Die Arbeit untersucht kritisch die Auswirkungen, die die in § 406e Abs. 1 StPO vermittelten Informations- und Beteiligungsrechte des Nebenklägers und seines Vertreters im Strafprozess auf die Wahrheitsfindung im Strafverfahren unter aussagepsychologischen und rechtlichen Gesichtspunkten haben können.
Seit Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes 1987 ist eine stetige Entwicklung legislativer Maßnahmen zur Verbesserung der Rechte des Verletzten im Strafverfahren zu verzeichnen, wobei sich insbesondere der Nebenkläger zu einer dem Beschuldigten nahezu gleichrangigen Figur aufgeschwungen hat. Beschränkte sich die Mitwirkung des Verletzten einst noch auf die Zeugeneigenschaft, so ist er heute in der Rolle des Nebenklägers als vollwertiges Verfahrenssubjekt anzusehen. Der Nebenkläger wird durch die ihm gem. §§ 397 ff. zustehenden Rechte bemächtigt, auf den Prozessverlauf, den Schuldspruch und die Strafzumessung Einfluss zu nehmen.
Da diese auf der Grundlage der ermittelten Wahrheit fußen (§§ 244 II, 261), ist damit auch eine Beeinflussung der Wahrheitsfindung gemeint. Problematisch wird dies, wenn der Nebenkläger zugleich als Zeuge auftritt und damit sowohl Prozesssubjekt ist, welches bei der Wahrheitsfindung aktiv mitwirkt, als auch Beweismittel, welches der Beweiswürdigung unterliegt. Die Rechtspraxis zeigt, dass vor allem Opfer von Sexual- und Gewaltdelikten von der Nebenklage Gebrauch machen. Angesichts der bei Sexualdelikten ohnehin gegebenen Beweisschwierigkeiten basierend auf der Tatsache, dass der Nebenkläger häufig den einzigen Belastungszeugen darstellt, sodass im Prozess Aussage gegen Aussage steht, ist die Gefahr einer im Beweiswert getrübten Zeugenaussage besonders problematisch.
Gliederung
Literaturverzeichnis
A. Problemaufriss - Die wahrheitsgefährdende Doppelfunktion des Nebenklägers als Prozesssubjekt und Belastungszeuge. XVIII
B. Gefährdung der Wahrheitsfindung durch Beteiligungsrechte
I. Informationsrechte des Nebenklägers und ihre Auswirkung auf die Wahrheitsfindung
1. Gefahr durch Akteneinsicht gem. § 406e StPO
a) Aktenkenntnis als Risiko für Wahrheitsgehalt und Zuverlässigkeit der Zeugenaussage
aa) Gefahr der intentional „präparierten“ Zeugenaussage
bb) Gefahr der Vermischung von real Erlebtem mit Aktenkenntnis auch beim redlichen Zeugen
cc) Fazit
b) Konsequenzen für die Wahrheitsfindung – Probleme der Glaubhaftigkeitsprüfung
aa) Aussagequalität
(1) Aussageimmanente Realkriterienanalyse
(2) Aussageübergreifende Konstanzanalyse
bb) Aussagezuverlässigkeit
cc) Fazit
c) Die Versagungsmöglichkeit des „gefährdeten Untersuchungszwecks“ gem. § 406e II 2 Var. 2 – Meinungsstand
aa) Generelle Versagung der Akteneinsicht bis zur abschließenden richterlichen Vernehmung
bb) Versagung nur bei konkreten Anhaltspunkten oder erkennbarer Absicht einer „präparierten“ Zeugenaussage
cc) Akteneinsicht unter Auflagen – „Anwaltslösung“
dd) Regel-Ausnahme-Prinzip: Akteneinsichtgewährung nur bei untergeordneter Bedeutung der Zeugenaussage oder Geständnis des Angeklagten
ee) Ermessensreduzierung auf Null in „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellationen
ff) Stellungnahme
2. Gefährdung durch Gehörsrechte gem. § 397 I 4,5
a) Gefährdung durch Gehörsrecht gem. § 219 II i.V.m. § 397 I 5
aa) Analoge Anwendung des § 406e II
bb) Teleologische Reduktion
b) Gefährdung durch Gehörsrecht gem. § 201 I i.V.m. § 397 I
aa) Teleologischer Rückgriff auf § 406e II
bb) Anwendung der allg. Regelungen nach §
c) Fazit
3. Gefährdung durch Gehör bei Bekanntgabe der Anklageschrift gem. § 201 I
4. Fazit
II. Gefährdung der Wahrheitsfindung durch Gestaltungsrechte
1. Gefährdung der Wahrheitsfindung durch Anwesenheitsrecht gem. § 397 I
a) Gefährdung
b) Rechtspraxis
