Die vorliegende Arbeit untersucht aus mehreren Gesichtspunkten ein Verhältnis, das allgemein als problematisch angesehen wird: Die Beziehung von Musik des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Schönheit.
Um dem Thema gerecht zu werden, werden Haltungen und Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Richtungen in die Arbeit einbezogen, d.h. es werden sowohl geisteswissenschaftliche Forschungen als auch naturwissenschaftliche Ergebnisse, die vorwiegend im 20. Jahrhundert erarbeitet wurden, konfrontiert und diskutiert.
Nicht zuletzt ist das Schöne aber auch eine künstlerische Kategorie, an die die Wissenschaft mit ihren Forschungsmethoden nur bedingt heranreichen kann.
Eventuell könnten deshalb die ästhetisch-analytischen Überlegungen am Ende der Arbeit einen nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch eine Art von künstlerischem Charakter tragen, allerdings ohne den Anspruch, den Wissenschaftscharakter zu verlieren.
Die methodische Vorgehensweise wird historisch, systematisch als auch vergleichend sein. Das erste, zweite und vierte Kapitel sind dabei historisch ausgerichtet, das dritte Kapitel untersucht systematisch die Möglichkeiten, anhand derer wir Schönheit erkennen können. Ethnologisch-vergleichende Sachverhalte werden ferner in allen Kapiteln mit einbezogen. Das fünfte Kapitel diskutiert die vorher entwickelten theoretischen Überlegungen mit einer ästhetischen Analyse der exemplarisch ausgewählten Werke und Interpretationen.
Somit versteht sich diese Arbeit zwar schwerpunktmäßig geisteswissenschaftlich-historisch, aber mit Einbezug und Konfrontation naturwissenschaftlicher Forschungen. Eine dazugehörige Systematik ist für eine schlüssige ästhetische Analyse die Voraussetzung.
Dass sich Wissenschaften und Künste, Analyse und Ästhetik gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts angenähert haben1, macht ihr Verhältnis untereinander allerdings nicht weniger problematisch, aber doch zu einer interessanten, vielschichtigen und auch ergiebigen Beziehung.
Eine nur historische Betrachtung wäre zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu früh gewesen, für eine nur systematische Herangehensweise fehlen nach wie vor die Erkennung aller allgemeingültigen Kriterien, eine nur vergleichende Forschung hätte in einem ausnahmslosen Relativismus enden können.
Um einen roten Faden zu finden, beschränkt sich die Arbeit nicht nur auf das 20. Jahrhundert, sondern schwerpunktmäßig auch auf die neue Musik in den deutschsprachigen Ländern.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
1. Rezeptionsästhetik der Musik des 20. Jahrhunderts
2. Der Begriff der Schönheit im 20. Jahrhundert
3. Möglichkeiten der Erkennung des Schönen
4. Schönheit und Hässlichkeit und die Musik des 20. Jahrhunderts
5. Analytisch-ästhetische Überlegungen zur Schönheit exemplarisch ausgewählter Werke und Interpretationen
Fazit und Schluss
Verzeichnis der besprochenen Musikwerke
Verzeichnis der besprochenen Schallquellen
Verzeichnis der verwendeten Literatur
Erklärung
Vorwort
Die vorliegende Arbeit untersucht aus mehreren Gesichtspunkten ein Verhältnis, das allgemein als problematisch angesehen wird: Die Beziehung von Musik des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Schönheit.
Um dem Thema gerecht zu werden, werden Haltungen und Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Richtungen in die Arbeit einbezogen, d.h. es werden sowohl geisteswissenschaftliche Forschungen als auch naturwissenschaftliche Ergebnisse, die vorwiegend im 20. Jahrhundert erarbeitet wurden, konfrontiert und diskutiert.
Nicht zuletzt ist das Schöne aber auch eine künstlerische Kategorie, an die die Wissenschaft mit ihren Forschungsmethoden nur bedingt heranreichen kann. Eventuell könnten deshalb die ästhetisch-analytischen Überlegungen am Ende der Arbeit einen nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch eine Art von künstlerischem Charakter tragen, allerdings ohne den Anspruch, den Wissenschaftscharakter zu verlieren.
Die methodische Vorgehensweise wird historisch, systematisch als auch vergleichend sein. Das erste, zweite und vierte Kapitel sind dabei historisch ausgerichtet, das dritte Kapitel untersucht systematisch die Möglichkeiten, anhand derer wir Schönheit erkennen können. Ethnologisch-vergleichende Sachverhalte werden ferner in allen Kapiteln mit einbezogen. Das fünfte Kapitel diskutiert die vorher entwickelten theoretischen Überlegungen mit einer ästhetischen Analyse der exemplarisch ausgewählten Werke und Interpretationen.
Somit versteht sich diese Arbeit zwar schwerpunktmäßig geisteswissenschaftlich-historisch, aber mit Einbezug und Konfrontation naturwissenschaftlicher Forschungen. Eine dazugehörige Systematik ist für eine schlüssige ästhetische Analyse die Voraussetzung.
Dass sich Wissenschaften und Künste, Analyse und Ästhetik gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts angenähert haben[1], macht ihr Verhältnis untereinander allerdings nicht weniger problematisch, aber doch zu einer interessanten, vielschichtigen und auch ergiebigen Beziehung.
Eine nur historische Betrachtung wäre zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu früh gewesen, für eine nur systematische Herangehensweise fehlen nach wie vor die Erkennung aller allgemeingültigen Kriterien, eine nur vergleichende Forschung hätte in einem ausnahmslosen Relativismus enden können.
Um einen roten Faden zu finden, beschränkt sich die Arbeit nicht nur auf das 20. Jahrhundert, sondern schwerpunktmäßig auch auf die neue Musik in den deutschsprachigen Ländern.
Einleitung
„Zum schönsten an dem Wort schön gehört, dass es sich einer wissenschaftlichen Analyse entzieht.“[2] Falls Hans Heinrich Eggebrecht mit seiner Behauptung recht hat, ist dann nicht das Gelingen einer wissenschaftlichen Arbeit, die die Schönheit oder mindestens die Möglichkeit einer Empfindung des Schönen objektiv belegen möchte, im Vorhinein dem Scheitern verurteilt? Wenn Schönheit mit heutigen wissenschaftlichen Kriterien nicht zu fassen ist, dann bleibt eine wissenschaftliche Arbeit in den Stadien der Spekulation, der Vermutung oder Mutmaßung, in dem Stadium des Subjektiven, also wäre sie im Eigentlichen keine wissenschaftliche Arbeit.
