auf Vergangenheit und Zukunft. Als „Vermittler zwi-schen Innen und Außen, von Ich und Umwelt und umgekehrt“ (Bidlo 2010:40) beeinflusst sie wesentlich die Wirkung eines Menschen und prägt demzu- folge auch dessen Selbstwertgefühl (vgl. Bildo 2010: 40). Wenn die Haut als „identity card“ (Connor 2001: 44) und (Zeit-)Zeuge gelten kann, inwieweit beeinflussen Selbstverletzungsnarben soziale Interaktionen? Was lösen die- se Narben aus, einerseits im Kontext einer Zeit, in der das Bewusstsein für Ästhetik geschärft ist (vgl. Reinholz et al. 2015: 2113) und das Ideal des ma- kellosen, medial präsentierten Körper herrscht (vgl. Klein 2010: 459 f.), ande- rerseits hinsichtlich der Tatsache, dass diese Narben von gewaltvollen Hand- lungen gegen den Körper der ausführenden Person zeugen, von Wut, Rage, einem symbolischen Angriff (vgl. Pickard 2015: 83) und somit von Aus- drucksformen, welche der Entwicklung zunehmender Affektkontrolle im Zuge des Zivilisationsprozesses (vgl. Elias 1977) diametral entgegenstehen. (Wie) verändern sich Konstruktionen, Zuschreibungen, gegebenenfalls Stigmatisie- rungsprozesse hinsichtlich der Narben und ihrer (Be-)Deutungen über die Lebensspanne hinweg? Bisherige wissenschaftliche Untersuchungen schei- nen weniger die soziale Konstruktion und Wirkung der Selbstverletzungsnar- be zu behandeln, als in erster Linie das Phänomen der selbstverletzenden Handlung, das Verhalten zu untersuchen, von dem laut Brunner et al. (2014:346) jede vierte jugendliche Person in Europa im Laufe des Lebens gelegent- lich oder regelmäßig betroffen ist und welches somit nicht als Einzelfall an- anzusehen ist. Wie Chandler, Myers und Platt (2011) verdeutlichen, widmet sich ein Großteil der vorhandenen Studien individuellen Ursachen, nur wenige Forschungsarbeiten beziehen sozioökonomische Hintergründe, soziale Disparitäten, Machtgefälle und den Einfluss gesellschaftlicher Kontexte ein.
Derlei Bezüge thematisiert beispielsweise Pickard (2015), indem sie soziale Ungleichheiten, insbesondere die (sozioökonomische) Benachteiligung von Frauen sowie die gesellschaftliche Forderung nach Gefühlsunterdrückung kritisiert und als Ursache für auf sich selbst gerichtete Gewalt in Form selbst- verletzenden Verhaltens benennt. Hodges (2004) analysiert das (soziale) Lernen nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhaltens (NSSV) und Stigma- Management-Techniken von Betroffenen. Des Weiteren betrachten Aldler und Adler (vgl. 2007: 537 ff.) den Wandel von einer psychopathologisch- psychiatrischen Sicht auf Selbstverletzungen im Kontext psychischer Erkran- kungen hin zu einer soziologischen, gesellschaftliche Bedingungen einbezie- henden Perspektive im Zuge einer Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre wachsenden Betroffenenpopulation, die durch zunehmende Variabilität gekennzeichnet ist. Diesbezüglich sei die Tendenz zu erkennen, dass Per- sonen, die NSSV ausüben, im Zuge des Prozesses einer „demedicalization“(Adler und Adler 2007: 537) – wonach nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) zunehmend als deviantes, zwar nicht normalisiertes, je- doch weithin bekanntes, „persistierendes ungewöhnliches Verhalten [Über- setzung durch Verfasserin]“ (Adler und Adler 2007: 561) gelte – zunehmend weniger Stigmatisierung ausgesetzt seien. Millard (vgl. 2015: 2 ff.) macht in- des auf eine weitere Entwicklung aufmerksam, die unter anderem im Zuge neoliberaler, gesellschaftlicher Veränderungen hin zur Individualgesellschaft dazu führe, selbstverletzendes Verhalten derzeit aus einem neurologischen Blickwinkel als emotionsregulierende, internale Bewältigungsstrategie anzu- sehen, welche dazu diene, Spannungen und Unsicherheiten in der postmo- dernen Gesellschaft zu verarbeiten – die kommunikative Bedeutung rücke somit (wieder) in den Hintergrund. Doch insgesamt scheint die soziale Be- deutung der aus NSSV resultierenden, (möglicherweise) irreversibel beste- henden Narbe in sozialen Alltagssituationen insgesamt weniger thematisiert worden zu sein. Insbesondere mögliche Veränderungsprozesse über die Le- bensspanne der betroffenen Personen hinweg scheinen diesbezüglich bisher kaum im Vordergrund gestanden zu haben. Eine der wenigen Arbeiten zu den Auswirkungen von NSSV-Narben auf das Leben der gezeichneten Per- sonen stammt von Chandler (2014), wobei der Umgang mit Narben innerhalb der generierten Erzählungen angerissen, die kommunikative Bedeutung von Chandler hervorgehoben, doch (Selbst-)Stigmatisierung und deren Auswir- kungen nicht explizit fokussiert beziehungsweise hinsichtlich des sozialen Settings nicht situativ erfasst wurde(n).