c) Einlassung des Angeklagten erst nach Zeugenaussage des Nebenklägers
2. Fazit
C. Stellungnahme
D. Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Problemaufriss: Die wahrheitsgefährdende Doppelfunktion des Nebenklägers als Prozesssubjekt und Belastungszeuge
Noch in der germanischen Zeit war das Opfer einer Straftat selbst für deren Verfolgung mittels Privatrache, Fehde oder Einleitung eines Verfahrens vor dem Volksgericht (Thing) zuständig.1 Erst mit Einführung der CCC und dem Inquisitionsprozess im Jahr 1532 wurde der Strafprozess in staatliche Hand gelegt, wodurch der Verletzte seinen Status als autonom handelnder Akteur im Strafverfahren verlor.2 Daran änderte sich zunächst auch im reformierten Strafprozess mit Aufkommen der Staatsanwaltschaft als Anklageorgan nichts.3 Vielmehr beschränkte sich die Funktion des von der Straftat Betroffenen weitgehend auf die der Zeugeneigenschaft, während die Umwälzungen der Aufklärungsphilosophie mit ihrem humanistischen und an die Vernunft des Menschen appellierendem Gedankengut auf die Entdeckung des „Verletzten“ in der Person des Beschuldigten abzielten, welcher bis dato nicht selten Opfer von Willkür, Obrigkeitsdenken sowie zweifelhafter Beweismethoden geworden war.4 Das Misstrauen, welches sich gegenüber dem Inquisitionsprozess und dem Inquisitor als zentrale Figur des Strafverfahrens entwickelt hatte, richtete sich alsbald auch gegen die Staatsanwaltschaft.5 Man befürchtete Willkür und Missbrauch der aus der Ermittlungs- und Anklageposition erwachsenen Machtstellung – oder im Sinne einer nachlässigen Straftatenverfolgung genau das Gegenteil.6 Vor diesem Hintergrund wurde 1877 mit der RStPO das Institut der Nebenklage als Annex zur Privatklage und dem Klageerzwingungsverfahren eingeführt mit dem Ziel, die Strafverfolgung durch Verdoppelung der Anklageseite zu stärken und einen von Staatsanwaltschaft und Legalitätsprinzip unabhängigen Schutz der Strafverfolgung zu gewährleisten.7
Nach zahlreichen Erweiterungen der anschlussfähigen Delikte und einer beinahen Abschaffung der Nebenklage in der NS-Zeit befasste sich im Herbst 1984 der 55. DJT mit der Rechtsstellung des Verbrechensopfers, wobei vor allem Rieß für eine Neubestimmung der Opferrolle plädierte.8 Durch das Opferschutzgesetz von 1986 wurde die Nebenklage schließlich von den Privatklagebefugnissen abgelöst und erhielt einen eigenen Deliktskatalog, der gegensätzlich zu den vorherigen bagatellhaften Privatklagedelikten schwerwiegende Delikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter umfasste, bei welchen eine besondere Schutzbedürftigkeit und ein hohes Genugtuungsinteresse des Opfers besteht.9 Ziel war es, dem Opfer einer Straftat die Möglichkeit der eigenen Tatsachendarstellung und Verteidigungsrechte gegen Verantwortungszuweisungen durch den Beschuldigten an die Hand zu geben.10 Die legislatorische Entwicklung zeigt seither eine kontinuierliche Verbesserung der Offensiv- und Informationsrechte des Nebenklägers zur Durchsetzung seines Parteistandpunktes.11 Dies wird in der rechtspolitischen Diskussion längst nicht nur positiv bewertet, da die Aktivrechte des Nebenklägers in ein Spannungsverhältnis zu den Grundsätzen der Unschuldsvermutung, der Effektivität der Verteidigung, der Abwendung vom Vergeltungsstrafrecht sowie der Wahrheitsfindung treten.12
Die potentielle Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung durch die Beteiligungsrechte des Nebenklägers und seines Vertreters soll Gegenstand der folgenden Untersuchung sein. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was man unter „Wahrheit“ im Strafprozess zu verstehen hat:
„Wahrheitsermittlung im Strafverfahren erfolgt nicht um ihrer selbst willen.“13 - Vielmehr ist die Wahrheitsfindung durch Gerichte und Staatsanwaltschaft nach dem Ermittlungsgrundsatz (§§ 155 II, 160 II, 244 II StPO) notwendige Bedingung einer materiell gerechten Entscheidung sowie der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs.14 Weil der Verfahrensgegenstand – die vermeintliche Straftat – im Strafprozess regelmäßig in der Vergangenheit liegt, kann die Wahrheit streng genommen niemals „gefunden“, sondern lediglich rekonstruiert werden.15 Als „Wahrheit“ soll in diesem Sinne der „wahre Sachverhalt“, wie er sich durch Rekonstruktion mit den rechtlichen Mitteln des Strafverfahrens zugetragen zu haben scheint, zugrunde gelegt werden.16 Dabei gelten im Wesentlichen die Prinzipien des Amtsaufklärungsgrundsatzes, des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung.17 Da es im Strafverfahren divergierende Wirklichkeitsauffassungen gibt, stellt sich kein Anspruch an eine erkenntnistheoretische Wahrheit – die Amtsaufklärungspflicht fordert vielmehr die Intention der Wahrheit bei freier Überzeugungsbildung des Gerichts ohne Bindung an die Wünsche der Prozessparteien (§§ 261, 244 II StPO).18 Der Zeuge stellt dabei ein zentrales Beweismittel dar, das für die Überzeugungsbildung der Gerichte entscheidend und für die Ermittlung der Wahrheit unverzichtbar ist.19 Durch die §§ 395 ff. StPO soll auch der Nebenkläger als maßgeblich Betroffener in den Rekonstruktionsprozess der Wahrheitsfindung miteinbezogen werden.20
Seit Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes 1987 ist eine stetige Entwicklung legislativer Maßnahmen zur Verbesserung der Rechte des Verletzten im Strafverfahren zu verzeichnen, wobei sich insb. der Nebenkläger zu einer dem Beschuldigten nahezu gleichrangigen Figur aufgeschwungen hat.21 Beschränkte sich die Mitwirkung des Verletzten einst noch auf die Zeugeneigenschaft, so ist er heute in der Rolle des Nebenklägers als vollwertiges Verfahrenssubjekt anzusehen.22 Der Nebenkläger wird durch die ihm gem. §§ 397 ff. zustehenden Rechte bemächtigt, auf den Prozessverlauf, den Schuldspruch und die Strafzumessung Einfluss zu nehmen.23 Da diese auf der Grundlage der ermittelten Wahrheit fußen (§§ 244 II, 261), ist damit auch eine Beeinflussung der Wahrheitsfindung gemeint. Problematisch wird dies, wenn der Nebenkläger zugleich als Zeuge auftritt und damit sowohl Prozesssubjekt ist, welches bei der Wahrheitsfindung aktiv mitwirkt, als auch Beweismittel, welches der Beweiswürdigung unterliegt. Die Rechtspraxis zeigt, dass vor allem Opfer von Sexual- und Gewaltdelikten von der Nebenklage Gebrauch machen.24 Angesichts der bei Sexualdelikten ohnehin gegebenen Beweisschwierigkeiten basierend auf der Tatsache, dass der Nebenkläger häufig den einzigen Belastungszeugen darstellt, sodass im Prozess Aussage gegen Aussage steht, ist die Gefahr einer im Beweiswert getrübten Zeugenaussage besonders problematisch.25
B. Beteiligungsrechte des Nebenklägers und ihre Auswirkung auf die Wahrheitsfindung
Der Gesetzgeber hat in § 58 I i.V.m. § 243 I, II 1 das Erfordernis einer unbefangenen, selbstständigen und unbeeinflussten Zeugenaussage zur Erreichung des Ziels der Wahrheitsfindung zum Ausdruck gebracht.26 Die §§ 395 ff. statuieren dagegen die Zugänglichmachung von Ermittlungsergebnissen sowie Mitwirkungsbefugnisse in der Hauptverhandlung, was dem besagten Schutzzweck insoweit zuwider laufen könnte, als dass dadurch die Unbefangenheit und Zuverlässigkeit der Zeugenaussage beeinträchtigt wird.27 Die Beteiligungsrechte des Nebenklägers können in Informations- und Gestaltungsrechte unterteilt werden. Da diese Rechte hstl. ihrer Auswirkungen auf die Wahrheitsfindung untersucht werden, können die dem Nebenkläger und seinem Vertreter außerhalb des Erkenntnisverfahrens zustehenden Rechte ausgenommen werden.