Auf der anderen Seite ist Schönheit aber auch ein Merkmal oder eine Erscheinung, die unser tägliches Leben, das wissenschaftliche und das künstlerische, ständig begleitet. Spätestens seit der griechischen Antike wurde außerdem immer wieder neu oder im Rückgriff über das Phänomen der Schönheit reflektiert, sie zu bestimmen versucht und Theorien über sie aufgestellt. Dass sich dabei Schönheitsauffassungen und -empfindungen wandelten ist ebenso wahrscheinlich wie es Konstanten im Schönheitsempfinden geben muss.
Zahlreiche Rezeptionsurteile aus dem 20. Jahrhundert belegen, dass die neue Musik des 20. Jahrhunderts als nicht schön aufgefasst wurde. Auf der anderen Seite wendeten sich auch zahlreiche Künstler vom Begriff des Schönen ab. In der Frage nach dem Schönen in der Musik des 20. Jahrhunderts steckt daher eine scheinbar besondere wissenschaftliche Spannung, die von Seiten der Musikwissenschaft bisher nur marginal behandelt wurde.[3] In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Spannung der Frage ein wenig zu lösen, indem die fünf Kapitel das Verhältnis aus verschiedenen Gesichtspunkten umkreisen, problematisieren, konfrontieren und diskutieren.
Die Grundthese dieser Arbeit ist dabei, dass es sich bei den Schönheiten der Musik des 20. Jahrhunderts um eine andere, neue Art des Schönen handelt, die sich teilweise stark von den Kriterien, anhand derer wir Schönheit aus der Zeit der „schönen Künste“ teilweise fest machen können, abheben.
In dieser Hinsicht kann man für das 20. Jahrhundert auch von einem geöffneten und geweiteten Schönheitsbegriff sprechen.
Dass diese Weitung unter Umständen zu einem umso stärkeren Rückfall in Normierungsversuche geführt hat, wie die beiden deutschen Diktaturen sowie Teile der Medienwirtschaft in der BRD es vollzogen, ist eine weitere These dieser Arbeit.
Wenn sich Wissenschaft nicht mit einem nicht oder nur teilweise wissenschaftlich fassbaren Gegenstand oder einem Phänomen auseinandersetzen würde, bliebe der Gegenstand bzw. das Phänomen erst recht der Spekulation, der bedingungslosen Ausnutzung und Instrumentalisierung ausgeliefert.
Die wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Schönen scheint zu Ende des 20. Jahrhunderts und noch einmal verstärkt in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts an Interesse gewonnen zu haben. Das zeigen die zahlreichen neu erschienenen Buchpublikationen, Ausstellungen und Kongresse, die zu dem Thema des Schönen stattgefunden haben.[4] Somit erscheint diese Arbeit nicht nur als eine Arbeit über ein Phänomen, sondern umgekehrt auch als ein Teil einer scheinbar größeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung über das Phänomen der Schönheit, die wohl nur deshalb noch nicht so häufig von der Musikwissenschaft aufgegriffen wurde, weil das Thema sehr komplex und das Verhältnis von Ästhetik und Analyse nach wie vor problematisch ist.
1. Rezeptionsästhetik der Musik des 20. Jahrhunderts
Die neue Musik des 20. Jahrhunderts hatte es in der Musikgeschichte offenbar schwerer als jede davor entstandene Musik, in ihrer Zeit allgemein anerkannt und geschätzt zu werden. Von verschiedenen Seiten und unterschiedlichen Richtungen wurde ihr der Vorwurf gemacht, dass sie nicht nur nicht schön ist, sondern auch auf Grund ihrer Substanz gar nicht schön sein kann oder dass sie darüber hinaus den Menschen krank macht. Sie ist noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Ruf behaftet, unverständlich, zu komplex und rational, sinnlos, beliebig, furchtbar oder einfach hässlich zu sein. Auf den ersten Blick scheint die Frage nach dem Schönen in der Musik des 20. Jahrhunderts daher nur in der Weise beantwortbar zu sein, der Musik des 20. Jahrhunderts das Schöne abzusprechen.
Henriette Zehme beginnt in diesem Sinne ihre Untersuchung im Rückblick auf das 20. Jahrhundert:
„Unbehagen an der zeitgenössischen Musik? Dies ist für viele Musikinteressierte auch beinahe einhundert Jahre nach den ersten Werken, die sich durch neue Konzepte der Komposition von der Musik bis Ende des 19. Jahrhunderts absetzten, keine Frage, sondern eine Feststellung.“[5]
Claus-Steffen Mahnkopf, selber Komponist des 20. Jahrhunderts, konstatiert, dass die neue Musik „zu den befremdlichsten kulturellen Erscheinungen des 20. Jahrhunderts"[6] gehört und fragt sich, „warum die Musik des 20. Jahrhunderts – trotz aller technischen Fortschritte und des sich erhöhenden Reflexionsniveaus - mehr Enttäuschung, Trauer und Resignation hinterlässt anstatt selbstverständlicher Teil einer Lebenskultur zu werden."[7]
Der endgültige Verlust einer Tonika, der sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelte und konkret in Schönbergs Klavierstücken op. 11 (1909/10) manifest wurde, zog in den Ohren mancher Kritiker von damals bis heute den gleichzeitigen Verlust der Schönheitsempfindungsmöglichkeit nach sich.
