Ziel dieser Arbeit ist es, den Begriff des Paradigmas in Thomas S. Kuhns 1962 erschienen Werk "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" genauer zu beleuchten, um ihn philosophisch nutzen zu können und eventuell weiterzuentwickeln.
Zunächst einmal werde ich dazu Kuhns Wissenschaftstheorie von einem Wechsel zwischen der sogenannten "Normalwissenschaft" und wissenschaftlichen Revolutionen im zweiten Kapitel vorstellen. Beide Phasen der wissenschaftlichen Tätigkeit werden über das Paradigma definiert, die Normalwissenschaft durch die Bindung an eines, die wissenschaftliche Revolution durch den Kampf um das selbige.
Beide Phasen erfüllen laut Kuhn eine wichtige Funktion. Die Normalwissenschaft dient der Erforschung eines Spezialgebietes in die Tiefe, wobei das Sichtfeld der Forschenden jedoch eingeengt ist. Die revolutionären Umbrüche hingegen führen zu einer anderen Perspektive, in der andere Forschungsfragen als relevant eingestuft werden.
Das dritte Kapital dient dann der genauen Analyse des Paradigmenbegriffs. Hier werde ich zuerst die Analyse von Margaret Masterman abhandeln, wobei ich fortwährend Bezug auf den Primärtext nehmen werde. Masterman arbeitet drei grundlegende Verwendungsweisen des Begriffs heraus.
Einmal das Paradigma als "soziologisches Paradigma", welches aus einer Konstellation konkreter Errungenschaften, Werte, Methoden etc. besteht, dann das "metaphysische Paradigma" oder „Metaparadigma", das sie als Weltanschauung oder Art des Sehens [way of seeing] bezeichnet und letztlich das "konkrete Paradigma, das sie als die grundlegende und philosophisch wertvolle Bedeutung des Begriffs, nämlich als Musterbeispiel, sieht.
Kuhn selbst arbeitet den Begriff in seinem sieben Jahre nach Veröffentlichung des Essays erschienenen Postskriptum genauer aus, wobei er sich dann auf zwei Verwendungsweisen festlegt. Die des soziologischen Paradigmas, das er später auch treffender als "disziplinäres System" bezeichnet und des Paradigmas als gemeinsames Musterbeispiel, das er auch als grundlegende Bedeutung des Begriffs bezeichnet.
Im vierten Kapitel werde ich die vorher gesammelten Erkenntnisse zusammenfassen, um damit einen Ausblick zu verschaffen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kuhns Wissenschaftstheorie
2.1 Normalwissenschaft
2.2 Krise und Wissenschaftliche Revolution
3 Begriff „Paradigma“
3.1 Interpretation nach Margaret Masterman
3.2 Postskriptum zu „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“
4 Schluss
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Mit seinem 1962 erschienenen Werk „die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ widerspricht Thomas S. Kuhn gängigen Wissenschaftstheorien des späten 20. Jahrhunderts. Laut Kuhn habe man es in der Wissenschaft nicht mit einer Akkumulation von Wissen und einer damit verbundenen Annäherung an die Wahrheit zu tun, vielmehr komme es zu wissenschaftlichen Revolutionen, die zu einem Paradigmenwechsel und einer damit verbundenen Verschiebung des Begriffsnetzes führen. Der Begriff des Paradigmas spielt eine zentrale Rolle in Kuhns Wissenschaftstheorie. Da er ihn vielfältig verwendet, ist es notwendig, ihn genauer zu beleuchten, um ihn philosophisch nutzen zu können und eventuell weiterzuentwickeln.