I. Informationsrechte des Nebenklägers und ihre Auswirkung auf die Wahrheitsfindung
Zu den Informationsrechten des Nebenklägers zählt das Recht auf Akteneinsicht durch einen Anwalt gem. § 406e I, das Recht auf Gehör gem. § 397 I 4, 5 sowie das Recht auf Mitteilung nach § 201 I.
1. Gefahr durch Akteneinsicht gem. § 406e StPO
Gem. § 406e I hat der zur Nebenklage Zugelassene ein Recht auf Akteneinsicht durch einen Anwalt (§ 406f I), ohne dafür ein „berechtigtes Interesse“ vortragen zu müssen. Dadurch soll ihm eine Prüfungsmöglichkeit an die Hand gegeben werden, ob er eine Einstellungsbeschwerde gem. § 172 I einzulegen gedenkt, ein Klageerzwingungsverfahren beschreiten möchte oder ob zivilrechtliche Ansprüche gegen den Beschuldigten bestehen.28 Die Akteneinsicht umfasst Einsichtnahme in Ermittlungs-, Gerichts- und Beweismittelakten.29
a) Aktenkenntnis als Risiko für Wahrheitsgehalt und Zuverlässigkeit der Zeugenaussage
aa) Gefahr der intentional „präparierten“ Zeugenaussage
Schon 1986 kritisierte Schünemann die aus dem anwaltlichen Akteneinsichtsrecht und der Befugnis zur Hinzuziehung eines Anwalts nach § 406f erwachsene Möglichkeit, die Aussage „lückenlos den bereits vorliegenden Beweisergebnissen anzupassen, je nach Prozesslage ‚stromlinienförmig’ auszugestalten und letztlich unter der Firma der Wissensbekundung Parteistatements zum Zweck der eigenen Interessensverfolgung in den Prozess einzuschleusen“.30 Der Nebenkläger wird rglm. ein gehöriges Interesse an der Verurteilung des Angeklagten haben: Neben dem Bedürfnis nach ideeller Genugtuung31 kann ein Interesse an einer finanziellen Schadenswiedergutmachung durch Adhäsion oder an der Erlangung von Beweistatsachen durch das Strafgericht, welche die Geltendmachung von Ansprüchen im Zivilverfahren erleichtern, bestehen.32 Auch der Wunsch nach Anerkennung und Bestätigung der eigenen Opferposition durch den Schuldspruch ist nicht zu unterschätzen.33 So ging aus Interviews mit Nebenklageanwälten hervor, dass Prozessaktivitäten primär mit dem Ziel unternommen werden, die Schuld des Angeklagten festzustellen und auf eine aus Sicht des „Opfers“ angemessene Strafe hinzuwirken.34
Der Rechtsanwalt, der für den Nebenkläger das Akteneinsichtsrecht ausübt, wird diesem rglm. Auszüge aus der Akte zukommen lassen (§ 406e V) oder ihn im Mandantengespräch über deren wesentliche Inhalte informieren, um ihn sachgemäß auf die Hauptverhandlung vorzubereiten.35 Der Nebenkläger kann sich also über den Sachstand der Ermittlungsergebnisse, die Aussagen anderer Zeugen sowie des Angeklagten informieren, wodurch er in die Lage versetzt wird, seine eigene Aussage so anzupassen, wie es der eigenen Interessensverfolgung entspricht - im schlimmsten Fall ist eine bewusste Verfälschung der bevorstehenden Aussage des Nebenklägers aufgrund des bekannten Akteninhalts dahingehend zu befürchten, dass Unstimmigkeiten eigener, vorangegangener Aussagen abgemildert oder korrigiert oder bewusst Sachverhaltsvarianten gewählt werden, welche die Logik der Einlassung des Beschuldigten konterkarieren.36
bb) Gefahr der Vermischung von real Erlebtem mit Aktenkenntnis beim redlichen Zeugen