So folgert Franz Sauter nach Besprechung Schönbergscher atonaler Musik:
„Schöne Musik kann so natürlich nicht zustande kommen. Denn Schönheit ist keine Frage der Gewöhnung.“[8]
Dieter Schnebel berichtet über eine ähnliche Rezeption seiner Mutter: „Offenbar erschien ihr dieses ´moderne Zeug` hässlich. Und vielleicht spiegelte ihr Eindruck etwas Allgemeines: dass die neue Kunst seit 1910 tatsächlich mit dem Geruch des Hässlichen behaftet sein mag.“[9]
In der abendländischen Musikgeschichte kam es zwar immer wieder vor, dass neue Musikwerke auf anfänglichen Protest und Unverständnis stießen.[10] Johann Adolf Scheibe beispielsweise kritisierte 1737 im 6. Stück seines Critischen Musicus das Werk Johann Sebastian Bachs und meinte, dass er ein großer Komponist sein könne, „wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge und ihre Schönheit durch allzu große Kunst verdunkelte.“[11] Ein anderer Kritiker schrieb im Jahr 1829 zu einem Werk Wolfgang Amadeus Mozarts, dem Streichquartett C -Dur,: „...grobe Fehler...misslungene Imitationdie furchtbar wirkt...“.[12] Auch andere „klassische“ Werke von Haydn, wie der Beginn der Schöpfung, und Uraufführungen Beethovenscher Werke verstörten das Uraufführungspublikum.
Die Kritik an Musik des 20. Jahrhunderts begann somit in dieser Tradition nicht bei den atonalen Klavierstücken Arnold Schönbergs im Jahr 1910, sondern schon bei Claude Debussys und Richard Strauß´ Opern im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: Zu der Uraufführung von Debussys Oper Pelleas et Melisande (1902) bemerkte ein Kritiker:
„Diese nihilistische Kunst, [...] verwirft die tonalen Zusammenhänge, befreit sich vom Rhythmus, kann die blasierten Ohren zerstreuen, doch gießt keine Emotionen in die Tiefen des Herzens."[13]
Die Uraufführungen der Salome (1905) und Elektra (1909) von Richard Strauß riefen ähnlich viel Unverständnis und Ablehnung hervor.
Beispielsweise schrieb zum damaligen Straußschen Schaffen ein Kritiker im Jahr 1909, dass seine „hypermoderne Schule den Wohlklang, den hauptsächlichsten Bestandteil des Musikalisch-Schönen, verwirft“ und seine „Lehre auf die Kakophonie und die Dissonanz begründet.“[14] Fünfzig Jahre später stellte Erich Doflein zu den selben Werken fest:
„Die ausdrucksstarken Dissonanzen der Elektra von Richard Strauß wurden nach großen Erregungen vom Publikum bald angenommen. Das Werk wird heute auf Provinzbühnen aufgeführt. Schönbergs Werke aus der gleichen Zeit haben sich nur langsam und nicht vergleichbar durchgesetzt; soviel sie den Fachleuten zweier Generationen bedeuten, so wenig dem breiteren Publikum.“[15]
Dieser Beleg reicht durchaus nicht aus, einen umfassenden Wandel in der Strauß-Rezeption zu verifizieren und damit zu zeigen, dass Schönheit erst im Nachhinein von einem größeren Publikum erkannt worden ist, er zeigt aber eine andere Akzeptanz des Publikums zu einem Werk, das unter Umständen auch aus ganz anderen Gründen, die aus einer, zu dieser Zeit an einem bestimmten Ort vorherrschenden Mentalität oder einem anderen Beweggrund herrührten, kritisiert bzw. skandalorientiert rezipiert wurde.
Den ersten „Skandal“ bei Aufführung Schönbergscher Musik gab es ebenfalls nicht, wie man erwarten könnte, bei atonalen Werkuraufführungen, sondern schon bei der Uraufführung von Pelleas und Melisande (1905). Hierzu urteilte ein Kritiker:
„Nichts von künstlerischer Selbstzucht, nichts von Ebenmaß, nichts von klarem Aufbau, nichts von organischer Entwicklung, nichts von Maßhalten, nichts von Schönheit [...] “[16]
Weitere Skandale folgten unter anderem bei Aufführung von Schönbergs zweitem Streichquartett op. 10 im Jahr 1908 oder auch bei Alban Bergs Orchesterliedern nach Texten von Peter Altenberg op. 4 im Jahr 1913.
Die Komponisten der sogenannten dritten Wiener Schule, die einen kontemplativen Nachvollzug bei Aufführung ihrer Werke wünschten, gründeten als Reaktion auf diese Skandale den Verein für musikalische Privataufführungen, um die Werkästhetik ungehindert und ungestört wirken zu lassen.[17]
Die Ablehnung der „Banausen“ (Dahlhaus) oder der „Naivetät“ (Adorno) könnten nicht nur ein Indiz dafür sein, dass diese Musik des 20. Jahrhunderts nicht schön ist, sondern ebenso auch ein Indiz, dass sich ein Wandel von den herkömmlichen Vorstellungen von Schönheit ereignet haben könnte, gegen den sich bestimmte Personen oder auch eine breitere Öffentlichkeit noch nicht gegenüber öffnen wollten oder konnten oder sogar die Flucht in ein noch mehr eingeengtes Verständnis des Begriffes suchten. Die vielfache Verwendung und gleichzeitige schwere Definierbarkeit des Begriffes der Schönheit bot jedenfalls die Möglichkeit, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, zu zahlreichen, unberechtigten Instrumentalisierungen, Diffamierungen und Verfemdungen neuer Musik.