Zunächst einmal werde ich dazu Kuhns Wissenschaftstheorie von einem Wechsel zwischen der sogenannten „Normalwissenschaft“ und wissenschaftlichen Revolutionen in Kapitel 2 vorstellen. Beide Phasen der wissenschaftlichen Tätigkeit werden über das Paradigma definiert, die Normalwissenschaft durch die Bindung an eines, die wissenschaftliche Revolution durch den Kampf um das selbige. Beide Phasen erfüllen laut Kuhn eine wichtige Funktion. Die Normalwissenschaft dient der Erforschung eines Spezialgebietes in die Tiefe, wobei das Sichtfeld der Forschenden jedoch eingeengt ist. Die revolutionären Umbrüche hingegen führen zu einer anderen Perspektive, in der andere Forschungsfragen als relevant eingestuft werden. Kapitel 3 dient dann der genauen Analyse des Paradigmenbegriffs. Hier werde ich zuerst die Analyse von Margaret Masterman abhandeln, wobei ich fortwährend Bezug auf den Primärtext nehmen werde. Masterman arbeitet drei grundlegende Verwendungsweisen des Begriffs heraus. Einmal das Paradigma als „soziologisches Paradigma“, welches aus einer Konstellation konkreter Errungenschaften, Werte, Methoden etc. besteht, dann das „metaphysische Paradigma“ oder „Metaparadigma“, das sie als Weltanschauung oder Art des Sehens [way of seeing] bezeichnet und letztlich das „konkrete Paradigma“, das sie als die grundlegende und philosophisch wertvolle Bedeutung des Begriffs, nämlich als Musterbeispiel, sieht.
Kuhn selbst arbeitet den Begriff in seinem sieben Jahre nach Veröffentlichung des Essays erschienenen Postskriptum genauer aus, wobei er sich dann auf zwei Verwendungsweisen festlegt. Die des soziologischen Paradigmas, das er später auch treffender als „disziplinäres System bezeichnet“ und des Paradigmas als gemeinsames Musterbeispiel, das er auch als grundlegende Bedeutung des Begriffs bezeichnet.
In Kapitel 4 werde ich die vorher gesammelten Erkenntnisse zusammenfassen, um damit einen Ausblick zu verschaffen.
2 Kuhns Wissenschaftstheorie
Die Wissenschaft lässt sich laut Kuhn in drei Phasen unterteilen: die vor-paradigmatische Zeit, die Zeit der Normalwissenschaft und die wissenschaftliche Revolution, die einen Paradigmenwechsel beinhaltet. Bevor ich in Kapitel 3 den Paradigmenbegriff in [Kuhn (1976)] genauer analysiere und erhelle, werde ich im folgenden aufzeigen, wie Kuhn die Ansicht, dass die Wissenschaft eine kumulative Tätigkeit sei kritisiert und stattdessen seine Theorie von Normalwissenschaft und wissenschaftlichen Revolutionen anbietet. Die Normalwissenschaft ermöglicht, wie wir in Abschnitt 2.1 feststellen werden, eine tiefe und detaillierte Forschung. Wissenschaftliche Revolutionen führen dazu, dass sich die Forschungsfragen ändern und die Forschung somit auch horizontal umfangreicher wird.
Den Begriff Paradigma werde ich in Abschnitt 3 analysieren. Vorerst benutze ich den Begriff im Sinne eines konkreten Musterbeispiels, d.h. eines künstlich hergestellten „artefacts“ (z.B. eines Werkzeug oder ein Handbuch) zum Lösen von wissenschaftlichen Rätseln (a) bzw. nach Masterman und Kuhn (in seinem Postskriptum) „soziologisches Paradigma“, das auf gewisse Gewohnheiten, aufbauend auf konkreten Erfolgen beruht(b). Sofern nicht speziell gekennzeichnet, handelt es sich um das soziale Paradigma.
2.1 Normalwissenschaft
In diesem Abschnitt werde ich darlegen, was die Normalwissenschaft ausmacht und wie die Forschung während dieser Phase strukturiert ist. Dazu ist es notwendig, die Probleme, die sich der Wissenschaft stellen zu nennen und zu erläutern, warum die Bindung an ein Paradigma die Phase der Normalwissenschaft ermöglicht.
Thomas S. Kuhn kritisierte die Auffassung, dass es sich bei der Wissenschaft um eine rein kumulative Tätigkeit handele, bei der Forschende sich Schritt für Schritt der Wahrheit nähern. Dies geschehe zwar auch, jedoch in den Zeiten der sogenannten „Normalwissenschaft“, in denen ein bestimmtes Paradigma vorherrsche.