Eine Gefährdung der Wahrheitsfindung kommt indessen auch beim redlichen Zeugen in Betracht: Durch Akteneinsicht können Erinnerungen erst geboren werden, indem real Erlebtes mit den Inhalten aus der Akte unbewusst vermischt wird.37 Generell gilt: je größer der Zeitraum zwischen Wahrnehmung des streitigen Sachverhalts und Zeugenvernehmung vor Gericht, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Erinnerung von dem originären Ereignis abweicht.38 Das menschliche Gedächtnis arbeitet rekonstruktiv – eine Zeugenaussage ist daher nicht allein das Ergebnis einer individuellen kognitiven Leistung, sondern immer auch interaktives Produkt einer erbrachten Rekonstruktionsleistung, bei der Kommunikationsvorgänge und nachträgliche Informationen mit einfließen.39 Dabei kann eine Verfälschung sowohl durch das Lesen des vom Anwalt zur Verfügung gestellten Akteninhalts als auch durch das Gespräch mit diesem eintreten.
Das Phänomen der Einbettung nachträglicher Informationen in die eigene Aussage wird als „Falschinformationseffekt“ bezeichnet: Das ursprünglich Erlebte wird zunächst aufgenommen, verarbeitet und abgespeichert. Nachträgliche, dasselbe Ereignis betreffende Informationen führen dazu, dass die Originalinformation neu aktiviert wird.40 Ob es hier zu einer Überschreibung der originären durch die neue Informationen kommt, originäre und nachträgliche Information koexistieren, die Originärinformation nur schwerer abrufbar ist oder die Informationsquelle fehlerhaft zugeordnet wird, sodass fremde Details als eigene Wahrnehmung eingestuft werden, ist in der empirischen Forschung umstritten.41 Fest steht, dass eine systematische Verfälschung des originären Gedächtnisinhaltes sogar bis in das zentrale Kerngeschehen durch nachtägliche Informationen möglich ist.42 Diese fremdsuggestive Beeinflussung ist nach dem empirischen Forschungsstand selbst dann nicht auszuschließen, wenn die Person darauf hingewiesen wurde, die nachträgliche Information nicht mit der originären zu vermischen.43
Laboruntersuchungen zeigen außerdem, dass Versuchspersonen in der Zeugenrolle besonders empfänglich für Beeinflussungen sind, wenn sie denken, dass der Fragesteller die Wahrheit tatsächlich kennt und sie selbst tatsächlich unsicher sind oder sie sich der Einschätzung eines Experten, dem sie eine hohe Seriosität zuschreiben, gegenübergestellt sehen.44 Eine Aussageanpassung an den Akteninhalt kann daher auch durch „Konformitätsdruck“ entstehen, denn der Nebenkläger wird rglm. von der Ermittlungsübermacht der als fachkundigen empfundenen Staatsanwaltschaft, die den Inhalt der Akten wesentlich bestimmt, ausgehen.45
Zuletzt kann sich das bereits angesprochene Interesse des Nebenklägers, seine Opferposition bestätigt zu sehen, auch unbewusst durch autosuggestive Prozesse in Form der Selbstbestätigung auf sein Aussageverhalten auswirken, indem der Akteninhalt genutzt wird, um vorgefasste Überzeugen zu untermauern, bestätigen und zu stärken.46
cc) Fazit
Ein verfälschender Einfluss der Aktenkenntnis auf die Zeugenaussage des Nebenklägers kann - sowohl willkürlich als auch unwillkürlich - durch fremd- oder autosuggestive Einflüsse erfolgen.