Doch nach diesem Rückzug der neuen Musik in das private Leben nahm die Kritik an Werken der Atonalität von der Öffentlichkeit nicht ab, sie wurde wie im folgenden Beispiel sogar schärfer und trug den Anschein wissenschaftlichen Charakters. Im Jahr 1923 erschien in Breslau das Buch Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart. Die Autoren Erich Wolff und Carl Petersen sahen in Schönbergs atonalen Werken nicht nur eine Verfallserscheinung der Moderne, die „bis in die Karikatur hinein verzerrt“ sei, und in denen sich die „Inthronisation der Musik als der einzigen Sprache der wildesten Anarchie gegen die gestaltete Welt“ zeige, sondern der „offene Anarchismus“, der bei Schönberg erreicht sei, wäre auch eine Gefahr für Anarchie und Herrschaftslosigkeit im Staate:
„Der Hass gegen alle Schönheit der Welt [...] führt zur Forderung, dass wir russisch offen werden, zum Trieb in die radikale Anarchie, [...] zur Hoffnung auf die auflösende Macht des Marxismus.“[18]
Die neue Musik in der Zeit des Nationalsozialismus war durch die Instrumentalisierung der Musik zum Aufbau der Staatsideologie bestimmt. Die beschworene Gefühlsästhetik wurde zum Leitgedanken der Musikpflege erkoren. Adolf Hitler verwendete Kompositionen u.a. von Richard Wagner, Anton Bruckner, Ludwig van Beethoven und Richard Strauß, um die deutsche Bevölkerung für seine Ideologie zu mobilisieren. Hitler formulierte seine Kritik an neuer Musik im Jahr 1938 – sehr verharmlosend im Anbetracht der Tatsache der Entartungstheorie - folgendermaßen:
„ [...] wohl aber ist es nötig, die allgemeinen Gesetze für die Entwicklung und Führung unseres nationalen Lebens auch auf dem Gebiet der Musik zur Anwendung zu bringen, das heißt, nicht in technisch gekonntem Wirrwarr von Tönen das Staunen der verblüfften Zuhörer zu erregen, sondern in der erahnten und erfühlten Schönheit der Klänge ihre Herzen zu bezwingen. Nicht der intellektuelle Verstand hat bei unseren Musikern Pate zu stehen, sondern ein überquellendes musikalisches Gemüt [...] “[19]
„Geistig-aufgeladene“ Musik, wie Hitler die neue Musik der Wiener Schule klassifizierte, wurde als entartet gebrandmarkt und konnte nach dem Urteil Hitlers nicht schön sein, da sie dem Gefühl nicht folge . Von der Reichsmusikkammer wurde alles zensiert und diffamiert, was gegen das "völkische Staatsideal" verstieß und damit sowieso unschön war. Arnold Schönberg galt allein durch seine jüdische Abstammung als entartet, als offizieller Erfinder der Zwölftonmusik galt deshalb auch diese Technik als entartet.
Wilhelm Furtwängler, einer der führenden deutschen Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der zur Zeit des Nationalsozialismus Deutschland nicht verlassen hatte, war ebenso kein Befürworter der avantgardistisch neuen Musik, obwohl er sich auch selber kompositorisch engagierte. Er stellte im Jahr 1935 fest, dass „von der Produktion der letzten 20 Jahre - im Vergleich mit früheren Zeiten - sich erschreckend wenig im Konzertsaal gehalten hat“[20], was ihn wohl mit zu der Schlussfolgerung im Jahr 1949 führte:
„Dies Ungenügen im biologischen Sinne aber, das bei atonalen Musikgebilden mit Notwendigkeit aus dem Material hervorgeht und dem der atonale Musiker daher nicht entgehen kann, ist es, was jener unüberwindlich-hartnäckigen Abneigung des Publikums dieser Art von Musik gegenüber zugrunde liegt [...] “[21]
Die marxistische Auffassung von Kunstschönheit ähnelte in mancher Hinsicht der nationalsozialistischen, wenngleich es die neue Musik in der DDR wahrscheinlich einfacher hatte, aufgeführt zu werden, weil sie nicht den dumpfen Zensierungsprinzipien wie Blut, Volk, Rasse, Gesundheit u.a.m. unterlag.[22] Als unkonkrete, nicht begriffliche Kunst wurde die Musik in der DDR nicht in gleichem Maße zensiert wie beispielsweise die Literatur Wolf Biermanns. Avantgardistische Kompositionen wie Friedrich Goldmanns Sinfonien durften aufgeführt werden. Dennoch wurden beispielsweise Schönbergs Neuerungen als „dekadente Erscheinung in der Musik des absterbenden Kapitalismus in Amerika und Europa“ diffamiert.[23]
Atonale Musik und die Zwölftontechnik wurden nicht gewünscht, weil sie keinen Ausdruck für den Dienst am Volk boten, sondern den Individualismus verkörperten. Die Kritik Ernst Hermann Meyers könnte aber im folgenden Zitat ebenso aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen (man müsste nur „Sowjetunion“ durch „Deutschland“ ersetzen), weil ganz ähnliche Kritikpunkte an der neuen Musik geäußert werden:
„Als solche Erscheinungen werden erkannt: vor allem das Aufkommen eines überkomplizierten und rein konstruktivistischen ´Neutöner` - Stils oder eines leeren Naturalismus, eine Anbetung des Hässlichen oder der abstrakten Atonalität und der Dissonanzen um ihrer selbst willen, ein Kult des ´Psychopathischen`, nur weil es ´anders` und ´neu` ist, ein Fehlen des Volksliedelementes und überhaupt der Melodie, und gleichzeitig eine Vernachlässigung des in der Sowjetunion so gepflegten und entwickelten vielstimmigen Musizierens, des schönen, vollströmenden Gesanges.“[24]
Der Neubeginn nach 1945 in Westdeutschland war im avantgardistisch-kompositorischen Bereich unter anderem geprägt durch eine Art Fortsetzung und Weiterführung der Ideen der Wiener Schule, die in der seriellen Musik und später der elektronischen Musik mündete, und hatte ähnliche Rezeptionsschwierigkeiten. In den Ferienkursen für neue Musik in Darmstadt trafen sich ab 1948 vor allem nur die Komponisten, um neue Kompositionen v.a. auch verbal vorzustellen. Den Darmstädter Ferienkursen hing bald schon der Ruf des Elitären, dem nicht allgemein Verständlichem der neuen Musik nach. Wie aber auch Darmstadt wurden die Donaueschinger Musiktage, die bereits seit 1921 existierten, genauso wie der Warschauer Herbst ab 1958 zu Zentren der Aufführung neuer Musik und gleichzeitig zu einer Art Symbol für neue, zeitgenössische Musik.
Karl Amadeus Hartmann begründete im Oktober 1945 in München die Konzertreihe musica viva, die zwar auch als eigenständige Konzertreihe eine außerhalb stehende Daseinstradition der neuen Musik weiterführte, aber von der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen und von der Kritik nun deutlich wohl gesonnener behandelt wurde.[25] Titulierungen wie „Nihilismus in der modernen Musik“[26] bei Besprechung Schönbergscher und Alban Bergscher Werke blieben die Ausnahme, stattdessen wurde zur Reaktion des Publikums festgestellt: „Sie pfeifen nicht mehr“.[27]
In Hamburg wurde mit Das Neue Werk eine ähnliche Konzertreihe ins Leben gerufen.