Die grundsätzliche Idee, subjektive Bedeutungen und (Nach-)Wirkungen von Selbstverletzungsnarben im sozialen Kontext zu thematisieren, entsprang ursprünglich einem Brainstorming hinsichtlich sekundärer Devianz (Kapitel 2.2) und sekundärer Viktimisierung1. Allmählich formte sich in dem Zuge eine bezüglich der vorliegenden Ausführungen übergeordnete Frage nach Ge- meinsamkeiten und Unterschieden zwischen möglichen (Selbst-)Stigmatisierungs- sowie Diskriminierungsprozessen und deren Auswirkun- gen auf Personen, denen eine psychische Erkrankung zugeschrieben wird (vgl. Aydin und Fritsch 2015) und der sekundären Viktimisierung hinsichtlich der Opfer von Straftaten – insbesondere im Hinblick auf Pickards (2015) Leseart von selbstverletzendem Verhalten als Form von autoaggressiver Gewalt, bei der ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ eins sind. Innerhalb der vorliegenden Ar- beit wird der genannte übergeordnete Rahmen jedoch nicht im Fokus stehen. Nachfolgend soll lediglich explorativ die Wirkung von Selbstverletzungsnar- ben im Kontext sozialer Interaktionen verfolgt beziehungsweise nach einer literaturtheoretischen Auseinandersetzung mit der Narbe als ‚Reminder‘, Wegweiser und Stigmasymbol das methodische Vorgehen beziehungsweise Forschungsdesign zu der Frage skizziert werden, inwieweit durch nichtsuizi- dales selbstverletzendes Verhalten entstandene Narben in privaten und be- ruflichen sozialen Alltagssituationen aus Sicht von Betroffenen als Stigmasymbol empfunden werden und wie sich das Vorhandensein dieser Narben und gegebenenfalls stattfindende (Selbst-)Stigmatisierungsprozesse auf das Erleben und Handeln der Betroffenen in sozialen Interaktionen über die Lebensspanne hinweg auswirken. Um sich der geplanten Untersuchung anzunähern, wird im Folgenden die Funktion der Selbstverletzungsnarbe und ihre Verknüpfung mit dem zugrundeliegenden selbstverletzenden Verhalten im Allgemeinen betrachtet und im Anschluss auf Goffmans (vgl. 1990: 60, englische Originalauflage 19632 ) Ausführungen zum Stigma sowie auf das Konzept der sekundären Devianz (vgl. Lemert 2016), der Selbststigmatisie- rung (vgl. Vogel 2006; Goffman 1990) und auf die von Hodges (2004) her- ausgearbeiteten Methoden des Stigma Managements bezüglich NSSV Be- zug genommen. Grundsätzlich wird im Rahmen der folgenden Ausführungen davon ausgegangen, dass es nicht in der Verantwortung des stigmatisierten Menschen liegt, Wege zu suchen, „anderen [zu] helfen […], ihm gegenüber taktvoll zu sein“ (Goffman 1990: 147), sondern die im Folgenden beschriebe- ne Untersuchung soll dazu verhelfen, einerseits Einblicke in das Erleben Be- troffener Personen in Deutschland zu erhalten, um zu erfahren, ob sich Be- troffene in sozialen Interaktionen stigmatisiert und/oder durch ihre Narben (negativ) beeinflusst fühlen oder ob wie Millard (2015) beschreibt, wenig(er) Stigmatisierung festzustellen ist und/ob sich dies im Verlauf des Lebens der Betroffenen verändert.