b) Konsequenzen für die Wahrheitsfindung – Probleme der Glaubhaftigkeitsprüfung
Dies wirft die Frage auf, inwieweit das Gericht oder ein Sachverständiger unter Hinzuziehung der methodischen Standards der Glaubhaftigkeitsbegutachtung in der Lage ist, den Realitätsgehalt der Aussage zu beurteilen und damit den Risikofaktor, den das Akteneinsichtsrecht für die Wahrheitsfindung darstellt, zu kompensieren.
Unter der Prämisse, dass die Würdigung der Aussage des Nebenklägers von eklatanter Bedeutung ist, da das Schicksal des Angeklagten – Frei- oder Schuldspruch – gerade in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen von der Überzeugung des Gerichtes über deren Glaubhaftigkeit abhängt, muss das Gericht besonders hohen Anforderungen gerecht werden.47 Bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung geht es nach der Grundsatzentscheidung des BGH 1999 darum festzustellen, ob es gewichtige Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Aussage auf einer anderen Basis als tatsächlichen Erlebniserinnerungen zustande gekommen sein könnte, wobei man – dem Grundsatz in-dubio-pro-reo und der Unschuldsvermutung nach Art. 6 II EMRK folgend – von der sog. Nullhypothese ausgeht (Annahme, die Aussage sei nicht erlebnisfundiert).48 Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung fußt auf den drei Säulen der Aussagefähigkeit (Ausschluss individueller Leistungsdefizite), Aussagequalität (Ausschluss intentionaler Falschaussagen) und der Aussagezuverlässigkeit (Ausschluss nicht-intentionaler Aussagefehler).49 Da die Aussagefähigkeit ein Kriterium ist, das zum Zeitpunkt der (ersten) Aussage in der Person des Zeugen liegt, kann der Akteneinsicht in dieser Hinsicht keine verfälschende Beeinflussung zugesprochen werden.
aa) Aussagequalität
Zur Unterscheidung erlebnisentsprechender von ausgedachten Aussagen dient die kriterienorientierte Inhaltsanalyse, der die Erwartung zugrunde liegt, dass ein falsch aussagender Zeuge hohe kognitive Anstrengung erbringen muss, um glaubhaft zu wirken, weshalb er den Sachverhalt inhaltlich weniger qualitativ wiedergeben kann, als wenn er ein Ereignis tatsächlich erlebt hat.50 Die Aktenkenntnis wirkt sich dabei besonders auf die Realkriterien- und Konstanzanalyse aus:
(1) Aussageimmanente Realkriterienanalyse
Die Analyse der Aussagequalität lässt sich anhand von Realkriterien durchführen. Darunter fallen u.a. logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten, spontane Verbesserungen, deliktsspezifische Aussageelemente etc.51 Je mehr Realkennzeichen in der Schilderung des Zeugen wiederzufinden sind, desto stärker wird der Hinweis auf ein tatsächlich erlebtes Ereignis gewertet.52 Einer solchen Analyse wird der Boden entzogen, wenn der Zeuge Akteneinsicht erhält und seine Aussage anhand der Informationen logischer und detailreicher schildert kann, wobei Schwenn darauf hinweist, dass das Einstreuen erfundener Realkennzeichen dem vertretenen Nebenkläger „verdächtig oft besser“ gelingt.53
(2) Aussageübergreifende Konstanzanalyse
Ein weiteres wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse ist die Konstanzanalyse: Ausgehend von der Annahme, dass erlebte Ereignisse in ihrem Kerngeschehen stärker, prägnanter und länger im Gedächtnis verankert sind als solche, die nur erfunden sind, bezieht sich die Konstanzanalyse auf aussageübergreifende Merkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu verschiedenen Zeitpunkten ergeben.54 Lässt sich eine Konstanz der beiden Aussagen feststellen, ist dies als Indiz für einen stabilen Gedächtnisinhalt und damit eine wahre