Dennoch konnte sich der allgemein aufgebaute schlechte Ruf der neuen Musik nicht wesentlich bessern. Im Musikschrifttum wurden erste zusammenhängende Aussagen über die Rezeption der neuen Musik gewagt, die der neuen Musik selber die Verantwortung für mangelnde Rezeption zuwies. So warf Hermann Matzke 1961 die Frage auf, wo bei der neuesten Musik der „tiefere, erst wahrhaft humane Wert“ stecke und stellte fest:
„Dass der musikalische, unverbildete Mensch angesichts der extrem neuen Musik heute hungert, dass diese selber einen fast verzweifelten Kampf um Anerkennung kämpft, dass sich das Publikum seit vierzig Jahren ablehnend zu dem Großteil der modernen Musik verhält, zeigt doch nur Tatsachen auf.“[28]
Zu Beginn der siebziger Jahre gab es vielleicht auch deshalb mehrere empirische Studien zur Rezeption neuer Musik, die die allgemeine Verständlichkeit der neuen Musik anzweifelten. Mittels Manipulationen wurden Werke der Wiener Schule sowie Ligetis – den Versuchspersonen unwissentlich - verändert und dem Urteil der Versuchsgruppen, die aus Studierenden und Absolventen an Musikhochschulen in Frankfurt/Main und Graz zusammengesetzt waren, ausgesetzt. Den Wissenschaftlern gelang der Nachweis, dass „geringere oder größere Vertrautheit mit den Erscheinungen avantgardistischer Musik ohne Einfluss auf das Urteil bleibt.“[29]
Eine andere, diesmal medizinisch-psychologische Studie zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts kam zu dem Schluss, dass das Spielen zeitgenössischer Musik in einem Orchester krank machen kann.[30] Befragt wurden dabei drei Orchester, von denen eines ausschließlich, ein zweites wenig zeitgenössische Musik, und ein drittes ausschließlich traditionell-klassische Musik spielte, letzteres allerdings unter erschwerten Arbeitsbedingungen, um damit als Kontrollgruppe dienen zu können.
Die Untersuchung ergab, „dass sowohl der körperliche als auch der seelische Gesundheitszustand der Musiker des ausgesprochen ´zeitgenössischen Orchesters` der signifikant schlechteste war.“[31] Die Musiker litten vor allem zu einem höheren Prozentsatz an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen und funktionellen Störungen wie Ermüdbarkeit, Nervosität, Kopfschmerzen, Depressionen und Schlafstörungen. Gleichzeitig war der Prozentsatz an typisch berufsbedingten Überlastungsstörungen des Bewegungsapparates geringer als in den zwei anderen Orchestern, was eine „Flucht in die Berufskrankheit“ im Orchester, das zeitgenössische Musik spielte, ausschloss. Als Ursache wurde von einer Vielzahl der Musiker angegeben, dass die zeitgenössische Musik unmotivierter Krach, Lärm oder ausschließlich Geräusch sei und deshalb als musikalisch minderwertig oder sinnlos zu betrachten sei. Weiterhin seien die häufigen klangliche Spannungen und Dissonanzen unerträglich.[32] Auch etwa die Hälfte der Musiker im Orchester, das keine zeitgenössische Musik spielte, gab an, dass ihnen zeitgenössische Musik körperliches oder seelisches Unbehagen bereitete.
Am Ende dieser medizinisch-psychologischen Untersuchung ließen die Autoren offen, welchen grundsätzlichen Wert oder Unwert die zeitgenössische Musik aufgrund ihrer krankmachenden Wirkung besitzen könnte.[33] Vielmehr betonten sie, dass das Leiden, das die Musiker zeigten, ein Wirkung der zeitgenössischen Musik sei, und mutmaßten, ob zeitgenössische Werke, die sich eigentlich nicht für die Musiktherapie, also für eine Harmonisierung des Körpers eignen würde, nicht doch zur helfenden Anwendung im Innern Schizophrener verwenden ließe.[34] So weist diese Studie aber auch eine Parallele zur Kritik Meyers auf, der der neuen Musik einen „Kult des Psychopathischen“ vorwarf.[35]
Die Kritik und die Rezeptionsschwierigkeiten an Musik des 20. Jahrhunderts wendete sich vor allem, auch in der letztgenannten Studie, gegen die jeweils avantgardistische, „traditionsverneinende“, weniger gegen die rückwärtsgewandte, „traditionsgestützte“ neue Musik des 20. Jahrhunderts.[36] Komponisten wie Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Sergjew Prokofjew oder später Michel Nyman, John Williams oder Andrew Lloyd Webber, wenn man manche seiner Kompositionen auch dem „ernsthaften“ Genre zurechnen möchte, hatten es deutlich leichter von einem größeren Publikum rezipiert zu werden:
„Wenn gemeinhin negative Assoziationen mit der zeitgenössischen Musik verbunden werden, betrifft dies jedoch vor allem die avantgardistische Musik, die sich jeglicher Tradition verweigert und ausschließlich auf musikalischen Fortschritt bedacht ist. Im Gegensatz dazu sind jedoch jene Strömungen der zeitgenössischen Musik zu sehen, die Neues unter Rückgriff auf das musikalische Erbe schaffen.“[37]
Diese Hypothese konnte Zehme anhand ihrer empirischen Untersuchung auch verifizieren.[38] Die Abseitsstellung der avantgardistischen Musik betonte auch Ulrich Dibelius mit seinen Äußerungen über die achtziger Jahre:
„Die Gegenwartsmusik existiert nach wie vor in einer eigenen Schutzzone, meist recht weit außerhalb des allgemeinen Musikbetriebs. Sie gilt nach wie vor, gleich ihren spezialisierten Konzerten, Veranstaltungsreihen, Musikfesten, Experimentierbühnen, Interpreten und Interessenten, eben als ein Spezialfall.“[39]
Doch ereignete sich in den siebziger Jahren ein in weiten Teilen beobachtbarer Wechsel in der Kompositionsgeschichte, der auch als eine neue Hinwendung zum Hörer aufgefasst wurde.[40] Sie ging einher mit der vielfachen Rückwendung zum Herkömmlichen, der Neuformung des Tradierten, auch tonal wurde wieder komponiert. Insbesondere die Wahrnehmungsfähigkeiten der Hörer interessierte die Komponisten, Verfremdung und Irritation waren dabei kompositorische Ziele.