2.Soziologische Betrachtung der Selbstverletzungsnarbe
2.1 Die soziale (Be-)Deutung der Narbe und ihr Verhältnis zu NSSV
Sich Selbstverletzungsnarben zu widmen impliziert augenscheinlich, das zu- grundeliegende nichtsuizidale selbstverletzende Verhalten3 (NSSV) zu be- leuchten. Selbstverletzungen können viele und auch sozial akzeptierte For- men annehmen, wie Piercings oder Tätowierungen (vgl. Petermann und Nitkowski 2008: 1017). Abseits von psychiatrischen Definitionen im Kontext der im medizinischen Klassifikationssystem ICD-10 aufgeführten Kriterien für ‚Psychische und Verhaltensstörungen‘, die bereits aufgrund ihrer Begrifflich- keit die Verbindung zu gesellschaftlich institutionalisierten Normen und Nor- malismen verdeutlichen (vgl. Kardorff 2016: 20), kann pathologisches und somit sozial unangemessenes NSSV (vgl. Petermann und Nitkowski 2008: 1017) in aller Kürze als „intentional injury to the outside of the body, mainly through cutting, but including scratching, burning, biting, or hitting“ (Chandler et al. 2011: 99) beschrieben werden, wobei sich im Rahmen der vorliegen- den Ausführungen auf das Schneiden mit scharfen Gegenständen bezogen wird. NSSV ist nicht Ausdruck eines Todeswunsches und stellt keinen Selbstmordversuch dar (vgl. Pickard 2015: 75; Hodgson 2004: 164). Pickard (vgl. 2015: 75) macht jedoch darauf aufmerksam, dass den Betroffenen ihre Intention oftmals selbst nicht klar ist, was dazu führen kann, dass der Tod in Kauf genommen oder riskiert wird, auch wenn die Herbeiführung des Todes nicht das anvisierte Ziel darstellt.
Trotz der offensichtlichen Verknüpfung, soll hier im Weiteren der Versuch unternommen werden, die Selbstverletzungsnarbe vom Vorgang und Symptom/Erkrankung der Selbstverletzung weitestgehend zu trennen, da hier nicht die Ätiologie und Umstände bezüglich NSSV untersucht werden sollen und die Zuschreibung einer psychischen Erkrankung im psychiatrisch-diagnostischen Sinne zum Zeitpunkt der hier beschriebenen Untersuchung hinsichtlich der Teil- nehmer*innen nicht (mehr) zwingend zutreffend ist, denn es sollen Personen interviewt werden, welche mindestens ein Jahr keine selbstverletzende Handlung mehr ausgeführt haben (Kapitel 3.4). Im Fokus der vorliegenden Ausführungen stehen die (Außen-)Wirkung und subjektiven Bewertungen interaktionistischer Prozesse bezüglich Narben, welche als Zeichen verheilter physischer Wunden (vgl. Weitz 2011: 192) gelten können. Hier wird sich im Speziellen auf durch NSSV entstandene Schnittwunden bezogen, welche im Auge der Betrachtenden vermutlich aufgrund ihres charakteristischen Musters (vgl. Reinholz et al. 2015: 2113) und ihrer Position an oftmals leicht erreich- baren Stellen wie an den Extremitäten (vgl. Guertler et al. 2018: 241) mit dem Akt der Selbstverletzung verknüpft und unter Umständen, wie auch in Weitz‘ Untersuchung von Betroffenen, als „markers of stigma and shame“ (2011: 201) bewertet werden (vgl. auch Guertler 2018: 242) – wobei nicht die Narben, sondern die Quelle (source) beziehungsweise die Ursache der Nar- ben das schamauslösende, stigmatisierende Phänomene darstellt, nämlich NSSV (vgl. Weitz 2011: 202). Die Existenz einer Narbe steht demnach für etwas ‚Anderes‘, für eine als deviant bewertete Handlung. Diese Handlung – und demzufolge die aus ihr resultierende Narbe – wird wiederum mit psychi-schen Erkrankungen, einem gesellschaftlich negativ bewerteten Stigma, in Verbindung gebracht (vgl. Guertler et al. 2018: 242, Kapitel 2.2). Die Bewer- tung der Narbe und die Verknüpfung mit der vorausgehenden, unter Um- ständen Jahre zurückliegenden devianten, selbstverletzenden Handlung oder nicht mehr diagnostizierbaren psychischen Erkrankung wird sozial konstruiert und bewertet – so wie die soziale Wirklichkeit im Zuge von Interpretations- und Aushandlungsprozessen grundsätzlich erschaffen wird (vgl. Kergel 2018:46 f.) So basiert auch die Wahrnehmung von Körpern, wie auch die Körper- praxis, Körperhaltung etc. im Sinne des Sozialkonstruktivismus‘ auf gesell- schaftlichen (Macht-)Strukturen (vgl. Gugutzer 2015: 49). So kann laut Weitz die Bedeutung einer Narbe in ihrer Verbindung zur zugrundeliegenden Hand- lung im Sinne eines ‚Einschnitts‘, einer das Leben teilenden und verkörperten Erinnerung gesehen werden:
„scars signal the body’s ability to survive and heal from trauma and pain. Thus, scars inevitably proclaim both the vulnerability [Hervorhebung im Original] and the resilience [Hervorhebung im Original] of the body and the individual. Moreover, although scars may fade, be altered surgically, or be covered by tattoos, most remain for a lifetime, dividing lives into “before” and “after” and regularly reminding individuals of the scarring event.“ (Weitz 2011: 193)
Zum Einen dient die Narbe somit als Hinweis auf die Existenz jenes voran- gegangenen ‚Events‘ und stellt zudem eine Bestätigung für die Beschreibung der Haut als eine Uhr dar, welche nach Connor (vgl. 2001: 46) die Zeit rück- wärts laufen lassen kann. Sie ist in diesem Kontext auch im Hinblick auf Be- trachter*innen ein ‚Verräter‘ bezogen auf ein früheres Selbst, das „mit dem für die Gegenwart beanspruchten [Selbst] nicht kompatibel ist“ (Hahn 2016:63 f.). Narben können somit Botschaften senden, welche „die aktuelle Be- hauptung einer geachteten gegenwärtigen Identität desavouieren. […] Der Körper fungiert hier gleichsam als ein auf die Haut geschriebenes Geheimar- chiv“ (Hahn 2016: 63 f.) und „permanentes Protokoll der Vergangenheit [Übersetzung durch Verfasserin]“ (Bond 2018:39). Menschen, die sich selbst verletzen versuchen jedoch aufgrund des sozialen Drucks ‚normal‘ zu er- scheinen und verstecken oftmals ihre Verletzungen (vgl. Hodges 2004: 177), halten das Geheimarchiv unter Verschluss. Werden die sichtbaren Hinweise auf Devianz, wie beispielsweise Narben (unabhängig von ihrer Ätiologie), unbeabsichtigt öffentlich sichtbar, lösen sie oftmals Scham aus (vgl. Hahn 2016: 64). Hahn stellt fest: „Je unübersehbarer solche Einbrüche der Ver- gangenheit ins interaktive Hier und Jetzt sind, desto massiver vergiften sie die unmittelbare Atmosphäre“ (2016: 64) und im Fall von Stigmata kann sich die Scham „nicht nur auf deviantes »Tun« […] , sondern auch auf deviantes »Sein« beziehen“ (Hahn 2016: 59 f.). Das Selbstwertgefühl dürfte demnach noch allumfassender in Mitleidenschaft gezogen werden. Zum Anderen kön- nen Selbstverletzungsnarben jedoch auch als “Reminders of Overcoming Adversity“ (Weitz 2011: 197) für persönliche Stärke und Transformation ste- hen (vgl. Weitz 2011: 197), wie ein Teenager im Rahmen von Weitz‘ Studie berichtet: „these scars...represent some of the hardships that I went through and how I was able to overcome them. (They) remind me of the person I was before and how I will never go back to the way I was“ (2011: 197). Diesbe- züglich werden sowohl die genannte vulnerability und resilience (vgl. Weitz 2011: 193) deutlich. Narben, als bleibende, eingravierte Zeichen in der Haut von Betroffenen sind somit sowohl ‚Reminder‘ sowie Zeugen einer vergan- genen Zeit und eines früheren Selbst, doch zugleich sind sie zukunftswei- send (vgl. auch Slatman 2016: 348; Bond 2018: 38) und bergen neben der Gefahr der Stigmatisierung des Subjektes im konkreten Fall von Selbstver- letzungsnarben auch eine Hoffnung:
„For, paradoxically, the call for reading the skin-traces of self-harm evinces a desire for securing an end to this form of traumatic testimony. In attempting to ensure the possibility of self-harm being read as testimony, there is simultaneously a hope wor- king to establish the conditions for passing beyond the need for self-harm.“ (Kilby 2001: 129)
Neben der Leseart als defizitorientiertes und potentiell ausgrenzendes Stigmasymbol, kann die Selbstverletzungsnarbe sowohl von Betroffenen, als auch von Interaktionspartner*innen auch ressourcenorientiert und lebens- weltorientiert als Zeichen einer (zu ihrer Zeit!) (dys)funktionalen Bewälti- gungsstrategie, wenn nicht gar einer Form von Resilienz gelesen werden, ausgehend von der Prämisse, dass der Akt der Selbstverletzung als Sprache verstanden wird, als ein Ventil für Unaussprechliches. Denn:
„if the promise of language fails and speaking cannot sustain life, another ‘voice’ must be found, especially when faced with the need to testify to the traumatic conditions of life itself. Here, then, wounding one’s own skin is another way of speaking of trauma and pain.“ (Kilby 2001: 125)
Wie Bond (vgl. 2018: 58) in Anlehnung und Übereinstimmung an/mit Kilby feststellt, bedarf es Leser*innen, um die Geschichten, um diese Sprache, diese Zeichen zu übersetzen, zu interpretieren. Wie Pickard (vgl. 2015: 84 f.) erklärt, gilt es hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Kontextes an der Seite der Betroffenen sowohl sozioökonomische und genderbezogene sozia- le Ungleichheit politisch zu adressieren und auch „our tendency to condemn and suppress people’s emotions“ (Pickard 2015: 85) zu bearbeiten.