Über die Normalwissenschaft sagt Kuhn: „[Die] 'Normale Wissenschaft' [ist] eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden.“ 1
Die Annahme eines Paradigmas (hier: im Grunde genommen den Beispielen der „wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit“) ist notwendig für die normale Wissenschaft, damit WissenschaftlerInnen die theoretischen Grundlagen nicht fortwährend prinzipiell neu herleiten müssen. Es ist sinnvoll, von einer Gruppe aus WissenschaftlerInnen (Forschungsgebiet) akzeptierte Methoden, Begriffe, Instrumente und Theorien anzunehmen und die Forschung darauf aufzubauen, was es ermöglicht, komplexe Forschungsfragen zu stellen und sich auf spezielle Naturerscheinungen zu fokussieren. Kuhn vergleicht dies mit dem Lösen von Rätseln („puzzle“). Ein Rätsel ist ein Problem mit in der Welt existierender Lösung und einer eingeschränkten Anzahl an Methoden, um zu der Lösung zu gelangen.2
Die Formulierung des Logikers und Sprachphilosophen Ludwig Wittgensteins zu Rätseln ist sogar noch radikaler: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden.“3
Das Paradigma selbst engt das Gesichtsfeld auf die „Rätsel“ und Methoden um sie zu lösen ein, weswegen Kuhn die normale Wissenschaft als eine „höchst determinierte Tätigkeit“ bezeichnet4. Die Normalwissenschaft widmet sich der Artikulation und Spezifikation des Paradigmas und zielt z.B. in der Physik auf die Ermittlung von allgemeinen Konstanten und generell der Bestimmung von quantitativen Gesetzen sowie den qualitativen Aspekten der Natur.
Was die Normalwissenschaft nicht abdeckt, ist das Suchen neuer Phänomene. Durch das begrenzte Sichtfeld der Normalwissenschaft besteht einerseits die Möglichkeit, sehr spezifische Fortschritte in einer Genauigkeit und Tiefe zu erzielen, doch andererseits lassen sich nicht alle Fragen als Rätsel formulieren, was bedeuten kann, dass wichtige Gebiete unter dem herrschenden Paradigma als metaphysisch oder wissenschaftlich nicht relevant eingestuft werden. Kuhn sieht den Grund für den offenbar schnellen Fortschritt der normalen Wissenschaft in der Wahl der Probleme, deren Lösung nur aufgrund fehlendem Scharfsinn fehlschlagen könne5.
Um Einzelheiten der Natur in einer Tiefe zu erforschen, ist die Normalwissenschaft und damit die Bindung an ein Paradigma sinnvoll und wichtig. Lässt sich ein Phänomen aber dadurch nicht erklären, handelt es sich aus dieser Perspektive um eine „Anomalie“. Wenn diese die Grundlagen des Paradigmas betrifft, kann die Wissenschaft in eine Krise geraten. Um die Phänomene der Natur also auch in der Breite erforschen zu können, wird ein neues Paradigma(a), etwas künstlich hergestelltes [artefact] benötigt, um das Sichtfeld zu weiten.
2.2 Krise und Wissenschaftliche Revolution
In diesem Abschnitt befasse ich mich mit Krisen innerhalb der Wissenschaften, wissenschaftlichen Revolutionen und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel nach Kuhn. Zunächst einmal gehe ich dabei auf die Voraussetzungen für einen revolutionären Umbruch ein, um dann herauszuarbeiten, wie das „Ringen“ um die Paradigmen erfolgt. Dies geschieht nicht nur auf rationaler oder logischer Basis, sondern auf Grundlage des jeweils angenommenen Paradigmas mit Methoden der Massenüberredung und dem Ziel, die Institution zu verändern. Kuhn stellt hier einen Vergleich mit einer politischen Revolution auf, den ich rekonstruieren werde. Abschließend zeige ich auf, welche Folgen eine Revolution für die wissenschaftliche Tätigkeit hat.