Erlebnisgrundlage zu werten.55 Es ist unschwer zu erkennen, dass es bei einem Zeugen, der durch Akteneinsicht sein Gedächtnis „auffrischen“ konnte und seine eigenen früheren Angaben zur Sache kennt, an einer validen Grundlage für eine Konstanzprüfung fehlt.56 Eine sichere Unterscheidung zwischen der Wiedergabe real erlebten Geschehens und schlichtem Referieren der zuvor im Wege der Einsicht in die Verfahrensakten zur Kenntnis genommenen Inhalte früherer Vernehmungen ist dann nicht mehr möglich ist, wie auch der 1. Senat des OLG Hamburg jüngst feststellte.57
bb) Aussagezuverlässigkeit
Die kriterienorientierte Inhaltsanalyse dient allein der Unterscheidung von erlebten und erfundenen Aussagen, sagt aber nichts über die Differenzierung erlebnisbasierter von suggerierten Aussagen aus, weil die Person sich bei diesen nicht darauf konzentrieren muss, einen glaubwürdigen Eindruck vor Gericht zu hinterlassen und ein „Lügeverhalten“ somit ausbleibt.58 Die Leitfrage zur Prüfung der Aussagevalidität besteht daher darin, ob die internen und externen Rahmenbedingungen der Aussageentstehung und -geschichte frei sind von Störungen, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können.59 Dafür bedarf es einer differenzierten Betrachtung der Höhe und Vielfältigkeit des dem Akteneinsichtsrecht innewohnenden Suggestionspotentials.60 Dass das Risiko einer suggestiven Beeinflussung durch Akteneinsicht gegeben ist, wurde bereits festgestellt. Inwieweit eine Begutachtung der Aussage noch möglich ist, ist je nach Einzelfall zu beurteilen – für den Fall, dass eine massive Beeinflussung nicht ausgeschlossen werden kann, sodass die Glaubhaftigkeitsmerkmale nicht mehr als zuverlässig eingestuft werden können, kann die Erlebnishypothese weder angenommen noch abgelehnt werden.61
cc) Fazit
Durch Aktenkenntnis des Nebenklägers werden die klassischen Glaubhaftigkeitskriterien entwertet. Zwar ist dies im Rahmen der Beweiswürdigung der Zeugenaussage gem. § 261 zu berücksichtigen, allerdings erfolgt diese meist intuitiv62 - bei einer in sich stimmigen Aussage bleiben solche Zweifel, die sich bei divergierenden Aussagen automatisch einstellen, meist aus, sodass das Risiko einer unreflektierten und damit fehlerhaften Glaubhaftigkeitsunterstellung durch den Richter sich intensiviert.63 Zu einer Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung kommt es ferner auch dann, wenn das Gericht oder der Gutachter aufgrund der Untauglichkeit der Analyseinstrumente beim Zeugen mit Aktenkenntnis die Nullhypothese nicht zurückweisen kann, da der Beweiswert der u.U. einzigen Zeugenaussage damit gegen Null geht. Von einer erschöpfenden Heranziehung aller zugezogenen Beweismittel64 zur bestmöglichen Wahrheitserforschung (§ 244 II), um das Risiko eines Fehlurteils denkbar gering zu halten, kann dann nicht mehr die Rede sein.65
c) Die Versagungsmöglichkeit des „gefährdeten Untersuchungszwecks“ gem. § 406e II 2 Var. 2
Dieses Problem hat auch der Gesetzgeber gesehen und mit § 406e II 2 eine Versagungsmöglichkeit der Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen für den Fall geschaffen, dass der Untersuchungszweck gefährdet erscheint; namentlich dann, „wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte“.66 Seit dem 2. OpferRRG gilt die Vorschrift ausdrücklich auch für den Nebenklagevertreter nach erfolgreichem Anschluss des Nebenklägers.67 Angelehnt an die Terminologie des § 147 II ist der Untersuchungszweck gefährdet, wenn die Sachaufklärung (§ 244 II) beeinträchtigt ist, wobei dies auch nach Abschluss der Ermittlungen noch möglich ist.68
[...]