2.2 Die Narbe als Stigmasymbol
Es wurde bereits angedeutet, dass es sich bei der Narbe um ein Stigmasymbol handeln kann, um ein Zeichen, welches soziale Informationen enthält und übermittelt (vgl. Goffmann 1990: 60), die wiederum von einem Stigma zeugen, von einer bestimmten normabweichenden Eigenschaft, auch „Fehler […] Unzulänglichkeit, […] Handikap“ (Goffman 1990: 11) genannt. Im Fall der Narbe handelt es sich um den Hinweis auf stattgefundenes NSSV, welches in der Öffentlichkeit zwar nicht als kriminell, jedoch aufgrund der diesem Verhalten innewohnender Aggression und Gewalttätigkeit als deviant angesehen wird, denn insbesondere bezogen auf Frauen gelten in westlichen Gesellschaften das Ausagieren aggressiver Impulse als unnatür- lich und nicht akzeptabel (vgl. Pickard 2015: 85). Hier wird deutlich, dass es vom kulturellen, gesellschaftlichen Kontext und den herrschenden Normen abhängt, ob ein Merkmal als Stigma gilt, denn das Stigma wird sozial kon- struiert (vgl. Aydin und Fritsch 2015: 247). Stigmata spiegeln mit ihrer „dis- kreditierenden Wirkung“ (Goffmann 1990: 11) somit „gesellschaftlich geteil- te sowie akzeptierte Wissensstrukturen und Assoziationen über bestimmte Personengruppen“ (Aydin und Fritsch 2015: 247). Das von normativen Er- wartungen abweichende Merkmal (Stigma) führt zu negativen Einstellungen gegenüber der betroffenen Person, die in der Folge nicht mehr ganzheitlich in ihrer Vielfalt als Individuum wahrgenommen wird, sondern lediglich als Stigmaträger*in (vgl. Aydin und Fritsch 2015: 247) sowie als „nicht ganz menschlich“ (Goffman 1990: 13). Im Prozess der Stigmatisierung werden dementsprechend „bestimmte Personen sichtbar als moralisch minderwertig gebrandmarkt, wie etwa durch gehässige Bezeichnungen und Bewertungen oder durch öffentlich verbreitete Informationen“ (Lemert 2016: 129). Wenn sich die negativen Zuschreibungen in simplifizierten Wissensstrukturen in Form von Stereotypen verdichten und diesen emotional negativ aufgelade- nen Stereotypen zugestimmt wird, bilden sich Vorurteile, welche wiederum zur Ungleichbehandlung, zur Diskriminierung der stigmatisierten Person füh- ren können (vgl. Aydin und Fritsch 2015: 247). Wie bereits angedeutet, spie- geln Klassifikationssysteme wie ICD-10 und DSM-5 den Verlauf oder die Ergebnisse von gesellschaftlichen Normalisierungs- und Pathologisierungsprozessen, denn bei den aufgeführten „Verhaltensweisen handelt es sich immer auch um negativ bewertete und damit stigmatisierbare soziale Phänomene“ (Kardorff 2016: 20), die kategorisiert werden:
[...]
1 Unter sekundärer Viktimisierung wird eine “inadäquate Behandlung (traumatisierende Er-fahrungen, Stigmatisierung und Benachteiligungen) nach der Tat durch Strafverfolgungsbe- hörden, andere Institutionen, die Medien oder das soziale Umfeld” (Görgen 2009: 236) ver- standen.
2 Im Folgenden wird stets die hier verwendete Auflage aus dem Jahr 1990 angegeben.
3 Galt nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) zuvor sowohl in den medizini- schen Klassifikationssystemen DSM-IV als auch in der noch gültigen ICD-10 lediglich als Symptom, so wird es seit Juni 2013 im DSM-5 als eigenständiges Störungsbild aufgeführt (vgl. Plener et al. 2014: 405 f.) unter „Klinische Erscheinungsbilder mit weiterem For- schungsbedarf“ (American Psychiatric Association 2015: 1099).