Allerdings konnte dieses neue Interesse am Publikum, das seit der Gründung des Vereines für musikalische Privataufführungen vor allem ein elitäres, meist akademisches Publikum war, die Vorherrschaft und das Gegengewicht der museal klassischen Orchestermusikkultur nicht in der Weise beeinträchtigen, dass die neue Musik einen anderen Stellenwert im Ansehen gewonnen hätte.[41]
Dabei ist die Frage zu stellen, ob diese neue Hinwendung zum Hörer auch mit einem Zugeständnis an das Verlangen des Publikums nach Schönheit korreliert, also ein möglicherweise ungewolltes Verhältnis in dieser Zeit von Seiten der Komponisten zu einem stimmigeren Verhältnis umgewandelt werden sollte oder ob hier nur ein herkömmliches Verständnis der Schönheit wieder aufgegriffen wurde.
Dass mit der neuen Hinwendung zum Hörer ein umfassender Rezeptionswandel bzw. eine Neubewertung der neuen Musik stattgefunden haben könnte, ist jedoch bislang nicht gezeigt worden, zumal wenn es stimmen sollte, was das Institut für kulturelle Innovationsforschung von der Musikhochschule Hamburg zu Beginn des 21. Jahrhunderts über das europäische Musikleben schrieb:
„ [...] Beim existierenden Kanon im traditionellen Konzertbetrieb überwiegt der Blick in die Vergangenheit mit der Aufführung und Rezeption eines überwiegend klassisch-romantischen Repertoires: Kultureller Austausch findet auf der Ebene der Werkinterpretation durch Aufführung bekannter Stücke, selten auf der Ebene der Werkschöpfung durch Aufführungen neuer Stücke statt. Diese Musealisierung des klassischen Konzertrepertoires erschwert die freie Entwicklung europäischer Musikkultur [...] “[42]
Allerdings ist möglicherweise quantitativ noch nie in einem Jahrhundert so viel neue Musik gehört worden wie im 20. Jahrhundert, insbesondere durch die technische Errungenschaften der Tonkonservierung, aber auch durch die sehr hohe Anzahl der auf Neue Musik spezialisierten Ensembles am Ende des 20. Jahrhunderts[43] ; im relativen Bereich und im Stellenwert hat sie aber möglicherweise noch nie einen so kleinen Erfolg im allgemeinen Hörerzuspruch gehabt. Außerdem scheint die öffentliche Kritik im 20. Jahrhundert einen größeren ausgeprägteren Rahmen als in vorangegangenen Jahrhunderten erhalten zu haben.
Insbesondere für diese Arbeit ist ausschlaggebend, inwieweit die erschwerte Rezeption, die die avantgardistischen, traditionsverneinenden Teile der Musik des 20. Jahrhunderts betrifft, mit dem Kriterium der Schönheit und Hässlichkeit zusammenhängt.
Die vielfache Ablehnung selber kann nicht als ein objektives Kriterium gelten, Schönheit der neuen Musik abzusprechen, denn erstens ist die Schönheit nur ein Teil eines umfassenderen Komplexes, der auch kognitive, affektive und assoziative Areale beinhaltet, der bei der Bewertung von Musik ausschlaggebend ist, zweitens sind die gängigen Kriterien der Schönheit einem stetigen, kulturell-sozial bestimmten Wandel unterlegen gewesen. So viel Kritik die neue Musik des 20. Jahrhunderts aushalten musste, ist es aber auf der anderen Seite auch bezeichnend, dass ihr die Attribute „unschön“ und „hässlich“ eher weniger entgegensprachen als die Attribute „unverständlich“, „sinnlos“, „zu komplex“ und „furchtbar“.
Am Ende des 20. Jahrhunderts blieb den Befürwortern und Förderern der neuen Musik nur die Hoffnung auf eine breitere Rezeption der Musik des 20. Jahrhunderts:
„Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass am Ende des 20. Jahrhunderts neue musikalische Ausdrucksformen auf ein breites und aufgeschlossenes Interesse treffen und dass die Präsentation zeitgenössischer Musik in den Konzertprogrammen zu einer Selbstverständlichkeit wird; gut möglich auch, dass vielleicht in wenigen Jahren schon ein waches Konzertpublikum die Trennung zwischen Musik der Gegenwart und Musik der Tradition nicht mehr kennt, weil die neue Musik zum selbstverständlichen Bestandteil des Repertoires geworden ist.“[44]
Die Erfüllung von Zimmermanns hoffnungsvoller Aussicht ist nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts schwerlich zu beurteilen. Aber die Suche nach einem größeren Publikum außerhalb eines elitären, akademischen Zirkels kann unter Umständen – falls die allgemein verbreitete These wahr ist, dass der Mensch sich an Schönheit orientiert und nach Hässlichem nur in Ausnahmefällen strebt, nur dann gelingen, wenn der Mensch auch Schönheit in den neu entstanden Werken des 20. Jahrhunderts erkennt.
Dass es sich hierbei nicht um ein einfaches, tradiertes und herkömmliches Verständnis der Schönheit handeln kann, wird im Folgenden zu zeigen sein.
2. Der Begriff der Schönheit im 20. Jahrhundert
Der Begriff des Schönen spielte im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen verschiedene Rollen: Von der philosophischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts weitgehend marginalisiert, gebrauchten die zwei großen Diktaturen des Nationalsozialismus und des Marxismus ihn zur Instrumentalisierung und Ideologisierung. Die Naturwissenschaft entdeckte und beanspruchte ihn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Untersuchungsgegenstand für sich, in der hedonistischen Erlebnisgesellschaft, die sich ab Ende der sechziger Jahre im westlichen Teil Deutschlands entwickelte, war die Schönheit und das Schöne im allgemeinen Verständnis ein Ausdruck des Körperlichen und wurde von den Medien und der Wirtschaft der Ökonomisierung unterworfen.
Im Folgenden wird versucht, die Bedeutung und Verwendung des Begriffes der Schönheit für das 20. Jahrhundert näher zu bestimmen und herauszuarbeiten, allerdings nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit in der Darstellung ästhetischer Positionen.