1 Jäger, 3; Niedling, 21.
2 Niedling spricht von „historischem Tief der Verletztenbeteiligung“, 20; das Opfer behielt theoretisch seine Anklagebefugnis im Rahmen der Privatklage, welche aber mit Vorschusspflichten verknüpft war, sodass sie insb. für mittellose Opfer nicht in Betracht kam und praktisch kaum noch vorkam, vgl. Rössner, 7, 15.
3 Jäger, 8.
4 Hermann, 236, 236; Niedling, 24-26.
5 Strittig war v.a., ob die Staatsanwaltschaft als weisungsabhängig ggü. der Regierung galt, vgl. Schulz, 52.
6 Hölzel, S.19; Niedling, 31.
7 RGBl. 1877, 153 f.
8 Hermann, 236, 236 Bezug nehmend auf Rieß, Gutachten C, Bd. 1, 1984, C 1 ff.
9 SK-StPO, Velten, vor §§ 395, Rn. 2.
10 Schroth 2005, 7.
11 Die wichtigsten Gesetzesänderungen umfassen das Zeugenschutzgesetz v. 30.04.1998, das 1. Opferrechtsreformgesetz v. 24.06.2004 sowie das 2. Opferrechtsreformgesetz v. 29.07.2009.
12 Schünemann, 1986, 193 f.
13 Radtke, GA 2012, 187, 187.
14 BVerfGE 57, 250; 175; 100, 313, 389; Malek, 559, 562.
15 Jung, 1129, 1130.
16 Radtke/Hohmann, Einleitung, Radtke, Rn. 8.
17 Radtke, a.a.O.
18 Barton 2002, 241, 247.
19 Brause 2007, 505, 505.
20 Nelles/Oberlies, 11.
21 Barton 2011, 161, 161.
22 Burgsmüller, 173, 175.
23 Barton, FS Schwind, 211, 212.
24 Barton 2011, 161, 162.
25 Neuhaus, 185, 190.
26 Riedel/Wallau, 393, 397.
27 BT-Drs. 10/5305,18.
28 Bockemühl, Hohmann, 7. Teil, Rn 42.
29 Dahs, Rz. 171, Rn 170.
30 Schünemann, 1986, 193, 199.
31 BGHSt 28, 272, 273.
32 Schroth, 2009, 2916, 2919.
33 Baumhöfener, 2012, 2, 3.
34 Barton 2011, 161, 164.
35 Schlothauer, 356, 357.
36 Deckers 2002, 97, 102.
37 Bender, 127 ff.
38 Blum 2007, 162, 171.
39 Blum, 2007, 162, 162.
40 Köhnken, 190, 197.
41 Sporer, 345 f.
42 Meister, 142; Sporer, 345, 348.
43 Salditt, 54, 55; zum Forschungsstand vgl. Loftus, 696 ff.; Loftus/Greene, 323 f.
44 Blum, 2002, 129, 135 u. 143; Asch, 1, 3 f.
45 Meister, 163.
46 Schade, 165, 166.
47 BGHSt 44, 153.
48 BGHSt 45, 164; 45; Jansen, § 1.1, Rn 33.
49 Greuel, 33, 40.
50 Deckers 2007, 89, 91.
51 BGHSt 45, 164.
52 Meister, 125.
53 Schwenn, 705, 708.
54 Köhnken, 1, 17.
55 Ebd.
56 Deckers 2002, 97, 102.
57 OLG Hmb, Beschl. v. 24.10.2014 – 1 Ws 110/14.
58 BGHSt 45, 164.
59 BGHSt 45, 164; Greuel, 33, 52.
60 Meister, 176.
61 Meister, 177.
62 Vgl. BGH NJW 1999, 1562.
63 SK-StPO, Velten, vor § 395, Rn 12.
64 BGHSt 45, 164 f.; BGH 4 StR 67/04; Miebach, 233, 233.
65 Brause, 2007, 505, 506.
66 BT.Drs. 10/5305.
67 BT-Drs. 16/12098, 32.
68 BT-Drs. 16/13671, 22.