Treten in der Normalwissenschaft vermehrt Anomalien auf, insbesondere solche, die die Grundlagen des angenommenen Paradigmen betreffen, gerät sie unter gewissen Bedingungen in eine Krise. Chalmers stellt in Bezug auf die Entwicklung einer Krise treffend fest: „Die bloße Existenz ungelöster Rätsel innerhalb eines Paradigmas macht noch keine Krise aus. […] Nur unter einer besonderen Konstellation von Umständen können sich Anomalien in einer Art und Weise entwickeln, dass sie das Vertrauen in ein Paradigma untergraben.“6 Anomalien treten in der Normalwissenschaft häufig auf und in gewisser Weise sind sie auch substantiell für sie. Es verhält sich so, weil ein Paradigma immer unzureichend ist und nie alle Probleme löst (dann wäre die weitere Forschung auf diesem Gebiet überflüssig). Die ungelösten Probleme, die häufig auf einer Diskrepanz zwischen Paradigma und Realität beruhen, bilden die Rätsel, deren Lösung sich die Normalwissenschaft verschreibt. Kuhn kann „keine allgemeingültige Antwort“7 darauf geben, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit eine Anomalie das Paradigma infrage stellt. Kurt Bayertz schreibt hierzu treffend: „Letztlich entscheidend ist das Bewusstsein der wissenschaftlichen Gemeinschaft: ob es sich bei Diskrepanz zwischen Paradigma und Realität um ein normales Rätsel handelt, oder um eine Krise, hängt von der Beurteilung des konkreten Falles durch die Gruppe ab.“8
Eine Krise in der Wissenschaft kann zu einer wissenschaftlichen Revolution führen, die Kuhn als „jene nichtkumulative Entwicklungsepisoden“ beschreibt, „in denen ein älteres Paradigma ganz oder teilweise durch ein nicht mit ihm vereinbares neues ersetzt wird“9.
Kuhn zieht im folgenden eine Parallele zu politischen Revolutionen, bei denen er zwei wesentliche Aspekte betont: Erstens führen die Grenzen der politischen Institution bzw. des Paradigmas zu Unzufriedenheit und einem Gefühl des „Nichtfunktionierens“10 und damit in die Krise und zweitens hat die Revolution das Ziel, neue Institutionen bzw. Paradigmen zu etablieren, die durch bisherige verboten wurden. Die Gemeinschaft spaltet sich in konkurrierende Lager, ein konservatives, das die alten Strukturen erhalten möchte und ein progressives (eventuell mehrere), das eine neue Struktur konstituieren möchte. Da es für solche Ereignisse keinen überinstitutionellen Rahmen gibt und das progressive Lager sich gegen die Institution bzw. das Paradigma stellt, laufen Revolutionen außerinstitutionell ab. Die Debatte findet dabei keineswegs sachlich und rational, sondern mit „Methoden der Massenüberredung“11 statt. „Wie bei politischen Revolutionen gibt es auch bei der Wahl eines Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft.“ 12 Die Verfechtenden ihres Paradigmas bauen jedoch jeweils auf verschiedene Grundannahmen, was zu einer Zirkularität der Diskussion und einer Inkommensurabilität der Paradigmen führt. Bayertz arbeitet folgende drei Aspekte der Inkommensurabilität von Paradigmen heraus: (1) Die Befürwortenden eines Paradigmas stimmen nicht bei den zu lösenden Problemen überein, (2) das System der genutzten Begriffe unterscheidet sich und (3) Paradigmen unterscheiden sich in ihrer Substanz, ihre Anhänger sind somit mit verschiedenen Weltbildern versehen13. Punkt (3) ist dabei laut Kuhn der grundlegendste Aspekt14, was sich auch in den Auswirkungen einer wissenschaftlichen Revolution bemerkbar macht. Nach Kuhn wandelt sich mit einer Revolution auch das Weltbild der Menschen, dessen Paradigma betroffen ist.
[...]
1 [Kuhn (1976)] S.25
2 [Kuhn (1976)] S. 52
3 [Wittgenstein (1989)] 6.5
4 [Kuhn (1976)] S. 56
5 [Kuhn (1976)] S.51
6 [Chalmers (1999)] S.96
7 [Kuhn (1976)] S.5 3
8 [Bayertz (1981)] S.53
9 [Kuhn (1976)] S. 105
10 [Kuhn (1976)] S. 104
11 [Kuhn (1976)] S. 106
12 [Kuhn (1976)] S. 106
13 [Bayertz (1981)] S. 77 ff.
14 [Kuhn (1976)] S.116