Hans Heinrich Eggebrecht beginnt seine essayistisch gehaltene Studie Die Musik und das Schöne mit der Feststellung, dass der Begriff der Schönheit grundsätzlich schwierig zu definieren ist:
„´Schön` ist ein schönes Wort, vielleicht das schönste, das es gibt. Und zugleich ist es dasjenige Begriffs- oder besser Empfindungswort, das am wenigsten definierbar ist – nicht nur, weil es so füllig, so voll ist in sich selbst, sondern auch weil es so herrlich subjektiv ist.“[45]
Seine Auffassung schränkt Eggebrecht am Ende seiner Abhandlung ein, indem er das Spiel als Grundlage der Musik ansieht, und weil spielen schön sei, so Eggebrecht, wäre auch die Musik schön. Diese Art einer sehr weit gefassten Definition lehnt sich einerseits an Schillers „Spieltrieb“ und Kants „interesseloses Wohlgefallen“ an, hat aber andererseits viele, im Verlauf von etwa 2600 Jahren abendländischer Zeit- und Geistesgeschichte entstandene, eingeschränktere, klarer und präziser definierte Vorläufer, die sich auf die Erscheinungen der abendländischen Kunst auswirkten; es ließ sich zu dieser Art der Definition aber einwenden, dass der Begriff des Spielens nicht weniger vage als der der Schönheit oder der der Kunst ist. Beim grausamen Spielen, dem Kriegspielen und dem leichtsinnigen Spielen müsste geklärt werden, dass es sich bei diesen Spielformen nicht um das Spielen handelt bzw. dass dieses nicht den Kern des Aktes des Spielens selbst berührt. Ob das Wort ´schön` tatsächlich und ausschließlich ein Empfindungswort ist, wird im dritten Kapitel diskutiert.
Doch soll zunächst der Blick auf die Wortgeschichte des Schönen geworfen werden. Die sprachlichen Vorläufer des Wortes schön, beispielsweise im Indogermanischen sqeu, im Germanisch-Gotischen skauni und dem Althochdeutschen skoni, bezeichneten wahrscheinlich eine Beziehung zum Sensitiv-Affektiven, zum Wahrnehmen und zum sinnlichen Tätigsein mit der Bedeutung „ansehnlich, glänzend, rein, herrlich, gut“ und „angenehm“ und steht in einem begrifflichen Kontext zu den Wörtern „scheinen“ und „schonen“.[46]
Das lateinische Äquivalent pulchritudo kann neben „Schönheit“ ebenso „Trefflichkeit“ und „Herrlichkeit“ bedeuten[47], während das explizite Gegensatzwort deformitas mit „Missförmigkeit, Missgestaltigkeit, Entstellung, Verbildung“ übersetzt wird.[48] Turpitudo, das mit „Hässlichkeit, Schändlichkeit, Schimpflichkeit, Unsittlichkeit, Schmach“ übersetzt wird[49], bezeichnet wohl aber erst im Eigentlichen „Hässlichkeit“, mit moralisch abwertenden Implikationen versehen, während interessanterweise Karl Ernst Georges zur Übersetzung des Wortes deformitas erst nach der oben genannten Grundübersetzung die Worte „und in diesem Sinne = die Häßlichkeit, das Häßliche“ hinzufügt. Er unterliegt damit wahrscheinlich der im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch beherrschenden Vorstellung, dass das Missgestaltete, Unproportionierte, Entstellte dem Hässlichen gleich ist.
Weiter ist eigenartig, dass zu turpitudo kein spezifisches Gegensatzwort vorliegt. Es müsste allerdings - als Gegensatz von Hass - amor sein. Außerdem wäre dignitas denkbar, das Georges mit „Würdigkeit, Tüchtigkeit“ und „imponierende Schönheit“ übersetzt.[50]
Der im Deutschen vorliegende Dualismus Schönheit zu Hässlichkeit ist also ebenso nicht ganz korrekt, wie der von pulchritudo zu turpitudo nicht korrekt wäre , denn einerseits bezeichnet pulchritudo auch das Treffliche oder Herrliche, das durchaus auch hassenswert sein könnte, andererseits kann die Entstellung, die Missgestaltigkeit der deformitas auch geliebt werden und damit nicht hässlich sein. Das deutsche Wort der Schönheit bezeichnet also auch das Liebliche und Liebenswerte, sonst dürfte der Gegensatz nicht das Hässliche sein. Andererseits umfasst pulchritudo auch schon mehr Bezeichnungen als die bejahte Verneinung formitas, das lediglich mit „Gestaltung“ übersetzt wird. Der Wortbegriff des Schönen drückt also eine ästhetische Wertschätzung aus, die von vorn herein in vielerlei Hinsicht ausgelegt werden kann. Der Begriff entzieht sich somit auf der einen Seite der näheren Bestimmung und Definierbarkeit, ist aber auf der anderen Seite der Möglichkeit der einseitigen Ausnutzung ausgeliefert.
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[1] Vgl.: Dieter Wuttke: „Über den Zusammenhang der Wissenschaften und Künste“, Wiesbaden 2003.
[2] Hans Heinrich Eggebrecht: „Die Musik und das Schöne“, München 1997, S. 45.
[3] Neben wenigen erschienenen Aufsätzen befindet sich eine Publikation Ende September 2005 noch im Druck: Marion Demuth (Hrsg.): „Schönheit aus verweigerter Gewohnheit“, (=Kolloquiumsbericht zu den 14. Dresdner Tagen zeitgenössischer Tagen Musik 2000)[Das Typoskript stellte der Verlag nicht zur Verfügung].
[4] Siehe unten, Verzeichnis der verwendeten Literatur, S. 77-83.
[5] Henriette Zehme: „Zeitgenössische Musik und ihr Publikum“, Regensburg 2005, S. 11.
[6] Claus-Steffen Mahnkopf: „Kritik der neuen Musik“, Kassel 1998, S. 1.
[7] Ebenda: S. 13
[8] Franz Sauter: „Die tonale Musik“, Festvortrag beim Symposium 20 Jahre Harmonia Classica am 20.04.2002, auf: www.tonalemusik.de/tm/vortrag_1.htm; siehe auch: ders.: „Die tonale Musik. Anatomie der musikalischen Ästhetik, 3. erg. Auflage, Hamburg 2003.
[9] Dieter Schnebel: „Über Schönheit und Hässlichkeit in Musik heute“, (= „Münchener Kommentar“ bei den Konzerten Neue Musik am 27.1.1981), in: Neuland. Ansätze zur Musik der Gegenwart 2, Köln 1982, S. 128.
[10] Vgl.: Imre Omray (Hrsg.): „Sie irrten sich, Herr Kritiker”, Leipzig 1961.
[11] zit. nach: Hans Heinrich Eggebrecht: „Bach – wer ist das? Zum Verständnis der Musik Johann Sebastian Bachs“, München 1992, S. 187.
[12] zit. nach Omray, S. 22.
[13] zit. nach: Theo Hirsbrunner: "Debussy und seine Zeit", Laaber 1981, S. 23.
[14] zit. nach Omray, S. 62.
[15] Erich Doflein: „Musik – Heute. Entwurf einer Diagnose“, in: Prisma der gegenwärtigen Musik. Tendenzen und Probleme des zeitgenössischen Schaffens, hrsg. von Joachim E. Berendt u. Jürgen Uhde, Hamburg 1959, S.52 f.
[16] zit. nach Martin Vogel: „Schönberg und die Folgen. Die Irrwege der neuen Musik“, Teil 1: Schönberg (= Orpheus Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 35), Bonn 1984, S. 477.
[17] Vgl.: Hermann Danuser: „Die Musik des 20. Jahrhunderts“ (Neues Hb. der Mw. 7), Laaber 1992, S. 118 f.
[18] Erich Wolff, Carl Petersen: „ Das Schicksal der Musik von der Antike zur Gegenwart“, Breslau 1923, S. 257 f.; zit. nach Albrecht Dümling: „Neue Musik als wildeste Anarchie“, in: Entartete Musik. Eine kommentierte Rekonstruktion, (= Katalog, hrsg. von Albrecht Dümling und Peter Girth), Düsseldorf 1988, S. 37.
[19] Adolf Hitler: „Führerworte an den deutschen Musiker“ (Reichsparteitagsrede 1938), in: Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer, 15.9.1938, abgedruckt bei ders.: „Arisierung der Gefühle. Goebbels´ Kampf um die deutsche Seele“, in: Entartete Musik. Eine kommentierte Rekonstruktion,
S. 62.
[20] Wilhelm Furtwängler: „Aufzeichnungen 1924 – 1954“, Wiesbaden 1980, S. 89.
[21] Wilhelm Furtwängler: „Gespräche über Musik“, o.A. d. O. 1949.
[22] Vgl. Reinhard Löw: "Über das Schöne", Stuttgart 1994, S. 52.
[23] Ernst Hermann Meyer: „Musik im Zeitgeschehen“, Berlin 1952, S. 195.
[24] Ebenda: S. 196.
[25] Margot Attenkofer: „Pressespiegel 1945 – 1963“, in: Renata Wagner (Hrsg.): Karl Amadeus Hartmann und die Musica Viva, München 1980, S. 119 – 140.
[26] Hans Hagen: „Der Scherbenhaufen“, in: Echo der Woche vom 15.12.1950, abgedruckt bei Attenkofer, S. 127.
[27] Burhard Freudenfeld: „Sie pfeifen nicht mehr“, in: Sonntagsblatt vom 14. 03. 1954, abgedruckt bei Attenkofer, S. 133.
[28] Hermann Matzke: „Musikgeschichte der Welt. Ein Überblick“, 2. erg. und erw. Auflage, Berlin 1961, S. 184.
[29] Hellmut Federhofer: „Ergebnisse aus Hörversuchen mit neuer Musik“ (veröffentlicht in: Musikerziehung 26, 1972/73, S. 104-106), in: Neue Musik als Widerspruch zur Tradition (=Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 100), Bonn 2002, S. 24-27.
[30] Marie-Luise Fuhrmeister, Eckart Wiesenhütter: „Metamusik. Psychosomatik der Ausübung zeitgenössischer Musik“, München 1973.
[31] Ebenda: S. 75.
[32] Ebenda: S. 44 ff.
[33] Ebenda: S. 80.
[34] Ebenda: S. 81.
[35] Siehe oben, S. 11.
[36] Vgl.: Zehme: „Zeitgenössische Musik und ihr Publikum“, S. 29.
[37] Ebenda: S. 11.
[38] Ebenda: S. 189.
[39] zit. nach Renate Ulm: „Eine Sprache der Gegenwart – musica viva 1945-1995“, Mainz 1995, S. 284.
[40] Paradigmatisch und vielfach genannt ist der Wechsel in den Kompositionsverfahren im Werk Krzystof Pendereckis, der sich nach langer Zeit experimentellen Komponierens wieder der tonalen Kompositionsweise zuwandte. Vgl. auch: Helga de la Motte-Haber (Hg.): „Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975 - 2000“ (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 4), Laaber 2000, S. 20 f.
[41] Hierzu liegen noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor. Es ist anzunehmen, dass diese Werke genauso wie die „traditionsbejahenden“ in die Gestaltung der gängigen Konzertreihen der Symphonieorchester Eingang gefunden haben.
[42] auf: www.newclassical.de/forschinnovationeuropa_d.htm.
[43] Das deutsche Musikinformationszentrum verzeichnet über 170 auf neue Musik spezialisierte Ensembles. Siehe: www.miz.org
[44] Udo Zimmermann: „Editorial“, in: Musica Viva 1999/2000 Programmheft, hrsg. vom Bayerischen Rundfunk, München 1999.
[45] Hans-Heinrich Eggebrecht: „Die Musik und das Schöne“, München 1997, S. 45.
[46] Vgl.: Art. „schön“, in: Grimmsches Wörterbuch, Bd. 15, Leipzig 1899, Reprint München 1984, Sp. 1465 ff., außerdem: Art. „schön“, in: „Etymologisches Wörterbuch des Deutschen“ (erarb. im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin), Berlin 1993, S. 1236.
[47] Vgl.: „Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch“, hrsg. von Karl Ernst Georges, Bd. 2, Leipzig 1913, Reprint Darmstadt 1995, Sp. 2075.
[48] Ebenda: Bd. 1, Sp. 1984.
[49] Ebenda: Bd. 2, Sp. 3266.
[50] Ebenda: Bd. 1, Sp. 2155.